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Veröffentlicht am 12.11.2020

Lebendiges Argentinien

Väterland
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Eigentlich ist Andrés Rivarola nur einer von vielen arbeitslosen Einwohnern in Buenos Aires, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Hand in den Mund lebt. Sein Alltag besteht aus Treffen mit ...

Eigentlich ist Andrés Rivarola nur einer von vielen arbeitslosen Einwohnern in Buenos Aires, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Hand in den Mund lebt. Sein Alltag besteht aus Treffen mit Bekannten in Bars, der Hoffnung auf ein Leben mit der schönen Rusita und dem Plan, mit einem selbst geschriebenen Tango Geld zu verdienen. Als er von einem zwielichtigen Fleischhändler den bezahlten Auftrag bekommt, den berühmten Fußballspieler Bernabé Ferreyra zu seinem Verein zurückzuholen, sieht er sich plötzlich in dubiose Machenschaften verstrickt und, gemeinsam mit Rusita, mit den Details eines Mordes konfrontiert, die eigentlich verschleiert bleiben sollten.
Mit diesem Mord an der jungen Mercedes und seiner Aufklärung durch die Polizei beleuchtet Caparrós die Chancenungleichheit, Korruption und die Willkür, die in dieser Zeit den Schmelztiegel zahlreicher Nationen, Argentinien, beherrschen. Aus dem Blickwinkel seines Protagonisten Rivarola lässt der Autor sehr eindrücklich das farbenfrohe, laute Leben in Buenos Aires im Jahr 1933 vor den Lesern erstehen. Politische und kulturelle Hintergründe sind akribisch recherchiert und geben eine markante historische Kulisse, in welche das Mordereignis eingebettet ist.
Der Schreibstil Martín Caparrós´ entspricht in seiner Ruhe dem Fatalismus Rivarolas und nutzt den Hang zur Ironie des Antihelden. Selbst wenn europäischen Lesern vielleicht manche im Roman auftauchende gesellschaftliche Anspielung verborgen bleibt - „Väterland" ist das brillante Gemälde einer Epoche Südamerikas, die auch heute noch nicht verschwunden scheint.

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Veröffentlicht am 01.11.2020

„Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel"...

Darwins Notizbuch
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… lautet ein berühmtes Zitat von Charles Robert Darwin (1809 – 1882). Die von ihm entwickelte Evolutionstheorie gilt als Basis für die moderne Biologie und Genetik. Allerdings waren seine Schriften zur ...

… lautet ein berühmtes Zitat von Charles Robert Darwin (1809 – 1882). Die von ihm entwickelte Evolutionstheorie gilt als Basis für die moderne Biologie und Genetik. Allerdings waren seine Schriften zur Abstammungslehre bereits während seiner Lebenszeit Gegenstand heftiger Kontroversen und geben auch heute noch Anlass zu Diskussionen.
Jonathan Clements macht das in „Darwins Notizbuch" deutlich. Übersichtlich in neun Kapitel unterteilt, schildert er sehr anschaulich Leben und Werk des Forschers. Doch sein Buch geht über eine Biografie hinaus; er stellt die Ereignisse nicht isoliert dar, sondern erläutert sie stets in Beziehung zu Darwins Lebensumständen und Zeit(-Genossen), so dass wir als Leser die Wirkung seiner Theorien auf Gesellschaft und Kirche mit verfolgen können. Clements beschließt sein Buch mit einem Kapitel über „Darwins Vermächtnis“, in dem er Darwins Nachfolger schildert und die Weiterverfolgung seiner Theorien dokumentiert, bis hin zu den Errungenschaften moderner Wissenschaft, die auf seinen Erkenntnissen basieren - aber teilweise auch zu Rassendiskriminierungen führten.
Eingestreute Zitate, zahlreiche Illustrationen, die zum Teil aus Darwins persönlichen Notizbüchern stammen, und Fotos begleiten den Text. Auf sehr lebendige Weise veranschaulichen sie Darwins Forschungen und unterstreichen den Notizbuch-Charakter. Register und Literaturliste vervollständigen das Buch.
„DarwinsNotizbuch" ist eine ansprechend und hochwertig gestaltete Ausgabe für jeden, der sich einen Überblick zu Leben und Werk des Forschers verschaffen möchte.

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Veröffentlicht am 09.10.2020

Beeindruckende Tierfabeln

Die Fliege und die Suppe
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Vom Alltag einer Stubenfliege bis zum kurzen Leben einer Ratte im Versuchslabor schildert Hugo Loetscher Szenen, in denen Tiere und ihre Verhaltensweisen im Mittelpunkt stehen. Ob als Haus- oder Nutztier ...

Vom Alltag einer Stubenfliege bis zum kurzen Leben einer Ratte im Versuchslabor schildert Hugo Loetscher Szenen, in denen Tiere und ihre Verhaltensweisen im Mittelpunkt stehen. Ob als Haus- oder Nutztier gehalten - in den meisten Fällen handelt es sich um Tiere, deren natürliches Verhalten in krassem Gegensatz zu ihrer derzeitigen Situation steht, wie etwa die angeborenen Triebe des Huhnes, die in einer Massentierhaltung völlig sinnlos erscheinen. Der Schlag eines Elektrobolzens ist hier seine Endstation.
Fein beobachtet sind die Merkmale der einzelnen Tiere und ihre typischen Verhaltensweisen. Loetscher gibt sie detailliert und überaus sensibel wieder, so dass die Situationen sehr realistisch beim Leser ankommen. Es macht betroffen, für uns alltägliche Vorkommnisse einmal so aus der Tierperspektive zu betrachten. Doch der Autor zeigt nicht nur Szenen, in denen der Mensch das Tier (aus)nutzt, sondern auch den umgekehrten Fall. Mit grimmigem Humor erzählt er etwa von der Filzlaus und dem Augenblick, der ihr einen Wirtswechsel ermöglicht. Oder er beschreibt den Heuschreckenschwarm, der sich eine neue Futterquelle erobert.
All diese kurzen Geschichten sind so eindrücklich, dass sie sicher lange im Gedächtnis bleiben, egal, ob es um den sachlichen Bericht des Ameisen-Alltags geht oder um den „Auftritt“ eines Zauberkaninchens.

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Veröffentlicht am 24.09.2020

Ein wertvoller Begleiter

Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht
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Das Rheinland ist seit dem Mittelalter, genauer gesagt seit der Krönung Karls des Großen, Ausgangs- und Mittelpunkt kaiserlicher Macht. Dementsprechend findet sich hier eine Fülle an Zeugnissen mittelalterlicher ...

Das Rheinland ist seit dem Mittelalter, genauer gesagt seit der Krönung Karls des Großen, Ausgangs- und Mittelpunkt kaiserlicher Macht. Dementsprechend findet sich hier eine Fülle an Zeugnissen mittelalterlicher Kultur, die aktuell in Mainz zu einer beachtenswerten Ausstellung ("Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht") zusammengetragen worden sind und die Historie für die Besucher lebendig und nachvollziehbar machen.
Der hierzu herausgegebene, sehr umfangreiche Katalog dokumentiert die Exposition überaus detailliert und gewissenhaft. Chronologisch geordnet gibt er eine Übersicht über die Herrschaftsfolge der Kaiser von Karl dem Großen, dem Gründer des Großreichs der Karolinger, bis zu Friedrich II., der bereits im Alter von zwei Jahren zum römisch-deutschen Kaiser gewählt wurde.
Jedes Großkapitel beginnt mit einem geschichtlichen Abriss und räumlicher Einordnung. Unterschiedliche Verfasser geben in kurzen und gut verständlich geschriebenen Beiträgen Informationen zum Lebenslauf des jeweiligen Kaisers, sowie Erklärungen zu den politischen Gegebenheiten, Machtverhältnissen, Literatur und Kunst. Sie vermitteln dem Betrachter/Leser eine Vorstellung davon, wie sich die „Säulen der Macht" im Mittelalter zusammensetzten.
Hervorzuheben sind aber auch die Fotografien der einzelnen Exponate. Sie beeindrucken mit ihrer Qualität der Wiedergabe.
Der Katalog ist für die Vorbereitung auf die Besichtigung der Ausstellung bestens geeignet. Vor allem aber bereitet diese hochwertige Ausgabe auch nach dem Besuch Freude, wenn der Interessierte die Exposition in aller Ruhe noch einmal Revue passieren lässt.

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Veröffentlicht am 09.09.2020

„Wenn es einem den Magen umdreht“

Wer dann noch lachen kann
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"Wer dann noch lachen kann" ist ein Buch, das sehr viel mehr Beachtung verdient, als ihm zur Zeit zuteil wird.
Die Geschichte der Kindheit der Autorin, begonnen in dem vorhergehenden Band "Ich freue mich, ...

"Wer dann noch lachen kann" ist ein Buch, das sehr viel mehr Beachtung verdient, als ihm zur Zeit zuteil wird.
Die Geschichte der Kindheit der Autorin, begonnen in dem vorhergehenden Band "Ich freue mich, dass ich geboren bin", wird hier fortgesetzt, in erster Linie aus dem Blickwinkel des heranwachsenden Mädchens. Zwar ist sie noch immer zu jung, um alles wirklich zu verstehen, was ihr geschieht, aber sie ist nun nicht mehr das kleine Kind, das "wie das siebte Geißlein in den Uhrenkasten schlüpft", um sich zumindest mental den Misshandlungen ihres Vaters zu entziehen. In schlichten, manchmal naiv anmutenden Sätzen, aber umso eindrücklicher schildert Vanderbeke, wie die "väterliche Hand" keineswegs sanfter wird, im Gegenteil, der Vater vergeht sich auch noch sexuell an ihr.
Vanderbeke wechselt in Erzählstimme und Zeit zwischenzeitlich in das Erwachsenenalter. Der Besuch bei einem Mikrokenisitherapeuten nach einem Verkehrsunfall fördert zutage, was sie bislang verdrängt hat. Langsam lernt sie über all die Dinge zu sprechen, die der Vater ihr angetan und die Mutter stillschweigend geduldet und teilweise sogar unterstützt hat. Wie sehr hat diese Vergangenheit ihr weiteres Leben überschattet und beeinflusst?
Voll bitterer Ironie beschreibt Birgit Vanderbeke ihren kindlichen Alltag, die grenzenlose Brutalität des Vaters, ihre Angst und die vage Hoffnung, jemand von außen möge eingreifen. Doch niemand greift ein, und sie erkennt glasklar, dass sie ganz allein auf sich gestellt ist, nur sie allein kann „auf sich aufpassen.“
Es ist mutig, ihre Autobiografie so schonungslos offen zu legen. Die Absicht dahinter ist nicht zuvorderst die Verarbeitung ihrer Vergangenheit, sondern ein Aufrütteln der Leser. Es reicht nicht, betroffen zu sein; wir müssen wachsamer sein, genauer hinhören und -schauen, auch „wenn es einem den Magen umdreht“.

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