Das Gute und das Böse im Menschen
Vor dem historischen Hintergrund des Marchenstreits um 1313 erzählt Charles Lewinsky die Geschichte eines Flüchtlings und der Menschen, die ihn in ihrem Dorf aufnehmen. Während wir die Charaktere mit ihren ...
Vor dem historischen Hintergrund des Marchenstreits um 1313 erzählt Charles Lewinsky die Geschichte eines Flüchtlings und der Menschen, die ihn in ihrem Dorf aufnehmen. Während wir die Charaktere mit ihren persönlichen Herausforderungen kennenlernen, schwelt der Konflikt, ist von Beginn an zu spüren. Die Unterdrückung der Landbevölkerung durch die Kirche mündet schließlich in ausufernden Gewalttaten, Auge um Auge, Zahn um Zahn, die der Autor so schonungslos präsentiert, dass meine Reaktion von ungläubigen Entsetzen geprägt ist. Über den geschichtlich belegten Anteil hinaus habe ich den Roman als Gesellschaftskritik empfunden. Fast alles, was geschieht, lässt sich ins heute transferieren.
In diesem Sinne sind die streitbaren Figuren angelegt, sie führen uns sehr genau verschiedene Archetypen des Menschen vor Augen. Es gibt den Intellektuellen, den jungen Formbaren, den mit Durchhaltevermögen, den Starken, den Depp, es gibt Lügner und Hinterhältige. Dazu kommt die Quotenfrau. Wie im echten Leben heute, tritt nur eine Dame ins Rampenlicht der wirklich wichtigen Charaktere. Der Autor fokussiert stark auf die Entwicklung der Charaktere und deren Beziehungsgeflecht.
Meine Lieblingsfigur ist Eusebius, genannt Sebi. Er hat aus meiner Sicht einen Entwicklungssprung hingelegt, der deutlich über das für seine Herkunft Erwartbare hinausgeht. Überzeugt hat er darüber hinaus, weil er sich selbst stets treu geblieben ist. Gut gefallen hat mir auch die Unerschütterlichkeit des wahren Glaubens, die sich in seiner Figur manifestiert.
Die gewählte Sprache und Benamung der Figuren erzeugen den Lokalkolorit des Romans. Das dörflich Ungebildete seiner Zeit spendet Glaubwürdigkeit, ist gleichzeitig sehr amüsant. Es hat ein paar Kapitel gedauert, bis ich mich an den von
Helvetismen durchsetzten Text mit dem aus hochdeutscher Perspektive betrachteten, falschem Satzbau gewöhnt hatte. Danach war ich von dem sympathischen Sprachgebrauch mit seinen lautmalerischen Wörtern wie Finöggel, Gsüchti und Rossbollen begeistert. Negative Wörter, Gefühle und Zustände erfahren eine Verniedlichung, lassen den Leser trotz des Ernstes der Ereignisse schmunzeln.
Insgesamt war „Der Halbbart“ kein einfaches Buch. Durchgehend regt der Roman zum Reflektieren an, da sich ganz automatisch eine Fülle von Parallelen in unserem Leben heute ergibt. Fake News sind in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel. So habe ich den Roman fast nach jedem Kapitel ein paar Minuten zur Seite gelegt, um das Gelesene auf mich wirken zu lassen. Neben dem mir bisher unbekannten geschichtlichen Hintergrund habe ich beim Nachsinnen auch mich selbst und meine Mitmenschen wieder ein bisschen besser kennengelernt. Diese Anregung hat mir sehr gefallen.