Gesundheit - um welchen Preis?
Corpus DelictiMeine Meinung:
Gesundheit als oberste Priorität des Lebens. Unser aller Ziel ist es doch schließlich möglichst lange zu leben, nicht wahr? Doch wie weit sind wir bereit für diesen Wunsch zu gehen? Welchen ...
Meine Meinung:
Gesundheit als oberste Priorität des Lebens. Unser aller Ziel ist es doch schließlich möglichst lange zu leben, nicht wahr? Doch wie weit sind wir bereit für diesen Wunsch zu gehen? Welchen Preis sind wir bereit für ihn zu zahlen? Eine perfekte Welt ohne Krankheiten, ohne Leid und gesundheitliche Probleme. Ein unfehlbares System, dass genau dies möglich macht.
Eine Frage: Was wäre wenn...?
Corpus Delicti habe ich im Rahmen meines Deutschunterrichts lesen müssen, davor jedoch bereits oft auf Bookstagram davon gehört. Als großer Fan von Dystopien war ich sehr angenehm überrascht als ich das Buch auf der Lektürenliste gesehen und mir den Inhalt dazu durchgelesen habe. Sofort war ich neugierig geworden, schließlich verspricht der Klappentext einige interessante Elemente. Das Stigma "Schullektüren sind schlecht" und die sich gerade auch wieder mit "To kill a Mockingbird" bewahrheiteten Vorurteile blieben dennoch im Hinterkopf bestehen.
Einmal aufgeschlagen und hineingelesen, schoss ich diese Zweifel jedoch sehr schnell in den Wind - sie waren völlig unbegründet gewesen.
Bereits der Schreibstil konnte auf ganzer Linie bei mir punkten. So ist das Buch sehr flüssig und leicht zu lesen, dabei jedoch stellenweise poetisch und gespickt mit einigen wundervollen Zitaten, die ich mir beim Lesen markiert habe und die zum Nachdenken und Verweilen anregen.
Zudem überzeugt Corpus Delicti mit einer ganz besonderen Erzähltechnik. Durchgehend in der Er-/Sie-Form erzählt, ist es die wechselnde Erzählperspektive, die dem Leser zum Roman sowohl Nähe als auch Distanz zugleich verleiht. Die Nähe durch personal erzählte Szenen ermöglicht es hierbei mit Figuren und der Handlung mitzufühlen und sich gegebenenfalls sogar mit ihnen zu identifizieren. Daneben ermöglicht die gewisse Distanz, die auktoriale Passagen erzeugen jedoch zugleich auch ein rationales Auseinandersetzen mit dem Inhalt, bei dem man selbst nachdenken und abwägen kann. Eine geniale Kombination für ein Werk wie dieses, das letztlich ja genau darauf ausgelegt ist- Menschen zum Denken anzuregen und sie mitzunehmen. Unterstützt wird das ganze außerdem durch einen Erzähler, der den Leser an der Hand nimmt und durch das Buch führt, wobei er kommentiert und somit stets präsent ist. Die direkte Leseransprache gefällt mir ja grundsätzlich immer sehr gut, so unterbricht sie die Illusion der Realität gerade weit genug, um uns der Fiktivität der Geschichte bewusst zu bleiben, erlaubt dem Leser jedoch dennoch Parallelen zu sich zu ziehen und weckt ihn hierbei häufig auf, da die Einschübe zu mehr Aufmerksamkeit und einem gewissen „Aufhorchen“ führen - so wie wenn plötzlich beim Tagträumen der Lehrer „Hey hallo, bist du auch noch anwesend?“ , ruft…
Des Weiteren sind auch die geschaffenen Charaktere ziemlich interessant, hierbei stechen besonders eine gute Ausarbeitungen eben dieser, gepaart mit differenzierten Ansichten und Handlungsmotiven, hervor, gerade was unsere Hauptprotagonistin Mia und den Antagonisten Kramer betrifft. So sind die beiden nämlich nicht stereotypisch völlig widersprüchlich, sondern lassen zugleich zarte Bänder erkennen, die sie trotz ihrer polaren Gegensätzlichkeit verbinden.
Nicht nur die widersprüchliche Nähe und Gegensätzlichkeit der Protagonisten, sondern auch der Zwiespalt von Rationalität und Emotionen, den wohl jeder auch aus seinem eigenen Leben im ein oder anderen Moment kennt, wird in diesem Roman thematisiert. Gerade dieser Aspekt macht das Buch für mich zu etwas ganz besonderem, denn der alltägliche Kampf von Kopf gegen Bauchgefühl spielt auch in meinem Leben (wie bereits in meinem Mental Health Beitrag, den ihr hier finden könnt, erwähnt) beständig eine große Rolle. Somit konnte ich mich zumindest ein Stück weit mit Mia und ihrer zunehmenden Zerrissenheit identifizieren, habe jedoch auch einige Komponenten meiner selbst in ihrem Bruder Moritz und seiner Liebe zum Leben, der Poesie und der Freiheit wiederfinden können. Ich spreche oft von mir selbst als ein zweigeteilter Charakter - die beiden Geschwister spiegeln genau diese beiden Seiten, die ich dabei sehe, wieder. Sicherlich bin ich damit nicht die einzige.
Doch nicht nur das eigene Handeln kann während des Lesens hinterfragt und reflektiert werden. Auch die Entwicklungen der Protagonisten sind deutlich erkennbar, der Untertitel, ein Prozess, bezieht sich so sehr raffiniert nämlich nicht nur rein auf die im Klappentext angesprochenen gerichtlichen Begebenheiten, sondern steht vielmehr für Erkenntnisprozesse und Wandlungen der Figuren, die der Leser miterleben und vielleicht auch für und an sich selbst entdecken darf. Näher darauf eingehen möchte ich aufgrund möglicher Spoiler an dieser Stelle nicht.
Trotz meinem Lob fehlt es den Figuren für meinen Geschmack jedoch ein wenig an Tiefe und obwohl ihre grundlegenden Charakterzüge gut zur Geltung kommen, fehlt mir dennoch ein wenig der Feinschliff, der sie zu eigenständigen, einzigartigen Figuren macht und sie nicht nur als simple Mittel zum Zweck der Handlungsübermittlung wirken lässt. Hierbei geht es mir nicht primär um Sympathie, nein, eine gute Lektüre kommt in meinen Augen auch ohne aus, was einige, auf Antagonisten setzende, Romane für mich schon bewiesen haben - dennoch fehlt etwas. So sollen manche der Figuren zwar kühl und eher unnahbar scheinen, aber dennoch kann auch solchen Charakteren normalerweise ein gewisser Hauch von Leben und Eigenständigkeit eingehaucht werden, seien es nur kleine typische Charakteristika oder Macken, die sie besitzen. Betrachten wir so beispielsweise einmal intelligente Antihelden der Literaturgeschichte, wie etwa Thomas Harris' Hannibal Lecter oder Stephen Kings' Annie Wilkes, so wird wohl schnell deutlich, dass gerade unliebsame Figuren oftmals der Geschichte genau das gewisse Etwas geben. Leider gibt es solch eindringliche Charaktere, die lange im Gedächtnis bleiben, bei Corpus Delicti nicht.
Nichtsdestotrotz besitzt der Roman mit seiner einzigartigen Handlung an sich einen interessanten Spannungsbogen, der wenn auch ein wenig flach für meinen Geschmack, dennoch durch einige Wendungen aufrecht erhalten wird.
Auf ganzer Linie überzeugen konnte mich hingegen die Realitätsnähe, die der Roman besitzt, auch wenn gerade diese ein wenig erschreckend ist und ich mir mehr als nur einmal "ach du meine Güte, bloß nicht" dachte. So spielt Corpus Delicti nicht wie manch andere Dystopien sehr weit in der Zukunft, sondern gerade einmal so weit von der Gegenwart entfernt, dass unser jetziges Handeln sich auf spätere Generationen und deren Lebensstil ausgewirkt hat. Sie haben erlebt, gelernt und reagiert. Das Setting bleibt hierbei recht nah bei unserer jetzigen Welt, wodurch es wenig abstrakt wirkt und sich beinahe schon auf unsere heutige Zeit übertragen lässt.
Weitere Vergleiche werden außerdem zwischen Juli Zeh und ihrem Werk, sowie George Orwell gezogen, dessen Roman 1984 wohl eine der bekanntesten, wenn nicht gerade die bekannteste Dystopie aller Zeiten ist. Natürlich lassen sich beim Lesen gewisse Parallelen ziehen, begonnen bei dem System der Methode, dass definitiv ähnlich stark diktatorische Züge aufweist, wie dass des Großen Bruders in 1984 und auch auf totale Überwachung setzt. Ich persönlich rate ja allerdings von solchen Vergleichen meist ab und entferne mich ein wenig von ihnen, letztlich ist ja doch jeder Schriftsteller und jedes Werk auf seine Weise einzigartig und eigenständig, doch zumindest in einem Punkt möchte auch ich die Überschneidungen hervorheben. Corpus Delicti ist eindringlich und bleibt im Gedächtnis. Wie bereits Orwell versteht die Autorin es gut, den Leser zu fesseln und ihm zugleich eine gute Grundlage zum eigenen Nachdenken zu bieten.
Dies ist gerade bei Romanen mit politischen Noten und gesellschaftskritischen Aspekten, Elemente die essentiell für jede Dystopie sind, in meinen Augen sehr wichtig. So können auch an der rein fachlichen Thematik uninteressierte Leser damit erreicht und dafür begeistert werden, da ein Roman es auf ganz besondere Art und Weise schafft, seine Botschaften zu vermitteln und hierbei auf emotionaler Ebene viel eindringlicher ist als jeder Sachtext. Was gibt unserem Leben seinen Sinn? Wo liegen unsere Prioritäten und ist es überhaupt möglich ein Allgemeinwohl zu schaffen, dass jedes Individuum glücklich macht?
Diese und viele weitere philosophische Ansätze beschäftigten mich während des Lesens und ließen mich lange über meine individuellen Antworten, aber auch mögliche allgemeingültige nachdenken. Gibt es überhaupt Normalität? Gibt es Unfehlbarkeit? Perfektion? Fragen über Fragen, die das Leseerlebniss weit über die eigentliche Handlung und dem Erfassen eben dieser hinausgehen lassen und die das Buch zu etwas ganz besonderem machen, das noch lange in seinen Lesern nachhallt. Zumindest wird es das von nun an wohl ein Stück weit in mir.
Für jüngere Leser mag es dadurch auf den ersten Blick vielleicht eher ungeeignet erscheinen, da es möglicherweise schwierig sein könnte die Tiefe und Bedeutungen des Buches bereits in ihrer Gänze zu verstehen, doch das kommt letztlich ganz auf den eigenen Lesetypus an, schließlich habe auch ich wohl eher untypisch für das Alter damals mit 11 Jahren meine Liebe zu Stephen King und Thrillern/Horrorromanen entdeckt. Somit ist es also wohl einzig und alleine von der eigenen Einschätzung bezüglich der Reife beim Lesen bedingt, ob sich die Lektüre eignet oder nicht.
Fazit:
Abschließend kann ich nun also eine recht eindeutige, uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen. Corpus Delicti passt besonders gut in unser jetziges Klima und ist wohl im Anbetracht der Corona Pandemie und aktuell vorherrschenden Zuständen und Regelungen aktueller denn je. Definitiv eine der besten Schullektüren, die ich bisher lesen durfte und die eindeutig nicht nur als solche angesehen werden sollte. Ich vergebe nach kleinen Abzügen 4/5 Sterne und appelliere hierbei besonders an alle Fans von Dystopien dem Buch eine Chance zu geben