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Veröffentlicht am 16.10.2020

Eine Reise und ein Fremder als Brandbeschleuniger...

Der Anhalter
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Eine Mischung aus Reiseroman und Thriller soll dieses Buch sein.
Das ist es... und noch viel mehr.

Es ist
eine spannende Reise in die archaische Natur Islands,
ein Roadtrip durch die mystische Welt ...

Eine Mischung aus Reiseroman und Thriller soll dieses Buch sein.
Das ist es... und noch viel mehr.

Es ist
eine spannende Reise in die archaische Natur Islands,
ein Roadtrip durch die mystische Welt zwischen Vulkanen und Kratern,
eine Reise zu sich selbst,
ein Selbstfindungs-Trip,
ein psychologischer Beziehungsroman,
das Psychogramm einer Familie,
das Psychogramm eines verzweifelten Familienvaters,
eine Familiengeschichte mit Familiengeheimnissen.

Das Ehepaar Tiddo und Isa erfüllt sich einen langgehegten und immer wieder aufgeschobenen Wunsch und reist mit ihrem 13-jährigen Sohn Jonathan zunächst mit dem Wohnmobil, später mit dem Jeep durch Island.
Tiddo erhofft sich von der Reise auf und über die Vulkaninsel die Rettung seiner fast 15-jährigen Ehe und er ist sogar überzeugt davon, dass es gelingt.
Er und seine Frau haben sich über die Jahre hinweg voneinander distanziert, ihre Gemeinsamkeiten sind verloren gegangen und die Leidenschaft füreinander ist erloschen.
Tiddo möchte durch die Reise auch wieder einen Zugang zu seinem Sohn bekommen, deren Verhältnis sich ebenfalls abgekühlt hat.

Große Hoffnungen und hohe Erwartungen an einen Jahresurlaub.
Kann allein Reisen Probleme lösen?
Kann Tapetenwechsel beschädigte zwischenmenschliche Beziehungen kitten?

Schon nach wenigen Kilometern entscheiden sich die Camper auf Isas Vorschlag hin dafür, einen der zahlreichen Anhalter vom Straßenrand mitzunehmen.
Der strömende Regen hat sein Übriges dafür getan, um der Familie die Entscheidung zu erleichtern, einen Fremden in ihr fahrendes Heim aufzunehmen.

Der redselige, selbstbewusste und gut aussehende Isländer Svein, der seit einigen Jahren in Amerika lebt und nun ausgiebig sein Heimatland erkunden möchte, verspricht, mit seinen Beziehungen bei Einheimischen für Vergünstigungen zu sorgen und ihnen geheime Insider-Tipps für die Reise zu verraten.
Ihm fallen letztlich immer wieder neue Gründe ein, um weiter mit ihnen zu reisen.
Er lässt sich einfach nicht mehr abschütteln.
Sveins Beweggründe, die Reise mit der Familie immer weiter fortzuführen, bleiben unklar.
Immer klarer wird nur eins: es ist schwer, ihn wieder loszuwerden.

Mit der Zeit dringen die vier immer tiefer in die mythische Welt, spektakuläre, karge Natur und überwältigende, raue Landschaft Islands mit seinen Vulkanen und Gletschern ein.

Parallel dazu kommt es auch im Wohnmobil schleichend zu Veränderungen.
Die Stimmung kippt und lange verdrängte Probleme drängen durch die Anwesenheit des Fremden mit Vehemenz ans Tageslicht.

Der junge blonde Reisebegleiter macht mit seinem Prahlen großen Eindruck auf den pubertierenden Jonathan, er verwickelt Isa ihn leise Gespräche und flirtet mit ihr und er übt mit seiner charismatischen Art sogar auf Tiddo, der ursprünglich völlig gegen einen unbekannten Mitreisenden war, eine gewisse Faszination aus.
Svein hat Tiddo zum Reden gebracht und ihm Privates entlockt, das er unter normalen Umständen niemals einem Fremden erzählt hätte und...er macht Tiddo glauben, er könne dessen Ehe retten.
Tiddo entwickelt eine ambivalente Beziehung zu Svein und gerät in eine Art emotionale Abhängigkeit von ihm.
Er setzt Hoffnung in Svein, macht ihn in gewisser Weise zu seinem Vorbild und er möchte ihn gleichzeitig loswerden, weil er ihn als Bedrohung empfindet.
Svein der Retter und Svein der Rivale.

Der mysteriöse Fremde bringt so Einiges ins Rollen und bedroht mit seiner Wirkung auf die Familie subtil und zunehmend deren fragiles Gleichgewicht.

Tiddo, der den Eindruck hat, dass Svein ihm seinen Platz als Ehemann und Vater streitig machen will und der sich darüber hinaus als Mann in Frage gestellt fühlt, sieht schließlich nur noch einen einzigen Ausweg: eine waghalsige Fahrt zum Kratersee Öskjuvatn.
Die Familie gerät in Gefahr.
Die Konsequenzen sind verheerend.
Tiddo, der Familienvater, wird zu einer tragischen Figur.

Welche Risiken geht jemand ein, was nimmt jemand auf sich und was ist jemand zu tun bereit, wenn er all’ seine Felle davonschwimmen sieht?

Der Schreibstil von Gerwin van der Werf hat mir äußerst gut gefallen und die Ideen für und hinter dem Roman finde ich originell und interessant.

Der Autor erzählt eine tragikomische Geschichte über Liebe, Männlichkeit und das Älterwerden auf literarisch eindrucksvolle Weise aus der Perspektive seines Ich-Erzählers Tiddo, der seine Ehe zunehmend gegen die Wand fährt, obwohl er sie eigentlich retten möchte.

Gerwin van der Werf beschreibt die beeindruckende Landschaft dermaßen atmosphärisch, bildhaft und eindrücklich, dass man das Gefühl hat, selbst ein Teil der kleinen Reisegruppe zu sein.

Die Protagonisten werden einem zunehmend vertraut. Sie werden in all ihrer Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit facettenreich geschildert und erscheinen so als Menschen mit Ecken und Kanten.

„Der Anhalter“ ist ein fesselnder und psychologisch stimmiger Roman, der sowohl dynamisch, beschwingt und leichtfüßig als auch gehaltvoll und tiefgründig daherkommt.
Er ist gleichzeitig dramatisch und tragisch sowie humorvoll und amüsant und er hat etwas Finsteres und Verstörendes.
Über die gesamte Dauer der Lektüre hinweg spürt man in seinem tiefsten Inneren mit Unbehagen die unheilschwangere Atmosphäre, die über der Geschichte schwebt.

Ich habe vor der Lektüre noch nichts von dem 1969 geborenen niederländischen Autor Gerwin van der Werf gehört, geschweige denn gelesen.
Zwei seiner vier Romane schafften es auf die Longlist des wichtigsten niederländischen Literaturpreises.
„Der Anhalter“ ist der erste Roman von ihm, der in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Der Autor hat mich mit seinem magischen und spannenden Werk überzeugt und ich freue mich darauf, weitere Romane von ihm zu lesen.



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Veröffentlicht am 15.10.2020

Unterhaltsam, abwechslungsreich und tiefgründig!

Wenn es dunkel wird
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Der Titel ließ mich innehalten und machte mich neugierig.
Was steckt dahinter?

Helligkeit, Farbigkeit - Lebendigkeit - schwinden.
Die Stimmung verändert sich.
Es wird ruhiger.
Es wird undeutlicher und ...

Der Titel ließ mich innehalten und machte mich neugierig.
Was steckt dahinter?

Helligkeit, Farbigkeit - Lebendigkeit - schwinden.
Die Stimmung verändert sich.
Es wird ruhiger.
Es wird undeutlicher und unklarer.
Es wird unheimlicher.
Man muss ganz genau hinschauen, achtsam sein und sich konzentrieren, um zu erkennen, was vor sich geht.
Man muss gut aufpassen, dass man sich nirgends anstößt und nicht fällt. Man könnte sich verletzen, wenn man sich nicht an die sich verändernden Bedingungen anpasst.
Die Sinne werden geschärft und man wappnet sich.
Der Blick in die Umwelt wird undeutlicher, der Blick nach innen umso präziser.

All das assoziierte ich schon allein mit diesem wunderbar gewählten Titel.

Schon während der Lektüre bewunderte ich staunend und zunehmend die Wahl dieses Titels, der den gemeinsamen Nenner für die im Buch enthaltenen 11 äußerst symbolträchtigen und tiefgründigen Erzählungen darstellt, in denen Peter Stamm von recht gewöhnlichen Menschen und ziemlich unspektakulären und alltäglichen Begebenheiten erzählt.

Das Besondere und Gemeinsame ist, dass die Geschichten allesamt recht unaufgeregt, beiläufig und unscheinbar beginnen, es dann aber in bzw. durch oder nach einer Wendephase spannend wird, weil etwas passiert und sich etwas verändert.
Und diese Phase, diese Zeit des Umbruchs, symbolisiert die im Titel aufgegriffene Dämmerung.

„Wenn es dunkel wird“.
Ich ziehe meinen Hut vor dieser Metapher, die so bildhaft verdeutlicht, dass etwas vor sich geht.

Es geht z. B. um eine Krankenschwester, eine Grafikerin, eine Polizistin, einen Kunstsammler, einen Archäologen und eine Büroangestellte.

In „Supermond“ verschwindet der angehender Rentner Georg zunehmend. Er leidet darunter, von Frau und Kollegen immer weniger wahrgenommen zu werden, empfindet den Schmerz des Bedeutungsverlusts und beginnt, sein Leben zu hinterfragen.

David will seine Freundin mit einem Umzug an die Côte d’Azur überraschen und begeistern. Aufgrund von Geldnot erwägt er einen Banküberfall mit einer Eichhörnchenmaske.

Wir lesen von Sabrina, nach deren Vorbild eine Skulptur geschaffen wurde und die sich erst ambivalent mit ihr und dem Künster auseinandersetzt und dann fast Narziss-gleich in ihr Spiegelbild verliebt.

In „Dietrichs Knie“ wird recht nüchtern ein Eifersuchtsdrama geschildert.

Eine andere Frau findet sich beim Landgang während einer Schiffsreise bei einem Wahrsager wieder. Welch‘ tolles Bild, das dem einer Psychoanalyse entspricht: eine Reise zu sich selbst, bei der es um subjektive Wahrheit und Erkenntnis geht.

Originell ist die Geschichte, in der sich der Ehemann als Liebhaber seiner Frau ausgibt und mit ihr doppeldeutige und gewagte emails austauscht. Soll das Fremde, Neue, Unbekannte Pepp in die Beziehung bringen oder geht es hier um Spionage?

Das Unheimliche ist in den Geschichten stets präsent, aber nicht konkret oder explizit wie ein Paukenschlag, sondern impliziert, subtil und metaphorisch.

Mir gefielen die schnörkellose und klare Sprache und der besondere, unaufdringliche und einnehmende Erzählstil des Autors, der seine Erzählungen aus unterschiedlichen Perspektiven schreibt.

Ich empfehle diesen vielseitigen Erzählband mit seinen abwechslungsreichen und psychologisch stimmigen und differenzierten Geschichten, die nicht selten ein offenes Ende haben und nachhallen, sehr gerne weiter.

Die Lektüre ist ein doppelter Genuss. Liest man die Geschichten konkret, dann sind sie unterhaltend. Liest man sie konkret und schaut hinter ihre Kulissen, dann sind sie unterhaltsam, erkenntnisreich und tiefgründig und regen zum Nachdenken an.

Vor der Lektüre habe ich noch nichts von Peter Stamm gehört, einem 1963 geborenen Schweizer Schriftsteller, der zunächst keinen Verlag fand, inzwischen aber zu den renommiertesten und vielfach ausgezeichneten deutschsprachigen Autoren gehört. 2018 wurde ihm für seinen Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ der Schweizer Literaturpreis verliehen.
Ich werde sicher noch weitere Werke von ihm lesen.

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Veröffentlicht am 14.10.2020

Klein aber fein!!!

Mutter. Chronik eines Abschieds
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„Mutter“ ist ein Roman, in dem eine Familiengeschichte erzählt wird, in dem es um eine Mutter-Tochter-Beziehung geht und in dem Sterben, Tod, Abschied, Verlust und Trauer eine zentrale Rolle spielen.

Die ...

„Mutter“ ist ein Roman, in dem eine Familiengeschichte erzählt wird, in dem es um eine Mutter-Tochter-Beziehung geht und in dem Sterben, Tod, Abschied, Verlust und Trauer eine zentrale Rolle spielen.

Die Erzählerin begleitet ihre Mutter als Tochter, Pflegerin und Ärztin in den letzten Monaten vor deren Tod. Diese Rollenvielfalt bedingt ein Mehr an Herausforderungen und Verantwortung. Sie macht es nicht leichter und hat natürlich auch Einfluss auf die Psyche und den Körper der Tochter.

Diese erlebt den Prozess des Sterbens ihrer 91-jährigen Mutter hautnah mit und beobachtet und beschreibt die Phasen und Veränderungen, die sie gemeinsam und jeder für sich erleben sehr detailliert, feinfühlig und stimmig.
Es gibt innige, traurige und freudvolle Augenblicke, die die beiden miteinander erleben.

Sprache und Erzählstil der Autorin haben mich begeistert.
Sie erzählt unaufgeregt und zart in einer schlichten und schnörkellosen Sprache.
Trotzdem oder gerade deshalb wird der Leser emotional tief berührt.
Die Emotionen springen ihm nicht entgegen. Sie vermitteln sich tröpfchenweise und subtil.

Obwohl sie behutsam vorgeht, weicht sie nicht aus. Sie erzählt gleichermaßen feinfühlig, stimmungsvoll und sanft wie ehrlich, unverstellt, klar und unumwunden.

Wir lernen durch ihre Erinnerungen und Reflexionen die Kindheit und das Aufwachsen der Erzählerin
kennen und lesen von Trennungen, Unvereinbarkeiten, Zerwürfnissen, Familiengeheimnissen und Verlusten.

Wir erfahren ihre Gedanken und Gefühle, die sie während dieser letzten Zeit mit ihrer Mutter einholen und erleben mit, wie sich eine Beziehung im Angesicht des Todes verändert, wie manches relativiert und verziehen wird.

Schmerz und Trauer wegen des endgültigen Abschieds von einem geliebten Menschen vermitteln sich eindrücklich durch diese puristische, zurückgenommene Sprache und durch die melancholisch-gedrückte Grundstimmung.

Ich möchte diesen tiefgründigen und aufrichtigen Kurzroman, der auf nur ca. 160 Seiten eine sehr berührende und bewegende, aber niemals kitschige oder seichte Geschichte über die Kostbarkeit gemeinsamer Erinnerungen und inniger letzter Augenblicke erzählt, gerne empfehlen.

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Veröffentlicht am 13.10.2020

Eine literarische Perle!

Weiß
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Dieser Roman war ein „must read“, weil ich schon von den beiden Vorgänger-Romanen der Autorin, „Die Vegetarierin“ und „Menschenwerk“, äußerst angetan war.
Und es hat sich wieder einmal gelohnt!

Das Cover, ...

Dieser Roman war ein „must read“, weil ich schon von den beiden Vorgänger-Romanen der Autorin, „Die Vegetarierin“ und „Menschenwerk“, äußerst angetan war.
Und es hat sich wieder einmal gelohnt!

Das Cover, ganz schlicht und zart in weiß mit schwarzer Schrift und einer darüber schwebenden feinen Feder gehalten, machte mich neugierig.
Wenn man den Schutzumschlag entfernt, erblickt man eine einfache und filigran gezeichnete graue Feder auf weißen Grund.

Ein Schmuckstück mit gewichtigem Inhalt... so viel möchte ich schon vorab verraten.

Der Tod ihrer Schwester, die als zu früh geborenes Neugeborenes in den Armen ihrer Mutter starb, lag wie eine düstere Wolke aus Verlust, Abschied, Sehnsucht und lähmender Melancholie über der ganzen Familie und bestimmte ihr Werden und Sein.
Ein erschütterndes Ereignis, das unterschwellig immer vorhanden war und seine tieftraurigen Schatten auf die einzelnen Familienmitglieder und die Familie als Ganzes warf.

Den Tod ihrer Schwester verbindet die Erzählerin mit der Farbe Weiß. Weiß wie die Muttermilch.
Weiß wie die Windeln.
Weiß wie die Haut des kleinen Mädchens.

Eines Tages überfallen sie in einer winterweißen europäischen Stadt Erinnerungen, Gedanken und Assoziationen an ihre verstorbene Schwester.
Und genau diese hält sie in dem kleinen aber feinen Buch fest.
Sie assoziiert und meditiert, skizziert und tupft Bilder auf‘s Papier.
Es entstehen regelrechte Perlen aus starken und imposanten Bildern, Prosa-Gedichte und poetische Texte, die für sich alleine stehen könnten.

Die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang schreibt bedächtig und unaufgeregt, poetisch, lyrisch und kraftvoll. Sie schuf ein intimes, zartes, intensives und autobiographisch inspiriertes Werk, in dem sie ihre Trauer um den Verlust ihrer Schwester verarbeitet, die nicht mal einen Tag alt wurde.

Wie es ihr gelingt, mit so wenigen Worten und auf so wenigen Seiten eine derart eindrückliche und spürbar melancholische Stimmung zu vermitteln, ist für sich gesehen schon eine Meisterleistung.

Ich empfehle diesen nur ca. 150 Seiten langen bewegenden, ausdrucksstarken und tiefgründigen Roman, der aus kurzen Kapiteln mit besonderen Überschriften (weißer Gegenstand oder eine entsprechende Erinnerung) besteht, sehr gerne weiter.

Es ist ein literarisches Kunstwerk aus leisen Tönen, angereichert mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die den Text atmosphärisch ergänzen.
Es lohnt sich sehr, sich auf diese kurze Reise einzulassen.

Ich möchte mich inzwischen gut und gerne als Fan der 50-jährigen Autorin Han Kang bezeichnen, die in Seoul Koreanische Literatur studiert hat und vielfach ausgezeichnet worden ist.
Für ihren Roman „Die Vegetarierin“ erhielt sie den Man Booker International Prize.

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Veröffentlicht am 13.10.2020

Lang aber nicht langatmig

Der Halbbart
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Gleich vorab: Ein absolut lesenswerter Wälzer! Zeitreise ins tiefste Spätmittelalter - ins Jahr 1313. Ausflug in ein Dorf in der Talschaft, heute Kanton, Schwyz in der Schweiz. Der ca. 13- jährige Eusebius, ...

Gleich vorab: Ein absolut lesenswerter Wälzer! Zeitreise ins tiefste Spätmittelalter - ins Jahr 1313. Ausflug in ein Dorf in der Talschaft, heute Kanton, Schwyz in der Schweiz. Der ca. 13- jährige Eusebius, genannt Sebi, ist der Protagonist dieses umfangreichen und lesenswerten Werkes von Charles Lewinsky. Wir begleiten ihn auf ca. 680 Seiten und über ca. drei Jahre hinweg. Sebi wächst mit seinen beiden älteren Brüdern, die ein Stück Land bestellen bei seiner Mutter auf. Der Vater ist früh verstorben. Sebi selbst hat mit Feldarbeit nichts am Hut und auch das Soldatenleben ist nichts für ihn. Er trägt zum Auskommen der Familie bei, indem er dem örtlichen und bereits betagten Totengräber dabei hilft, Gräber auszuheben. Ansonsten hört bzw. erfindet der etwas verträumte und naive Teenager liebend gern Geschichten oder verbringt Zeit bei Halbbart, dem sonderbaren Fremden aus weiter Ferne, der sich im Ort niedergelassen hat. Halbbart „erklärt“ Sebi die Welt, das Leben und die Menschen. Er wird eine Art geistiger Lehrmeister, ich möchte fast sagen vielleicht sogar eine Art Vaterersatz für den Jungen. Der zunächst rätselhafte Name Halbbart, der dem Roman seinen Titel gibt, rührt daher, dass der Bart dieses klugen und in der Medizin bewanderten Fremden nur noch auf einer Seite sprießt, während die andere Hälfte seines Gesichts von Brandnarben entstellt ist. Der Eigenbrötler Halbbart, der im Roman nur phasenweise und mit unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle spielt, wird z. B. aufgrund seiner Heilkünste gerufen, nachdem Sebis ältester Bruder Geni einen furchtbaren Unfall hatte und die Behandlung der örtlichen Mediziner versagt hatte. Einige Rezensenten sind der Meinung, dass der Titel nicht besonders passend gewählt ist, weil Halbbart im Gegensatz zu Sebi nicht durchgängig eine Rolle spielt. Meines Erachtens ist jedoch das Gegenteil der Fall. Da es in dem Roman unterm Strich ganz besonders um die Selbstfindung Sebis geht, bei der Halbbart eine ganz zentrale und durchgängige Rolle spielt, ist der Titel meines Erachtens nicht nur passend, sondern sogar bravourös gewählt. „Halbbart“ ist eine sog. „Coming-of-Age-Geschichte“, die sich vor bedeutenden und interessanten historischen Ereignissen abspielt und bei der es viele Weisheiten und Anekdoten am Rande zu entdecken und genießen gibt. Wir erfahren einerseits etwas über den Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Landleuten von Schwyz und andererseits etwas über die dadurch ausgelöste Schlacht am Morgarten, der ersten Schlacht zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern, die am Anfang der Schweizer Habsburgerkriege steht. Es geht in dem Buch um so Vieles, v. a. um Sebis Identitätsentwicklung, seine Ablösung und Suche nach sich selbst und seinem Weg, aber auch um die Macht von Kirche und Aberglauben. Immer wieder entdeckt man zwangsläufig, verblüfft und teilweise erschüttert Parallelen zwischen Damals und Heute, obwohl so viel Zeit dazwischen liegt. Einige Beispiele für solche Parallelen in der Handhabung oder auch nur, was die Bedeutung dieser Themen anbelangt, sind der Umgang mit Wahrheit und Fremdem, Vorurteile, Gewalt gegen Frauen, Gruppenzwang, Machtmissbrauch, kirchliche Heuchelei oder Auswirkungen von Glaube. Unsere angeborenen tiefen Reflexe und unser archaisches Funktionsmuster schlagen durch, egal ob im Mittelalter oder in der Gegenwart. Die Themen der Menschheit und die Gefühle der Menschen ändern sich im Grunde nur von der Gewichtung her, nicht aber, was deren Präsenz betrifft. Dem Leser wird hier oft der Spiegel vorgehalten. Meist ist das Spiegelbild nicht sehr gefällig. Für das wunderbare Aufzeigen dieser Parallelität und resultierenden Aktualität ziehe ich den Hut vor dem Autor. Um die Atmosphäre des Mittelalters spürbarer zu machen, verwendet der Autor viele Helvetismen, sprachliche Besonderheiten, mit denen ich mir ohne das ausführliche Glossar auf der Website von Diogenes manchmal etwas schwer getan hätte. Meist sind die schwyzerdütschen Begriffe jedoch selbsterklärend oder so gewählt, dass sie einfach in den Kontext passen. Der Roman ist einerseits herzerwärmend, anrührend, märchenhaft, tieftraurig und klug, andererseits grausam und schonungslos. Die Vielfalt an Themen und Wirkungen auf das Innenleben des Lesers ist bravourös austariert. Zu keinem Zeitpunkt wird es unaushaltbar, klischeehaft, langatmig oder gar langweilig. Sowohl die Themen, als auch die Zeit und die Charaktere werden in all ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit behandelt. „Halbbart“ hat mich sprachlich und inhaltlich überzeugt. Charles Lewinsky schreibt feinfühlig, malerisch, bildhaft, detailliert, schonungslos, manchmal lyrisch und poetisch über eine große Vielfalt an Themen. Das Buch regt zum Mit- und Nachdenken an und hallt nach. Für mich war dieser tiefgründige, abwechslungsreiche, interessante und unterhaltsame Roman ein absolutes Highligt, das ich sehr gerne weiterempfehle! Ich kann nun nachvollziehen, warum er auf der Longlist des deutschen Buchpreises 2020 gelandet ist.

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