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Veröffentlicht am 26.10.2020

Ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt.

The Grace Year
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Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf ...

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch eine Empfehlung auf Bookstagram (Danke @theawyler, du hast mir ein Jahreshighlight beschert) und ganz in meinem Missionstrieb gefangen muss ich meine Begeisterung jetzt weitertragen. Denn "The Grace Year" vereint sowohl schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf als auch die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...


"Deshalb schicken sie uns her."
"Damit ihr euch von eurer Magie befreit"; sagt er.
"Nein", flüstere ich, während ich in den Schlaf weggleite. "Um unseren Willen zu brechen."


Das Cover ist mit dem weißen Grund und den zarten Dornranken weitaus lieblicher als die Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Auch wenn also nur die ausgestreckte, lavendelfarbene Hand mit dem Blutstropfen und der roten Blume einen dezenten Hinweis geben, bin ich verliebt in die wunderschöne und ans Originalcover angelehnte Gestaltung. Die Ranken und Blumen sind Motive, die sich auch innerhalb der Buchdeckel fortsetzen und Titelseiten, Abschnitte und Vorwort zieren. Besonders ist außerdem, dass die Geschichte in fünf große Abschnitte "Herbst", "Winter", "Frühling", "Sommer" und "Rückkehr" eingeteilt ist, ansonsten aber statt aus Kapiteln aus einer Aneinanderreihung kürzerer Absätze besteht. Zu Beginn war ich davon ein wenig irritiert, mit zunehmendem Handlungsverlauf wird jedoch klarer, warum Kim Liggett diese Aufteilungsform gewählt hat: da für die Mädchen bald jede andere Form der zeitlichen Einteilung abseits der offensichtlichen Jahreszeiten keine Rolle mehr spielt und die Zeit während des Gnadenjahres gnadenlos verrinnt...


"Das ist das Problem, wenn du das Licht hereinlässt - nachdem es dir wieder genommen wird, ist es noch viel dunkler als zuvor."


Während der 416 Seiten begleiten wir die 16jährige Tierney James durch ihr Gnadenjahr - eine rätselhafte Zeitspanne im Leben eines jeden Mädchens in Garner County, während jener ihnen in der Wildnis ihre Magie ausgetrieben werden soll. Tierney sieht ihrem Gnadenjahr sowohl mit Angst als auch mit Trotz entgegen. Angst, weil keiner der Mädchen so genau weiß, was eigentlich passiert und warum immer wieder Mädchen nicht oder versehrt aus der zwölfmonatigen Verbannung zurückkehren, und Trotz, weil sie in der angeblichen Magie der Mädchen ein Unterdrückungsinstrument der Männer sieht. Als sie dann jedoch zusammen mit den anderen Mädchen auf der Insel ankommt, auf der sie ein Jahr verbringen soll, wird sie immer unsicherer, was diese Einschätzung anbelangt. Denn nicht die blutrünstigen Wilderer, die die Mädchen aus dem Lager locken, um ihre magischen Körperteile zu verkaufen, sind die größte Gefahr - weitaus gefährlicher geht es innerhalb der Mauern des Lagers zu...


"Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich gefühlt habe.
Sollen sie es Magie nennen.
Ich nenne es Wahnsinn.
Eins ist auf jeden Fall sicher.
Hier gibt es keine Gnade."


Der Einstieg in die Geschichte fällt zwar leicht, weckt jedoch schon die ersten Ressentiments. Denn was Kim Liggett hier mit wenigen Worten beschreibt ist ein frauenverachtendes Patriarchat erster Güte, in dem Mädchen bei der Geburt das Siegel ihres Vaters in die Fußsohle gebrannt wird, sie durch ein Band in ihren immer zu einem Zopf gebundenen Haaren ihren Status (Kind, Gnadenjahrmädchen, Ehefrau) zeigen müssen und die kaum mehr Rechte besitzen als Haus-/ oder Arbeitstiere. Die Autorin zeichnet dabei jedoch kein großflächiges Gesellschaftsporträt, sondern fokussiert sich einzig und allein auf die Kleinstadt Garner County. Hintergrundinformationen zum weiteren Setting, also umliegenden Städten oder einen größeren Rahmen der Geschichte, erhalten wir kaum und blicken auch nicht weiter über den Tellerrand der kleinen Gemeinde als in die Außenbezirke. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn im engen Raum spielt sich eine so brutale, intensive und fesselnde Geschichte ab, dass jeder Blick nach außen nur Zeit stehlen würde.


"Ich dachte, wenn sie uns aufschneiden könnten, fänden sie wahrscheinlich ein riesiges Labyrinth aus Schlössern und Riegel, Dämmen und zugemauerten Einbahnstraßen. Ein Herz mit so hohen Mauern darum, dass ihm nach und nach der Sauerstoff wegblieb, während es an unseren eigenen Geheimnissen erstickte."


Nachdem uns ein grober Überblick über die gesellschaftlichen Strukturen und das Leben Tierneys im County gegeben wurde, geht es auch schon ins Gnadenjahr. Dadurch dass wir genau wie unsere Protagonistin keinerlei Ahnung haben, was auf uns zukommt, steigt die Spannung bei jedem Schritt raus aus der gewohnten Umgebung weiter an und wir fragen uns, was sich hinter diesem wohlgehüteten Mythos verbirgt. Als die Mädchen dann in ihrem Lager ankommen, ist die Ernüchterung erstmal groß: sich einfach nur ein Jahr lang selbst versorgen - das müsste doch zu schaffen sein. Doch dann beginnen die Mädchen ihre Magie zu entdecken - oder ihren Wahnsinn... Und dann.... wird es krass. Die Autorin spielt geschickt mit ihren Figuren und auch dem Leser, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, was hinter allem steckt. Immer wieder werden wir gezielt auf eine falsche Fährte geleitet und muss Theorien immer wieder verwerfen, weil man nicht mehr genau weiß, was nun Traum und Realität ist.


"Der Winter, der wie ein Löwe hereingebrochen war, verabschiedet sich wie ein Lamm. Der Schnee ist unter einer hellen, sanften Sonne geschmolzen. Die Vögel singen und der Duft nach frischem Grün erfüllt die Luft. Bald haben wir Vollmond. Jede Nacht beobachte ich durch die Dachluke, wie der Mond zunimmt, und es erscheint mir wie ein Spiegelbild meiner Gefühle für Ryker. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, kommt es mir vor, als öffnete sich mein Brustkorb ganz weit, um mehr Luft zu bekommen. Es schmerzt, aber trotzdem will ich dieses Gefühl nicht loslassen."


Spätestens jetzt entwickelt sich "The Grace Year" zu einem wahren Pageturner. Die atmosphärisch-dichte Erzählweise und die Vermischung von Magie und Wahnsinn, Realität und Rausch, Gewalt und Liebe sorgen für fast überkochende Spannung. Da es hier auch immer wieder brutal und blutig zugeht, ist die Geschichte definitiv nicht für zarte Gemüter empfehlenswert. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, verbannt, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Wer es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann (mindestens "Panem"-Stil, eher etwas deftiger), sollte eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch kein eindeutiges Jugendbuch, auch wenn die Protagonistin mit ihren 16 Jahren etwas jünger ist, als die Zielgruppe. Denn auch die psychologische Seite der Geschichte ist dank des emotionsgeladenen, feinfühligen Schreibstil der Autorin ziemlich heftig, weshalb ich die Geschichte einige Male beiseitelegen musste. Dafür trifft sie aber auch die zwischenmenschlichen Nuancen der Gruppendynamik zwischen den Mädchen im Lager und die Entwicklung der einzelnen Beziehungen sehr gut und zeichnet demnach nicht nur eine dystopische Gesellschaft, sondern liefert zeitgleich auch eine Charakterstudie einer Generation Mädchen ab.


"Als ich dich gesehen habe ... auf dem Eis ... da schienst du so..."
"Hilflos", flüstere ich, angewidert von dem Gedanken, dass es das war, was mich gerettet hat.
"Nein", antwortet er, und seine Augen funkeln im Feuerschein.
"Entschlossen. Als du die Axt ins Eis schlugst, ... das war das Mutigste, was ich je gesehen habe."


Dadurch dass Kim Liggett mehrere Zeitsprünge einbaut, fließen die einzelnen Szenen ineinander, die Gefühle werden eine undefinierbare Suppe aus Schmerz und Sehnsucht und Traum und Realität verschwimmen immer mehr. Auch wenn das ein Stilmittel ist, um die Befindlichkeiten der Mädchen auszudrücken, macht es das etwas schwer, am Ball zu bleiben und Vieles verändert sich innerhalb weniger Seiten. Eine wichtige Konstante ist dabei die Protagonistin Tierney, an deren Seite wir immer bleiben, da sie aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählt und die sich in dem Jahr der Erzählung von einem Mädchen zu einer Frau entwickelt. Unter den widrigsten Bedingungen lernt sie, richtig hinzusehen, erfährt wahre Güte und erkennt, dass aus Leid manchmal auch ein Band entstehen kann, anstatt eines Bruchs.


"Was wären wir schon ohne all das?" Ich blicke zum Baum der Bestrafung hinüber. "Wir verletzen einander, weil es dir einzige Möglichkeit ist, unsere Wut zu zeigen. Wenn wir keine Wahl haben, dann schlagen die Flammen in unserem Inneren höher. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten die Welt bis auf die Grundmauern niederbrennen mit unserem Zorn - aber auch mit unserer Liebe und allem, was dazwischenliegt."


Gut gefallen an ihr hat mir, dass sie keine typische Dystopie-Heldin ist. Sie ist zwar stark, mutig, rebellisch und einfallsreich, hat aber keine großen Ambitionen, die Welt zu verändern. "The Grace Year" ist nämlich keine der altbekannten "Auserwählte-rebelliert-und-verändert-Welt-Geschichte", die in diesem Genre den Markt überschwemmen. Stattdessen hat Kim Liggett den Zeitpunkt ihrer Geschichte ein bisschen früher angesetzt. Von einer Rebellion kann hier noch lange keine Rede sein, hier wird erst der fruchtbare Boden bereitet, auf dem die ersten kritischen Gedanken im verborgenen keimen können. Dabei nutzt sie auch subtile Symbolik, wie zum Beispiel die "Sprache der Blumen", bei der vor allem eine besondere Blume eine wichtige Rolle spielt... Die Idee, die langsame Herleitung einer Veränderung in den Fokus zu nehmen ist deutlich unspektakulärer als eine große Rebellion darzustellen, aber dafür auch reichlich gewitzter und unverbrauchter. Und ganz im Ernst: noch mehr Action, Kampf und Leid hätte ich wohl sowieso nicht mehr ertragen können.


"Nur Mond und Sterne sind unsere Zeugen, als er zu mir kommt. Wir pressen unsere Handflächen aneinander, verschränken unsere Finger und atmen im Gleichtakt. Genau hier gehöre ich hin. Ohne Wenn und Aber. Und als sich unsere Lippen treffen, verschwindet mit einem Mal die Welt. Als wäre es Magie."


Kritisieren könnte man am Mittelteil, dass hier auch eine zarte Liebesgeschichte aufkommt, die aber nur im Hintergrund einen schönen Kontrast zu all den düsteren Seiten der Geschichte bildet. Die dargestellte Liebesbeziehung unterstützt jedoch nur die Emanzipation der Protagonistin und könnte als solche nicht vollwertig alleinstehen. Ich denke, dass die Autorin Tierneys aufblühende Liebe dazu genutzt hat, um als Teil ihrer Rebellion aber auch ihres Selbstvertrauensgewinns zu dienen und als solches funktioniert es auch wunderbar. Als Liebesgeschichte an sich ist dieser Teil der Geschichte aber zu knapp und flach für meinen Geschmack. Dafür wird aber viel Platz für klar feministisch geprägte Sichtweisen und Botschaften gelassen, die sich jedoch nicht nur "gegen Männer" richten (wie das feministischer Literatur oftmals vorgeworfen wird), sondern auch gegen festgefahrene Systeme allgemein und vor allem auch gegen die Grausamkeiten, die Frauen sich gegenseitig antun können. Die Geschichte erzählt also nicht nur von einem leisen Widerstand gegen das gezielte Kleinhalten von Frauen und einem blutigen Überlebenskampf, sondern verbreitet auch die Botschaft von Zusammenhalt und Güte.


"Als du weggingst... dachte ich... Es ist, als wärst du ... von den Toten auferstanden."
"Vielleicht bin ich das ja", murmele ich und ziehe ihre Decke hoch.
"Dann erzähl mir vom Himmel ... wie ist es da oben?", fragt sie, während ihr die Augen endgültig zufallen.
"Der Himmel"; antworte ich beim letzten Flackern der Kerzenflamme leise, "ist ein Junge in einem Baumhaus mit harter Schale und weichem Kern."


Das eigentliche Ende wartet dann mit allerlei Wendungen und Offenbarungen auf, die ich so niemals erwartet hätte. Was sich Kim Liggett hier überlegt hat, ist gewagt, mutig und geht in eine ganz andere Richtung als erwartet oder erhofft. Auch wenn grundlegende Fragen beantwortet werden, hat die Geschichte einen beinahe schmerzhaften Interpretationsspielraum, der es dem Leser ermöglicht, vom Schlimmsten auszugehen, oder das Beste auszumalen.


"Meine Augen sind weit offen und ich sehe jetzt alles."




Fazit:


"The Grace Year" ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt. Die Geschichte vereint schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf, die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...

PS: Auch wenn ich für dieses intensive Leseerlebnis gerne 5 Sterne geben würde, ist die Liebesgeschichte für die Höchstwertung zu leblos und es werden zu wenige Hintergründe des Settings präsentiert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.10.2020

Ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt.

The Grace Year
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Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf ...

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch eine Empfehlung auf Bookstagram (Danke @theawyler, du hast mir ein Jahreshighlight beschert) und ganz in meinem Missionstrieb gefangen muss ich meine Begeisterung jetzt weitertragen. Denn "The Grace Year" vereint sowohl schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf als auch die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...


"Deshalb schicken sie uns her."
"Damit ihr euch von eurer Magie befreit"; sagt er.
"Nein", flüstere ich, während ich in den Schlaf weggleite. "Um unseren Willen zu brechen."


Das Cover ist mit dem weißen Grund und den zarten Dornranken weitaus lieblicher als die Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Auch wenn also nur die ausgestreckte, lavendelfarbene Hand mit dem Blutstropfen und der roten Blume einen dezenten Hinweis geben, bin ich verliebt in die wunderschöne und ans Originalcover angelehnte Gestaltung. Die Ranken und Blumen sind Motive, die sich auch innerhalb der Buchdeckel fortsetzen und Titelseiten, Abschnitte und Vorwort zieren. Besonders ist außerdem, dass die Geschichte in fünf große Abschnitte "Herbst", "Winter", "Frühling", "Sommer" und "Rückkehr" eingeteilt ist, ansonsten aber statt aus Kapiteln aus einer Aneinanderreihung kürzerer Absätze besteht. Zu Beginn war ich davon ein wenig irritiert, mit zunehmendem Handlungsverlauf wird jedoch klarer, warum Kim Liggett diese Aufteilungsform gewählt hat: da für die Mädchen bald jede andere Form der zeitlichen Einteilung abseits der offensichtlichen Jahreszeiten keine Rolle mehr spielt und die Zeit während des Gnadenjahres gnadenlos verrinnt...


"Das ist das Problem, wenn du das Licht hereinlässt - nachdem es dir wieder genommen wird, ist es noch viel dunkler als zuvor."


Während der 416 Seiten begleiten wir die 16jährige Tierney James durch ihr Gnadenjahr - eine rätselhafte Zeitspanne im Leben eines jeden Mädchens in Garner County, während jener ihnen in der Wildnis ihre Magie ausgetrieben werden soll. Tierney sieht ihrem Gnadenjahr sowohl mit Angst als auch mit Trotz entgegen. Angst, weil keiner der Mädchen so genau weiß, was eigentlich passiert und warum immer wieder Mädchen nicht oder versehrt aus der zwölfmonatigen Verbannung zurückkehren, und Trotz, weil sie in der angeblichen Magie der Mädchen ein Unterdrückungsinstrument der Männer sieht. Als sie dann jedoch zusammen mit den anderen Mädchen auf der Insel ankommt, auf der sie ein Jahr verbringen soll, wird sie immer unsicherer, was diese Einschätzung anbelangt. Denn nicht die blutrünstigen Wilderer, die die Mädchen aus dem Lager locken, um ihre magischen Körperteile zu verkaufen, sind die größte Gefahr - weitaus gefährlicher geht es innerhalb der Mauern des Lagers zu...


"Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich gefühlt habe.
Sollen sie es Magie nennen.
Ich nenne es Wahnsinn.
Eins ist auf jeden Fall sicher.
Hier gibt es keine Gnade."


Der Einstieg in die Geschichte fällt zwar leicht, weckt jedoch schon die ersten Ressentiments. Denn was Kim Liggett hier mit wenigen Worten beschreibt ist ein frauenverachtendes Patriarchat erster Güte, in dem Mädchen bei der Geburt das Siegel ihres Vaters in die Fußsohle gebrannt wird, sie durch ein Band in ihren immer zu einem Zopf gebundenen Haaren ihren Status (Kind, Gnadenjahrmädchen, Ehefrau) zeigen müssen und die kaum mehr Rechte besitzen als Haus-/ oder Arbeitstiere. Die Autorin zeichnet dabei jedoch kein großflächiges Gesellschaftsporträt, sondern fokussiert sich einzig und allein auf die Kleinstadt Garner County. Hintergrundinformationen zum weiteren Setting, also umliegenden Städten oder einen größeren Rahmen der Geschichte, erhalten wir kaum und blicken auch nicht weiter über den Tellerrand der kleinen Gemeinde als in die Außenbezirke. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn im engen Raum spielt sich eine so brutale, intensive und fesselnde Geschichte ab, dass jeder Blick nach außen nur Zeit stehlen würde.


"Ich dachte, wenn sie uns aufschneiden könnten, fänden sie wahrscheinlich ein riesiges Labyrinth aus Schlössern und Riegel, Dämmen und zugemauerten Einbahnstraßen. Ein Herz mit so hohen Mauern darum, dass ihm nach und nach der Sauerstoff wegblieb, während es an unseren eigenen Geheimnissen erstickte."


Nachdem uns ein grober Überblick über die gesellschaftlichen Strukturen und das Leben Tierneys im County gegeben wurde, geht es auch schon ins Gnadenjahr. Dadurch dass wir genau wie unsere Protagonistin keinerlei Ahnung haben, was auf uns zukommt, steigt die Spannung bei jedem Schritt raus aus der gewohnten Umgebung weiter an und wir fragen uns, was sich hinter diesem wohlgehüteten Mythos verbirgt. Als die Mädchen dann in ihrem Lager ankommen, ist die Ernüchterung erstmal groß: sich einfach nur ein Jahr lang selbst versorgen - das müsste doch zu schaffen sein. Doch dann beginnen die Mädchen ihre Magie zu entdecken - oder ihren Wahnsinn... Und dann.... wird es krass. Die Autorin spielt geschickt mit ihren Figuren und auch dem Leser, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, was hinter allem steckt. Immer wieder werden wir gezielt auf eine falsche Fährte geleitet und muss Theorien immer wieder verwerfen, weil man nicht mehr genau weiß, was nun Traum und Realität ist.


"Der Winter, der wie ein Löwe hereingebrochen war, verabschiedet sich wie ein Lamm. Der Schnee ist unter einer hellen, sanften Sonne geschmolzen. Die Vögel singen und der Duft nach frischem Grün erfüllt die Luft. Bald haben wir Vollmond. Jede Nacht beobachte ich durch die Dachluke, wie der Mond zunimmt, und es erscheint mir wie ein Spiegelbild meiner Gefühle für Ryker. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, kommt es mir vor, als öffnete sich mein Brustkorb ganz weit, um mehr Luft zu bekommen. Es schmerzt, aber trotzdem will ich dieses Gefühl nicht loslassen."


Spätestens jetzt entwickelt sich "The Grace Year" zu einem wahren Pageturner. Die atmosphärisch-dichte Erzählweise und die Vermischung von Magie und Wahnsinn, Realität und Rausch, Gewalt und Liebe sorgen für fast überkochende Spannung. Da es hier auch immer wieder brutal und blutig zugeht, ist die Geschichte definitiv nicht für zarte Gemüter empfehlenswert. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, verbannt, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Wer es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann (mindestens "Panem"-Stil, eher etwas deftiger), sollte eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch kein eindeutiges Jugendbuch, auch wenn die Protagonistin mit ihren 16 Jahren etwas jünger ist, als die Zielgruppe. Denn auch die psychologische Seite der Geschichte ist dank des emotionsgeladenen, feinfühligen Schreibstil der Autorin ziemlich heftig, weshalb ich die Geschichte einige Male beiseitelegen musste. Dafür trifft sie aber auch die zwischenmenschlichen Nuancen der Gruppendynamik zwischen den Mädchen im Lager und die Entwicklung der einzelnen Beziehungen sehr gut und zeichnet demnach nicht nur eine dystopische Gesellschaft, sondern liefert zeitgleich auch eine Charakterstudie einer Generation Mädchen ab.


"Als ich dich gesehen habe ... auf dem Eis ... da schienst du so..."
"Hilflos", flüstere ich, angewidert von dem Gedanken, dass es das war, was mich gerettet hat.
"Nein", antwortet er, und seine Augen funkeln im Feuerschein.
"Entschlossen. Als du die Axt ins Eis schlugst, ... das war das Mutigste, was ich je gesehen habe."


Dadurch dass Kim Liggett mehrere Zeitsprünge einbaut, fließen die einzelnen Szenen ineinander, die Gefühle werden eine undefinierbare Suppe aus Schmerz und Sehnsucht und Traum und Realität verschwimmen immer mehr. Auch wenn das ein Stilmittel ist, um die Befindlichkeiten der Mädchen auszudrücken, macht es das etwas schwer, am Ball zu bleiben und Vieles verändert sich innerhalb weniger Seiten. Eine wichtige Konstante ist dabei die Protagonistin Tierney, an deren Seite wir immer bleiben, da sie aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählt und die sich in dem Jahr der Erzählung von einem Mädchen zu einer Frau entwickelt. Unter den widrigsten Bedingungen lernt sie, richtig hinzusehen, erfährt wahre Güte und erkennt, dass aus Leid manchmal auch ein Band entstehen kann, anstatt eines Bruchs.


"Was wären wir schon ohne all das?" Ich blicke zum Baum der Bestrafung hinüber. "Wir verletzen einander, weil es dir einzige Möglichkeit ist, unsere Wut zu zeigen. Wenn wir keine Wahl haben, dann schlagen die Flammen in unserem Inneren höher. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten die Welt bis auf die Grundmauern niederbrennen mit unserem Zorn - aber auch mit unserer Liebe und allem, was dazwischenliegt."


Gut gefallen an ihr hat mir, dass sie keine typische Dystopie-Heldin ist. Sie ist zwar stark, mutig, rebellisch und einfallsreich, hat aber keine großen Ambitionen, die Welt zu verändern. "The Grace Year" ist nämlich keine der altbekannten "Auserwählte-rebelliert-und-verändert-Welt-Geschichte", die in diesem Genre den Markt überschwemmen. Stattdessen hat Kim Liggett den Zeitpunkt ihrer Geschichte ein bisschen früher angesetzt. Von einer Rebellion kann hier noch lange keine Rede sein, hier wird erst der fruchtbare Boden bereitet, auf dem die ersten kritischen Gedanken im verborgenen keimen können. Dabei nutzt sie auch subtile Symbolik, wie zum Beispiel die "Sprache der Blumen", bei der vor allem eine besondere Blume eine wichtige Rolle spielt... Die Idee, die langsame Herleitung einer Veränderung in den Fokus zu nehmen ist deutlich unspektakulärer als eine große Rebellion darzustellen, aber dafür auch reichlich gewitzter und unverbrauchter. Und ganz im Ernst: noch mehr Action, Kampf und Leid hätte ich wohl sowieso nicht mehr ertragen können.


"Nur Mond und Sterne sind unsere Zeugen, als er zu mir kommt. Wir pressen unsere Handflächen aneinander, verschränken unsere Finger und atmen im Gleichtakt. Genau hier gehöre ich hin. Ohne Wenn und Aber. Und als sich unsere Lippen treffen, verschwindet mit einem Mal die Welt. Als wäre es Magie."


Kritisieren könnte man am Mittelteil, dass hier auch eine zarte Liebesgeschichte aufkommt, die aber nur im Hintergrund einen schönen Kontrast zu all den düsteren Seiten der Geschichte bildet. Die dargestellte Liebesbeziehung unterstützt jedoch nur die Emanzipation der Protagonistin und könnte als solche nicht vollwertig alleinstehen. Ich denke, dass die Autorin Tierneys aufblühende Liebe dazu genutzt hat, um als Teil ihrer Rebellion aber auch ihres Selbstvertrauensgewinns zu dienen und als solches funktioniert es auch wunderbar. Als Liebesgeschichte an sich ist dieser Teil der Geschichte aber zu knapp und flach für meinen Geschmack. Dafür wird aber viel Platz für klar feministisch geprägte Sichtweisen und Botschaften gelassen, die sich jedoch nicht nur "gegen Männer" richten (wie das feministischer Literatur oftmals vorgeworfen wird), sondern auch gegen festgefahrene Systeme allgemein und vor allem auch gegen die Grausamkeiten, die Frauen sich gegenseitig antun können. Die Geschichte erzählt also nicht nur von einem leisen Widerstand gegen das gezielte Kleinhalten von Frauen und einem blutigen Überlebenskampf, sondern verbreitet auch die Botschaft von Zusammenhalt und Güte.


"Als du weggingst... dachte ich... Es ist, als wärst du ... von den Toten auferstanden."
"Vielleicht bin ich das ja", murmele ich und ziehe ihre Decke hoch.
"Dann erzähl mir vom Himmel ... wie ist es da oben?", fragt sie, während ihr die Augen endgültig zufallen.
"Der Himmel"; antworte ich beim letzten Flackern der Kerzenflamme leise, "ist ein Junge in einem Baumhaus mit harter Schale und weichem Kern."


Das eigentliche Ende wartet dann mit allerlei Wendungen und Offenbarungen auf, die ich so niemals erwartet hätte. Was sich Kim Liggett hier überlegt hat, ist gewagt, mutig und geht in eine ganz andere Richtung als erwartet oder erhofft. Auch wenn grundlegende Fragen beantwortet werden, hat die Geschichte einen beinahe schmerzhaften Interpretationsspielraum, der es dem Leser ermöglicht, vom Schlimmsten auszugehen, oder das Beste auszumalen.


"Meine Augen sind weit offen und ich sehe jetzt alles."




Fazit:


"The Grace Year" ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt. Die Geschichte vereint schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf, die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...

PS: Auch wenn ich für dieses intensive Leseerlebnis gerne 5 Sterne geben würde, ist die Liebesgeschichte für die Höchstwertung zu leblos und es werden zu wenige Hintergründe des Settings präsentiert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.10.2020

Einfach nur EPISCH!

Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht
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Wer schon längere Zeit meinen Blog verfolgt wird nicht überrascht sein zu hören, dass ich dem Erscheinungstermin von "Crescent City" seit der Ankündigung letztes Jahr begeistert entgegengefiebert habe. ...

Wer schon längere Zeit meinen Blog verfolgt wird nicht überrascht sein zu hören, dass ich dem Erscheinungstermin von "Crescent City" seit der Ankündigung letztes Jahr begeistert entgegengefiebert habe. Da der deutsche Verlag mit der Übersetzung wahnsinnig Gas gegeben hat, stand schon seit Mitte September meinem Versuch zu überprüfen, ob die Geschichte wirklich den Hype der englischen Community verdient, nichts mehr im Weg ... außer meinen eigenen Ansprüchen. Wie bei allen langersehnten Neuerscheinungen hatte ich als langjähriger Sarah-J.-Maas-Fan ein wenig Angst, von diesem Genreausflug enttäuscht zu werden. Doch wieder einmal waren diese Sorgen unbegründet: "Crescent City" ist komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und wieder einmal einfach nur EPISCH!


"Hunt schaltete sein Handy aus und trat dann durch die Tür hinaus ins Freie. Er war wie ein Schandfleck im Licht, ein Schatten vor der Sonne. Mit einem einzigen kräftigen Schlag seiner Schwingen stieg er in die Luft. Und schaute nicht mehr zurück."


Schon bei der Gestaltung könnte ich stundenlang ins Schwärmen kommen. Dass das detailgetreue Cover mit den vielen liebevoll gestalteten Einzelheiten, den inhaltliche abgestimmten Spielereien, den kontrastreichen Farben und dem fantasievollen Motiv ein Hingucker ist, muss ich denke ich nicht genauer erklären. Positiv überrascht haben mich aber der kunstvolle Buchschnitt, der auch nach dem Lesen immer noch farbenfroh und knitterfrei mit dem Hauptmotiv verzückt, die aufwändig illustrierte Karte, der goldene Sichelmond unter dem Schutzumschlag und die episch-düstere Ausgestaltung der Buchdeckelinnenseiten. Dass bei meiner limitierten Ausgabe außerdem noch ein passendes Tattoo mit der Aufschrift "Through Love All Is Possible" mitgeliefert wurde, setzt dem stimmigen Gesamtkonzept natürlich nochmal ein Sahnehäubchen auf. Dass das Buch trotz der knapp 1000 Seiten und der gebundenen Ausgabe recht dünn ist, wird durch die recht kleine Schrift und das dünne Bibel-Seiten-Papier gewährleistet. Warum die englische Ausgabe trotzdem nur etwa die Hälfte des Umfangs aufweist, ist und bleibt mir ein Rätsel...


"Du kannst es. Wir stehen das zusammen durch."
Es durchstehen - zusammen. Dieses chaotische Leben. Diese chaotische Welt. Bryce schluchzte, aber dieses Mal nicht nur vor Schmerz."


Inhaltlich aufgeteilt ist die Geschichte in vier Teile "Die Senke", "Der Graben", "Der Canyon" und "Die Schlucht", sowie in 97 Kapitel inklusive eines kurzen Epilogs, die dieser langen und komplexen Story eine Struktur verschaffen. Zuerst erhalten wir einen kurzen Einblick in Bryce´ Leben bevor der allesverändernde Überfall auf ihre Wohnung, den wir leider schon durch den Klapptext gespoilert bekommen, alles durcheinanderwirbelt. Diese fast 120 Seiten starke Einleitung ist zugegebenermaßen sehr anstrengend zu lesen, da die Leser hier permanent durch etliche neuen Namen, Orte, Andeutungen, Erklärungen und Personen gefordert werden. Man muss kopftechnisch anwesend sein, mitdenken, fast schon Notizen machen, um mitzukommen, da sich dieser Einstieg in tonnenweisen scheinbar unwichtigen Details verliert. Später wird jedoch belohnt, wer genau gelesen hat. Denn wer zu Beginn noch dachte, Sarah J. Maas sei so begeistert von ihrem Setting gewesen, dass sie es mit dem Worldbuilding etwas übertrieben hat, wird im Laufe der Geschichte bald merken, dass alles Teil eines abgekarteten Verwirrspiels ist und all die kleinen versteckten Details am Ende ihr Comeback im Showdown erhalten.


"Uns hatte er gesagt. Eine Einheit. Ein Team. Ein Zwei-Personen-Rudel. Seine Schwingen bewegten sich leicht in der Brise, die vom Istros heraufwehte. "Wir werden den finden, der hinter dieser ganzen Sache steckt, Bryce. Das verspreche ich dir." Und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm."


Nach einem Zeitsprung von fast zwei Jahren bildet sich dann aus dem Anfangs-Wirr-Warr eine spritzige, spannende Buddy-Ermittlungs-Crime-Story heraus und die Geschichte wird nun aus verschiedenen Perspektiven an verschiedenen Orten erzählt. Neben der Protagonistin Bryce erzählen nun auch der gefürchtete Vollstrecker-Engel Hunt, der nur der "Umbra Mortis", der Todesschatten, genannt wird, und Bryce´ Bruder, der Fae-Prinz Ruhn. Die personale Erzählperspektive macht es möglich, viel vor dem Leser zu verbergen und doch einen Einblick in die Gefühle und Gedanken der Figuren zu erhaschen. Denn trotz des sehr ereignisreichen Mittelteils, in dem das ungleiche Ermittler-Duo Bryce und Hunt durch fast alle Bezirke von Crescent City zieht, verschiedenen Spuren nachgeht und die ein oder andere unliebsame Begegnung mit einem Dämon hat, nehmen die Beziehung, die Gefühle und vor allem die Entwicklung der beiden Hauptprotagonistin einen großen und wichtigen Part ein. Im dritten Teil zieht Sarah J Maas das Erzähltempo dann nochmal ordentlich an. Die Geschehnisse ins Crescent City spitzen sich zu und auch Hunt und Bryce kommen sich unweigerlich näher, bevor im letzten Abschnitt in einem chaotischen, epischen Durcheinander die Welt gerettet werden muss.


"Warum sammelt sie uns überhaupt?", fragte die Koboldin leise. "Bin ich nicht auch eine Person?" Sie zeiget auf das Tattoo an ihrem Handgelenk. "Warum muss das sein?"


"Weil wir in einer Republik leben, die beschlossen hat, dass jede Bedrohung ihrer Ordnung bestraft werden muss, und zwar so drastisch, dass es andere davon abhält, sich ebenfalls aufzulehnen."
So viel zum inhaltlichen Aufbau, der erstmal solide und logisch wirkt. Das eigentliche Genie der Geschichte entfaltete sich im ausgeklügelten Verwirrspiel der Autorin: wie sie den Leser immer wieder auf falsche Fährten lockt und dann überrascht und ein komplett neues Bild zeichnet, ist wirklich genial! Hier spielt Maas geradezu mit falschen Annahmen und tänzelt auf einem schmalen Grat zwischen Verschwiegenheit, Geheimnissen, Lügen und Täuschungen. Würde ich die Geschichte mit meinem jetzigen Wissen nochmals lesen, würden mir viele subtile Andeutungen und wohl platzierte Ausführungen zu später wichtigen Themen auffallen, die ich angesichts der Komplexität der Handlung beim ersten Lesen komplett übersehen habe. So kommen viele Wendungen zwar sehr überraschend, sind aber nach kurzem Nachdenken immer schlüssig und nachzuvollziehen - was die wirkliche Kunst bei Plot-Twists ist.


"Ein Leben. Das waren Fotos von jemandem mit einem Leben, noch dazu mit einem erfüllten. Eine Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte, ein Zuhause zu haben und jemanden, dem es nicht egal war, ob man lebte oder starb, jemanden, der einem ein Lächeln ins Gesicht zauberte, wenn man nur den Raum betrat. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Mit niemandem."


Das gilt jedoch nicht nur für die Handlung, sondern auch für die Protagonisten. Gerade von Bryce hat man zuerst ein völlig falsches Bild, nämlich das eines verzogenen, macht- und respektlosen Partygirls, welches sie selbst vor der Welt noch zu kultivieren scheint und das sich erst im zweiten Drittel der Geschichte langsam aufzulösen beginnt. Dadurch wirkt die Halb-Fae zu Beginn erstmal etwas unsympathisch, was der spätere Eindruck ihrer starken, sturen und sarkastischen Persönlichkeit aber wieder wett macht. Auch der gefallene Engel Hunt (eigentlich Orion) Athalar, der als Auftragsmörder für den Gouverneur Micah arbeitet und deshalb als "Todesschatten" gefürchtet wird, entpuppt sich als anders als zu Beginn erwartet. Dieser "Ich bin ein egomaner Idiot, aber ihr werdet mich in 100 Seiten trotzdem lieben, weil ich dann meinen weichen Kern zeige"-Move wird ja in so vielen Geschichten gebracht, um vermeintliche Bad-Boy-Klischees zu umgehen, sodass er selbst schon wieder zum Klischee geworden ist. Wir kennen sie ja alle: dominante, starke, sexy Protagonisten (ob CEOs, Prinzen, Engel, Vampire oder Fae spielt dabei keine Rolle), mit großem Ego, insgeheim gebrochenen Herzen und starken Eifersuchtsproblemen. Auch Sarah J. Maas wurde in der Vergangenheit oft für ihre dominanten Alpha-Love-Interests kritisiert. Mit Hunt und Bryce findet sie jedoch einen Weg, genau dieses Stereotyp zu parodieren und offen anzusprechen, in dem sich Bryce über das "Alpha-Arschloch-Gehabe" der Männer in ihrem Umfeld ärgert. Dadurch kommt es nicht nur zu unfassbar lustigen Dialogen, sie problematisiert auch indirekt diese Art der Figurendarstellung, auf die wir LeserInnen immer wieder hereinfallen, auf sehr unterhaltsame Art und Weise. Kleine Kostprobe gefällig?


"Ist es nicht furchtbar ermüdend, die ganze Zeit ein Alpha-Arschloch zu sein? Habt ihr Typen vielleicht eine Art Regelbuch dafür? Oder vielleicht geheime Selbsthilfegruppen?"
"Ein was?"
"Ein Alpha-Arschloch. Dominant-aggressiv." Sie deutet mit der Hand auf seinen nackten Oberkörper. "Du weißt schon: Männer wie du, die sich bei der kleinsten Provokation das Hemd vom Leim reißen. Die auf zwanzig verschiedene Arten einen Mord begehen könnten. Bei denen die Frauen sich überschlagen, um sie anzumachen. Und wenn ihr dann tatsächlich endlich eine vögelt, schaltet ihr total auf den Meine-Gefährtin-Modus: Ihr lasst keinen Mann auch nur in ihre Nähe, entscheidet für sie, was und wann sie zu essen hat, was sie tragen soll, wann sie sich mit ihren Freundinnen essen darf."
"Wovon zum Teufel redest du?"
"Eure Lieblingshobbys sind: vor euch hinbrüten, kämpfen und rumbrüllen. Ihr habt die Kunst perfektioniert, auf dreißig verschiedene Arten zu fauchen und zu knurren. Ihr habt eine Clique scharf aussehender Freunde um euch herum. Und sobald einer davon eine Frau zu seiner Gefährtin macht, fallen auch die anderen um wie Dominosteine. Und die Götter mögen euch beistehen, wenn ihr alle den ersten Nachwuchs bekommt..."


Neben der spannenden Machart mit den vielen unvorhergesehenen Wendungen und Entwicklungen sowie den dynamischen Protagonisten lebt die Geschichte auch von den bekannten Stärken der Autorin. Die erste: Worldbuilding. Manche Fantasy-Welten werden einmal aufgebaut und dann spielt sich die Handlung in diesem statischen Bühnenbild ab, doch nicht bei Sarah J. Maas: Ständig verändert sich der Fokus, der Blickwinkel, der Handlungsort der Geschichte, es werden neue Dinge aufgenommen, bestehende ändern sich - eine stetige Entwicklung, die die Geschichte so perfekt und schlüssig erweitert, dass aus dem roten Fanden, ein rotes Band wird. Das ist eine Fähigkeit, für die ich Sarah J. Maas immer bewundern werde: ihre zusammenhängende Darstellung der Welt, die immer komplexer, verschachtelter und geheimnisvoller wird, mit jedem Charakter und Handlungsstrang, der dazukommt. Hier kreiert sie eine spritzige Mischung aus Dystopie, Krimi und Fantasy-Epos und erzählt von einer modernen Welt, die von einer eigentlich unmöglichen Kombination an Fantasy-Wesen bevölkert wird. Denn statt sich für eine Spezies zu entscheiden, mischt sie hier Engel, Fae, Meereswesen, Hexen, Kobolde, Gestaltwandler, Chimären, Sensenmänner, Vampire, Werwölfe, Geister und Co - fehlen nur noch Feen, Zwerge und Riesen und dann hätte sie alles abgedeckt, was das Fantasy-Genre in den letzten Jahrhunderten erfunden hat. Besonders erstaunlich ist, dass diese verrückte Fantasy-Steampunk-Kombination tatsächlich funktioniert und sie nie das Wesentliche aus den Augen verliert oder die Story überlädt. Sie pickt sich einzelne interessante Aspekte gekonnt heraus, welche dann weitergesponnen und vernetzt werden, bis ein umwerfendes, vielseitiges Gesamtergebnis entsteht!


"Bisher war mir das nicht klar", murmelte sie. "Aber du und ich ... wir sind Spiegel." (...)
"Ist das etwas Schlechtes?", fragte er.
Ein mattes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. "Nein. Nein, es ist nichts Schlechtes."
"Du hast kein Problem damit, dass der Umbra Mortis dein emotionaler Zwilling ist?"
Doch ihre Miene wurde wieder ernst. "So nennt man dich zwar, aber das bist du nicht."
"Und wer bin ich?"
"Eine Nervensäge." Ihr Lächeln war strahlender als die untergehende Sonne über dem Fluss. Er lachte, aber sie fügte hinzu: "Du bist mein Freund."


Hier wären wir dann bei der zweiten bekannten Stärke der Autorin angelangt: ihrem außergewöhnlichen Schreibstil. Auch wenn sie hier durchaus modernen schreibt, als in ihren bisherigen Fantasy-Reihen und ich mich erst an die derbe Ausdrucksweise mit den vielen Flüchen und Beleidigungen gewöhnen musste, kann auch der neue Erzählton nichts an ihrem unfassbaren Talent ändern. Wie für all ihre Bücher gibt es ein Wort, das ihr erstaunliches Talent, Worte in Sätzen so zu platzieren, dass sie der Geschichte alleine durch den Schreibstil ein imposantes Auftreten verleihen, super beschreibt: EPISCH. Durch ihre teils sehr außergewöhnliche Wahl der Worte und ihre intensiven Szenenbeschreibungen, fühlt man sich oft, als würde man einem Film zusehen, der vor den eigenen Augen abläuft - Ein wunderbarer Film voller Action, Gefühle und Hintergrund und mit genialen Schauspielern natürlich


"Ist der Engel da?", fragte Juniper verschmitzt.
"Er ist auf ein Bier mit seinen Killer-Kumpels."
"Sie heißen Triarier, Bryce."


Kurz bevor ich zum Ende komme (ja ich weiß, diese Rezension wird lang, aber ich habe auch viel zu sagen😊), muss ich meine Begeisterung noch mal relativieren, bevor sie zu einseitig wird. Ja, die Geschichte ist definitiv ein Jahreshighlight, konnte mich aber alles in allem nicht ganz so überzeugen wie Maas´ andere beiden Reihen (wobei auch deren Auftaktbände noch Verbesserungspotential hatten). Dafür war der Anfang wie oben schon erläutert zu lasch und die Liebesgeschichte zu sexualisiert. Zwar mochte ich die Entwicklung und die Annäherung von Bryce und Hunt sehr, der Sprung von körperlicher Anziehungskraft zu großer Liebe ging mir aber ein bisschen zu flott und außerdem im allgemeinen Handlungsgeschehen unter. Das Ende entschädigt dann jedoch wieder für diese zwei kleinen Mängel. Hier reiht sich eine 180-Grad-Wendung an die nächste und wir bekommen nicht ein, sondern gleich zwei große Showdowns epischen Ausmaßes vorgesetzt. Was hier passiert habe ich sowas von nicht kommen sehen. Trotz dass ich tausend Theorien während der Ermittlungen entwickelt habe, tappte ich komplett im Dunkeln. Und alles, was ich ersinnen konnte, ist lange nicht so spektakulär und durchdacht wie das, was uns Maas als Erklärung vorsetzt.


"Hunt hielt nur Bryce´ Blick. Ich sehe dich, Quinlan, gab er ihr stillschweigend zu verstehen. Und mir gefällt alles, was ich sehe.
Gleichfalls, schien ihr Lächeln anzudeuten."


Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein Buch so unter Strom gesetzt hat. Emotionen sind die eine Sache - Spannung und krasse Dramatik die andere. Die letzten Seiten waren so außergewöhnlich mitreißend, überraschend, spannend, actionreich, richtungsändernd und eindrucksvoll, sodass ich es wahrscheinlich nie vergessen werde. Alleine für dieses Finale sollte dieser Reihenauftakt von allen Fantasy-Liebhabern der Welt gelesen werden! Eine Wendung jagt die nächste, man hat eigentlich durchgängig Gänsehaut, Tränenausbrüche und unkontrollierte Zuckungen, sodass ich bestimmt die Gehirnströme einer Epileptikerin hatte, als die letzten Seiten durch mein Hirn jagten. An einigen Stellen konnte ich auch tatsächlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Spätestens ab dort waren alle objektiven Kritikpunkte vergessen und ich konnte dem actionreichen, dramatischen und unglaublich tragischen Schluss nur gebannt folgen. Das wirkliche Ende ist dann süß, abgeschlossen aber mit genügend offenen Stellen für eine Fortsetzung! Ich bin der Autorin so dankbar, dass sie nicht auf die Idee gekommen ist, ihre Geschichte zu einem früheren Punkt zu unterbrechen und uns mit einem heftigen Cliffhanger zurückzulassen (da gab es einige Stellen, die sich brutal aber bestens dafür angeboten hätten). Nach so einem Cut ein ganzes Jahr (oder sogar länger - Titel und Veröffentlichungstermin von Band 2 sind noch unbekannt) auf die Fortsetzung zu warten hätte ich wohl nicht verwunden...


"Ich hab Angst", flüsterte sie.
Erneut nahm Danika ihre Hand. "Genau darum geht es doch, Bryce. Darum geht es im Leben: zu leben, zu lieben, im Wissen, dass morgen schon alles vorbei sein kann. Dadurch wird jeder Moment so viel kostbarer."




Fazit:

"Crescent City" ist komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und wieder einmal einfach nur EPISCH! Zwar braucht man einen langen Atem, um in die Geschichte einzusteigen, die gutdurchdachte Verwirrungstaktik der Autorin, die in einem spektakulären und wendungsreichen Showdown mündet, ganz zu schweigen von den dynamischen Protagonisten und den bekannten Stärken der Autorin wie Schreibstil und Worldbuilding, entschädigen aber großzügig für kleinere Mängel.

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Veröffentlicht am 14.10.2020

Einfach nur EPISCH!

Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht
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Wer schon längere Zeit meinen Blog verfolgt wird nicht überrascht sein zu hören, dass ich dem Erscheinungstermin von "Crescent City" seit der Ankündigung letztes Jahr begeistert entgegengefiebert habe. ...

Wer schon längere Zeit meinen Blog verfolgt wird nicht überrascht sein zu hören, dass ich dem Erscheinungstermin von "Crescent City" seit der Ankündigung letztes Jahr begeistert entgegengefiebert habe. Da der deutsche Verlag mit der Übersetzung wahnsinnig Gas gegeben hat, stand schon seit Mitte September meinem Versuch zu überprüfen, ob die Geschichte wirklich den Hype der englischen Community verdient, nichts mehr im Weg ... außer meinen eigenen Ansprüchen. Wie bei allen langersehnten Neuerscheinungen hatte ich als langjähriger Sarah-J.-Maas-Fan ein wenig Angst, von diesem Genreausflug enttäuscht zu werden. Doch wieder einmal waren diese Sorgen unbegründet: "Crescent City" ist komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und wieder einmal einfach nur EPISCH!


"Hunt schaltete sein Handy aus und trat dann durch die Tür hinaus ins Freie. Er war wie ein Schandfleck im Licht, ein Schatten vor der Sonne. Mit einem einzigen kräftigen Schlag seiner Schwingen stieg er in die Luft. Und schaute nicht mehr zurück."


Schon bei der Gestaltung könnte ich stundenlang ins Schwärmen kommen. Dass das detailgetreue Cover mit den vielen liebevoll gestalteten Einzelheiten, den inhaltliche abgestimmten Spielereien, den kontrastreichen Farben und dem fantasievollen Motiv ein Hingucker ist, muss ich denke ich nicht genauer erklären. Positiv überrascht haben mich aber der kunstvolle Buchschnitt, der auch nach dem Lesen immer noch farbenfroh und knitterfrei mit dem Hauptmotiv verzückt, die aufwändig illustrierte Karte, der goldene Sichelmond unter dem Schutzumschlag und die episch-düstere Ausgestaltung der Buchdeckelinnenseiten. Dass bei meiner limitierten Ausgabe außerdem noch ein passendes Tattoo mit der Aufschrift "Through Love All Is Possible" mitgeliefert wurde, setzt dem stimmigen Gesamtkonzept natürlich nochmal ein Sahnehäubchen auf. Dass das Buch trotz der knapp 1000 Seiten und der gebundenen Ausgabe recht dünn ist, wird durch die recht kleine Schrift und das dünne Bibel-Seiten-Papier gewährleistet. Warum die englische Ausgabe trotzdem nur etwa die Hälfte des Umfangs aufweist, ist und bleibt mir ein Rätsel...


"Du kannst es. Wir stehen das zusammen durch."
Es durchstehen - zusammen. Dieses chaotische Leben. Diese chaotische Welt. Bryce schluchzte, aber dieses Mal nicht nur vor Schmerz."


Inhaltlich aufgeteilt ist die Geschichte in vier Teile "Die Senke", "Der Graben", "Der Canyon" und "Die Schlucht", sowie in 97 Kapitel inklusive eines kurzen Epilogs, die dieser langen und komplexen Story eine Struktur verschaffen. Zuerst erhalten wir einen kurzen Einblick in Bryce´ Leben bevor der allesverändernde Überfall auf ihre Wohnung, den wir leider schon durch den Klapptext gespoilert bekommen, alles durcheinanderwirbelt. Diese fast 120 Seiten starke Einleitung ist zugegebenermaßen sehr anstrengend zu lesen, da die Leser hier permanent durch etliche neuen Namen, Orte, Andeutungen, Erklärungen und Personen gefordert werden. Man muss kopftechnisch anwesend sein, mitdenken, fast schon Notizen machen, um mitzukommen, da sich dieser Einstieg in tonnenweisen scheinbar unwichtigen Details verliert. Später wird jedoch belohnt, wer genau gelesen hat. Denn wer zu Beginn noch dachte, Sarah J. Maas sei so begeistert von ihrem Setting gewesen, dass sie es mit dem Worldbuilding etwas übertrieben hat, wird im Laufe der Geschichte bald merken, dass alles Teil eines abgekarteten Verwirrspiels ist und all die kleinen versteckten Details am Ende ihr Comeback im Showdown erhalten.


"Uns hatte er gesagt. Eine Einheit. Ein Team. Ein Zwei-Personen-Rudel. Seine Schwingen bewegten sich leicht in der Brise, die vom Istros heraufwehte. "Wir werden den finden, der hinter dieser ganzen Sache steckt, Bryce. Das verspreche ich dir." Und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm."


Nach einem Zeitsprung von fast zwei Jahren bildet sich dann aus dem Anfangs-Wirr-Warr eine spritzige, spannende Buddy-Ermittlungs-Crime-Story heraus und die Geschichte wird nun aus verschiedenen Perspektiven an verschiedenen Orten erzählt. Neben der Protagonistin Bryce erzählen nun auch der gefürchtete Vollstrecker-Engel Hunt, der nur der "Umbra Mortis", der Todesschatten, genannt wird, und Bryce´ Bruder, der Fae-Prinz Ruhn. Die personale Erzählperspektive macht es möglich, viel vor dem Leser zu verbergen und doch einen Einblick in die Gefühle und Gedanken der Figuren zu erhaschen. Denn trotz des sehr ereignisreichen Mittelteils, in dem das ungleiche Ermittler-Duo Bryce und Hunt durch fast alle Bezirke von Crescent City zieht, verschiedenen Spuren nachgeht und die ein oder andere unliebsame Begegnung mit einem Dämon hat, nehmen die Beziehung, die Gefühle und vor allem die Entwicklung der beiden Hauptprotagonistin einen großen und wichtigen Part ein. Im dritten Teil zieht Sarah J Maas das Erzähltempo dann nochmal ordentlich an. Die Geschehnisse ins Crescent City spitzen sich zu und auch Hunt und Bryce kommen sich unweigerlich näher, bevor im letzten Abschnitt in einem chaotischen, epischen Durcheinander die Welt gerettet werden muss.


"Warum sammelt sie uns überhaupt?", fragte die Koboldin leise. "Bin ich nicht auch eine Person?" Sie zeiget auf das Tattoo an ihrem Handgelenk. "Warum muss das sein?"


"Weil wir in einer Republik leben, die beschlossen hat, dass jede Bedrohung ihrer Ordnung bestraft werden muss, und zwar so drastisch, dass es andere davon abhält, sich ebenfalls aufzulehnen."
So viel zum inhaltlichen Aufbau, der erstmal solide und logisch wirkt. Das eigentliche Genie der Geschichte entfaltete sich im ausgeklügelten Verwirrspiel der Autorin: wie sie den Leser immer wieder auf falsche Fährten lockt und dann überrascht und ein komplett neues Bild zeichnet, ist wirklich genial! Hier spielt Maas geradezu mit falschen Annahmen und tänzelt auf einem schmalen Grat zwischen Verschwiegenheit, Geheimnissen, Lügen und Täuschungen. Würde ich die Geschichte mit meinem jetzigen Wissen nochmals lesen, würden mir viele subtile Andeutungen und wohl platzierte Ausführungen zu später wichtigen Themen auffallen, die ich angesichts der Komplexität der Handlung beim ersten Lesen komplett übersehen habe. So kommen viele Wendungen zwar sehr überraschend, sind aber nach kurzem Nachdenken immer schlüssig und nachzuvollziehen - was die wirkliche Kunst bei Plot-Twists ist.


"Ein Leben. Das waren Fotos von jemandem mit einem Leben, noch dazu mit einem erfüllten. Eine Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte, ein Zuhause zu haben und jemanden, dem es nicht egal war, ob man lebte oder starb, jemanden, der einem ein Lächeln ins Gesicht zauberte, wenn man nur den Raum betrat. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Mit niemandem."


Das gilt jedoch nicht nur für die Handlung, sondern auch für die Protagonisten. Gerade von Bryce hat man zuerst ein völlig falsches Bild, nämlich das eines verzogenen, macht- und respektlosen Partygirls, welches sie selbst vor der Welt noch zu kultivieren scheint und das sich erst im zweiten Drittel der Geschichte langsam aufzulösen beginnt. Dadurch wirkt die Halb-Fae zu Beginn erstmal etwas unsympathisch, was der spätere Eindruck ihrer starken, sturen und sarkastischen Persönlichkeit aber wieder wett macht. Auch der gefallene Engel Hunt (eigentlich Orion) Athalar, der als Auftragsmörder für den Gouverneur Micah arbeitet und deshalb als "Todesschatten" gefürchtet wird, entpuppt sich als anders als zu Beginn erwartet. Dieser "Ich bin ein egomaner Idiot, aber ihr werdet mich in 100 Seiten trotzdem lieben, weil ich dann meinen weichen Kern zeige"-Move wird ja in so vielen Geschichten gebracht, um vermeintliche Bad-Boy-Klischees zu umgehen, sodass er selbst schon wieder zum Klischee geworden ist. Wir kennen sie ja alle: dominante, starke, sexy Protagonisten (ob CEOs, Prinzen, Engel, Vampire oder Fae spielt dabei keine Rolle), mit großem Ego, insgeheim gebrochenen Herzen und starken Eifersuchtsproblemen. Auch Sarah J. Maas wurde in der Vergangenheit oft für ihre dominanten Alpha-Love-Interests kritisiert. Mit Hunt und Bryce findet sie jedoch einen Weg, genau dieses Stereotyp zu parodieren und offen anzusprechen, in dem sich Bryce über das "Alpha-Arschloch-Gehabe" der Männer in ihrem Umfeld ärgert. Dadurch kommt es nicht nur zu unfassbar lustigen Dialogen, sie problematisiert auch indirekt diese Art der Figurendarstellung, auf die wir LeserInnen immer wieder hereinfallen, auf sehr unterhaltsame Art und Weise. Kleine Kostprobe gefällig?


"Ist es nicht furchtbar ermüdend, die ganze Zeit ein Alpha-Arschloch zu sein? Habt ihr Typen vielleicht eine Art Regelbuch dafür? Oder vielleicht geheime Selbsthilfegruppen?"
"Ein was?"
"Ein Alpha-Arschloch. Dominant-aggressiv." Sie deutet mit der Hand auf seinen nackten Oberkörper. "Du weißt schon: Männer wie du, die sich bei der kleinsten Provokation das Hemd vom Leim reißen. Die auf zwanzig verschiedene Arten einen Mord begehen könnten. Bei denen die Frauen sich überschlagen, um sie anzumachen. Und wenn ihr dann tatsächlich endlich eine vögelt, schaltet ihr total auf den Meine-Gefährtin-Modus: Ihr lasst keinen Mann auch nur in ihre Nähe, entscheidet für sie, was und wann sie zu essen hat, was sie tragen soll, wann sie sich mit ihren Freundinnen essen darf."
"Wovon zum Teufel redest du?"
"Eure Lieblingshobbys sind: vor euch hinbrüten, kämpfen und rumbrüllen. Ihr habt die Kunst perfektioniert, auf dreißig verschiedene Arten zu fauchen und zu knurren. Ihr habt eine Clique scharf aussehender Freunde um euch herum. Und sobald einer davon eine Frau zu seiner Gefährtin macht, fallen auch die anderen um wie Dominosteine. Und die Götter mögen euch beistehen, wenn ihr alle den ersten Nachwuchs bekommt..."


Neben der spannenden Machart mit den vielen unvorhergesehenen Wendungen und Entwicklungen sowie den dynamischen Protagonisten lebt die Geschichte auch von den bekannten Stärken der Autorin. Die erste: Worldbuilding. Manche Fantasy-Welten werden einmal aufgebaut und dann spielt sich die Handlung in diesem statischen Bühnenbild ab, doch nicht bei Sarah J. Maas: Ständig verändert sich der Fokus, der Blickwinkel, der Handlungsort der Geschichte, es werden neue Dinge aufgenommen, bestehende ändern sich - eine stetige Entwicklung, die die Geschichte so perfekt und schlüssig erweitert, dass aus dem roten Fanden, ein rotes Band wird. Das ist eine Fähigkeit, für die ich Sarah J. Maas immer bewundern werde: ihre zusammenhängende Darstellung der Welt, die immer komplexer, verschachtelter und geheimnisvoller wird, mit jedem Charakter und Handlungsstrang, der dazukommt. Hier kreiert sie eine spritzige Mischung aus Dystopie, Krimi und Fantasy-Epos und erzählt von einer modernen Welt, die von einer eigentlich unmöglichen Kombination an Fantasy-Wesen bevölkert wird. Denn statt sich für eine Spezies zu entscheiden, mischt sie hier Engel, Fae, Meereswesen, Hexen, Kobolde, Gestaltwandler, Chimären, Sensenmänner, Vampire, Werwölfe, Geister und Co - fehlen nur noch Feen, Zwerge und Riesen und dann hätte sie alles abgedeckt, was das Fantasy-Genre in den letzten Jahrhunderten erfunden hat. Besonders erstaunlich ist, dass diese verrückte Fantasy-Steampunk-Kombination tatsächlich funktioniert und sie nie das Wesentliche aus den Augen verliert oder die Story überlädt. Sie pickt sich einzelne interessante Aspekte gekonnt heraus, welche dann weitergesponnen und vernetzt werden, bis ein umwerfendes, vielseitiges Gesamtergebnis entsteht!


"Bisher war mir das nicht klar", murmelte sie. "Aber du und ich ... wir sind Spiegel." (...)
"Ist das etwas Schlechtes?", fragte er.
Ein mattes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. "Nein. Nein, es ist nichts Schlechtes."
"Du hast kein Problem damit, dass der Umbra Mortis dein emotionaler Zwilling ist?"
Doch ihre Miene wurde wieder ernst. "So nennt man dich zwar, aber das bist du nicht."
"Und wer bin ich?"
"Eine Nervensäge." Ihr Lächeln war strahlender als die untergehende Sonne über dem Fluss. Er lachte, aber sie fügte hinzu: "Du bist mein Freund."


Hier wären wir dann bei der zweiten bekannten Stärke der Autorin angelangt: ihrem außergewöhnlichen Schreibstil. Auch wenn sie hier durchaus modernen schreibt, als in ihren bisherigen Fantasy-Reihen und ich mich erst an die derbe Ausdrucksweise mit den vielen Flüchen und Beleidigungen gewöhnen musste, kann auch der neue Erzählton nichts an ihrem unfassbaren Talent ändern. Wie für all ihre Bücher gibt es ein Wort, das ihr erstaunliches Talent, Worte in Sätzen so zu platzieren, dass sie der Geschichte alleine durch den Schreibstil ein imposantes Auftreten verleihen, super beschreibt: EPISCH. Durch ihre teils sehr außergewöhnliche Wahl der Worte und ihre intensiven Szenenbeschreibungen, fühlt man sich oft, als würde man einem Film zusehen, der vor den eigenen Augen abläuft - Ein wunderbarer Film voller Action, Gefühle und Hintergrund und mit genialen Schauspielern natürlich


"Ist der Engel da?", fragte Juniper verschmitzt.
"Er ist auf ein Bier mit seinen Killer-Kumpels."
"Sie heißen Triarier, Bryce."


Kurz bevor ich zum Ende komme (ja ich weiß, diese Rezension wird lang, aber ich habe auch viel zu sagen😊), muss ich meine Begeisterung noch mal relativieren, bevor sie zu einseitig wird. Ja, die Geschichte ist definitiv ein Jahreshighlight, konnte mich aber alles in allem nicht ganz so überzeugen wie Maas´ andere beiden Reihen (wobei auch deren Auftaktbände noch Verbesserungspotential hatten). Dafür war der Anfang wie oben schon erläutert zu lasch und die Liebesgeschichte zu sexualisiert. Zwar mochte ich die Entwicklung und die Annäherung von Bryce und Hunt sehr, der Sprung von körperlicher Anziehungskraft zu großer Liebe ging mir aber ein bisschen zu flott und außerdem im allgemeinen Handlungsgeschehen unter. Das Ende entschädigt dann jedoch wieder für diese zwei kleinen Mängel. Hier reiht sich eine 180-Grad-Wendung an die nächste und wir bekommen nicht ein, sondern gleich zwei große Showdowns epischen Ausmaßes vorgesetzt. Was hier passiert habe ich sowas von nicht kommen sehen. Trotz dass ich tausend Theorien während der Ermittlungen entwickelt habe, tappte ich komplett im Dunkeln. Und alles, was ich ersinnen konnte, ist lange nicht so spektakulär und durchdacht wie das, was uns Maas als Erklärung vorsetzt.


"Hunt hielt nur Bryce´ Blick. Ich sehe dich, Quinlan, gab er ihr stillschweigend zu verstehen. Und mir gefällt alles, was ich sehe.
Gleichfalls, schien ihr Lächeln anzudeuten."


Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein Buch so unter Strom gesetzt hat. Emotionen sind die eine Sache - Spannung und krasse Dramatik die andere. Die letzten Seiten waren so außergewöhnlich mitreißend, überraschend, spannend, actionreich, richtungsändernd und eindrucksvoll, sodass ich es wahrscheinlich nie vergessen werde. Alleine für dieses Finale sollte dieser Reihenauftakt von allen Fantasy-Liebhabern der Welt gelesen werden! Eine Wendung jagt die nächste, man hat eigentlich durchgängig Gänsehaut, Tränenausbrüche und unkontrollierte Zuckungen, sodass ich bestimmt die Gehirnströme einer Epileptikerin hatte, als die letzten Seiten durch mein Hirn jagten. An einigen Stellen konnte ich auch tatsächlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Spätestens ab dort waren alle objektiven Kritikpunkte vergessen und ich konnte dem actionreichen, dramatischen und unglaublich tragischen Schluss nur gebannt folgen. Das wirkliche Ende ist dann süß, abgeschlossen aber mit genügend offenen Stellen für eine Fortsetzung! Ich bin der Autorin so dankbar, dass sie nicht auf die Idee gekommen ist, ihre Geschichte zu einem früheren Punkt zu unterbrechen und uns mit einem heftigen Cliffhanger zurückzulassen (da gab es einige Stellen, die sich brutal aber bestens dafür angeboten hätten). Nach so einem Cut ein ganzes Jahr (oder sogar länger - Titel und Veröffentlichungstermin von Band 2 sind noch unbekannt) auf die Fortsetzung zu warten hätte ich wohl nicht verwunden...


"Ich hab Angst", flüsterte sie.
Erneut nahm Danika ihre Hand. "Genau darum geht es doch, Bryce. Darum geht es im Leben: zu leben, zu lieben, im Wissen, dass morgen schon alles vorbei sein kann. Dadurch wird jeder Moment so viel kostbarer."




Fazit:

"Crescent City" ist komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und wieder einmal einfach nur EPISCH! Zwar braucht man einen langen Atem, um in die Geschichte einzusteigen, die gutdurchdachte Verwirrungstaktik der Autorin, die in einem spektakulären und wendungsreichen Showdown mündet, ganz zu schweigen von den dynamischen Protagonisten und den bekannten Stärken der Autorin wie Schreibstil und Worldbuilding, entschädigen aber großzügig für kleinere Mängel.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.10.2020

Atmosphärischer, lebendiger als Band 1 und vor allem: authentisch.

It was always love
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Schon der erste Teil der Blakely-Brüder-Dulogie von Nikola Hotel hat mich mitgerissen und bezaubert. Während "It was always you" jedoch noch ein wenig oberflächlich war und auf einige Klischees aufbaute, ...

Schon der erste Teil der Blakely-Brüder-Dulogie von Nikola Hotel hat mich mitgerissen und bezaubert. Während "It was always you" jedoch noch ein wenig oberflächlich war und auf einige Klischees aufbaute, ist der Nachfolger "It was always love" um einiges atmosphärischer, lebendiger und vor allem: authentisch.


"Your lips, my lips, apocalypse. Weil Noah zu küssen sich genauso anfühlt. Nicht wie eine Katastrophe, das Ende einer Geschichte, sondern wie der Neuanfang danach."


Die Gestaltung ist wieder ein Traum und passt wunderbar zum ersten Band. Glitzerstaub auf dunklem, Grund - eine bessere Metapher für die Grundstimmung der Geschichte hätte ich mir nicht ausdenken können und in Verbindung mit dem geschwungen geletterten, passenden Titel ist das Cover einfach ein Hingucker! Dieses Mal ist der Hintergrund in einem warmen beerenrot gehalten, was mir in Kombination mit den hellen Lichtpunkten fast noch besser gefällt als das kühle Blau des ersten Teils. Doch "It was always love" ist nicht nur äußerlich eine Schönheit, sondern kann auch innerhalb der Buchdeckel mit einer total liebevollen Gestaltung glänzen. Neben den geschwungenen Kapitelüberschriften und den toll gestalteten Leselaschen sind es vor allem die ganzseitigen Handletterings der Illustratorin Carolin Magunia, die es mir angetan haben. Genau wie Ivy im ersten Teil lettert auch Aubree Sprüche, To-do-Lists, Gedanken und Zitate, die ihr in ihrem Alltag begegnen als Art Tagebuchersatz in ihr Bullet Journal, welche wir dann auf der passenden Seite sehen können. Sprüche wie "don´t give a fuck (unless you are fucking, then give everything)" oder "better an oops than a what if" haben die Story für mich angenehm abgerundet und oftmals auch zum Schmunzeln gebracht. Hier sind die einzelnen Letterings auch um einiges abwechslungsreicher gestaltet als im ersten Teil, sodass hier der Text spritzig aufgelockert wird.


Erster Satz: "Mit einem mulmigen Gefühl starre ich auf das Formular."


Als Aubree in ihr Journal lettert "damn, you had me at hello", dachte ich nur "ja Aubree, mich auch." Denn diese Geschichte konnte mich von der ersten Seite an packen und hat mich nicht wieder losgelassen. Dabei passiert handlungstechnisch auf den gut 470 Seiten nicht allzuviel und die Autorin nimmt sich sehr viel Zeit, ihre Figuren im Alltag vorzustellen und langsam aneinander zu gewöhnen. Im Prinzip begleiten wir Aubree und Noah also bei so alltäglichen Dingen wie Essen, Einkaufen, Videospiele spielen, Box-Training oder Stallbesuche - nicht gerade, was man unter einem hochspannenden Plot verstehen würde. Doch gerade weil hier vieles so alltäglich ist, kann man sich sehr gut auf die sich langsam entwickelnde Spannung zwischen Aubree und Noah, sowie die ans Licht kommenden Geheimnisse und Hintergründe der Geschichte konzentrieren. Wie sich die beiden verlorenen Seelen finden und vorsichtig aufeinander einlassen ist wirklich wunderschön mitanzusehen! Eigentlich passiert nicht viel, aber trotzdem sorgen die prickelnde Anziehungskraft, die unterdrückten Gefühle, die schwelenden Geheimnisse und die neuen und alten verheilten Wunden für eine unterschwellige Spannung, die einen nicht mehr los lässt.


"Er hat dieses Zimmer mir überlassen. Seinen einzigen Rückzugsort. Alles, was er hat.
Ich schlucke. Nein, das stimmt nicht. Noah hat noch viel mehr. Er hat eine umwerfend tolle Stimme. Er hat raue Hände, einen Körper voller Bilder und Songtexte und die faszinierendsten grünen Augen, die ich je gesehen habe."


Für diese Spannung sorgt auch die unfassbare Chemie zwischen Noah und Aubree. Ich weiß wirklich nicht, wie Nikola Hotel das angestellt hat, aber hier konnte ich das Knistern durch die Seiten hindurch zwischen meinen Fingern spüren (ich erinnere an eine gewisse Szene unter der Dusche - denn irgendwie scheint es Nikola Hotel mit Duschszenen zu haben 😅). Zwar waren schon Ivy und Asher mit ihrer Forbidden-Love-Stiefgeschwister-Konstellation ziemlich heiß, doch die beiden Figuren in diesem Teil toppen das nochmal um Längen. Doch die Autorin legt nicht nur in Sachen Chemie ordentlich zu - ein weiteres großes Plus gegenüber dem ersten Teil sind die ernsthafteren Themen, die hier angesprochen werden. Nikola Hotel geht diese emotional, sensibel und zart romantisch an, sodass einem als Leser das Herz aufgeht. Zwar bleibt einiges nur angerissen und von anderen Aspekten wie zum Beispiel Noahs Verhältnis zu seinem Vater oder Aubrees Freundschaft zu Ivy hätte ich mir mehr erwartet, dennoch wirkt diese Geschichte bedeutungsvoller, wichtiger und tiefgründiger als der unterhaltsame erste Teil.


"Fuck, ich kann wahrscheinlich nie wieder an etwas anderes denken, und jetzt kapiere ich, warum man Stürme nach Frauen benennt." Er lacht leise. "Du bist ein verdammter Sturm. Du hast mich einfach mitgerissen."


Auch die Figuren an sich sind mir wesentlich mehr ans Herz gewachsen als Ivy und Asher. Das lag vor allem daran, dass sie von Anfang an nicht in typische Klischees gepasst und mit ihrer Widersprüchlichkeit ein lebendiges, rundes Bild abgegeben haben. Aubree ist stark, kreativ, selbstbewusst aber in gewisser Hinsicht doch so verletzlich, dass man sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Noah hingegen ist zwar manchmal unbeholfen, aber erfrischend direkt, ehrlich und mit seiner sensiblen Art einfach nur liebenswert. Zwar muss man sich erstmal an seine Art zu sprechen gewöhnen (und all die Flüche und "Fucks" mit der Zeit ausblenden), ich konnte mich aber viel mehr mit ihm identifizieren als ich noch im Vorgängerband angesichts seiner wankelmütigen, mürrischen Darstellung erhofft hatte. Außerdem gibt es auch hier tolle Nebenfiguren, die mich immer wieder zum Lächeln gebracht haben. Vor allem eine gewisse Szene mit der kleinen Frida (eingeweihte Leser werden wissen, was ich meine), ist mir ans Herz gegangen. Addiert man nun noch Nikola Hotels spritzigen Schreibstil zur Gleichung hinzu, ist ein emotionales Auf und Ab garantiert. Sie scheut zwar nicht das große Drama, hat durch ihre sensible und zart romantische Art, die Gefühle der Protagonisten auszudrücken aber trotzdem mein Herz gewonnen. Ein bisschen Ironie, Humor, viele Anspielungen auf Filme und Serien und natürlich auch ein paar erotische Szenen dürfen nicht fehlen... So entsteht ein atmosphärisches, lebendiges, authentisches Gesamtbild, in das ich mich verlieben musste.


"Ich bin etwas Besonderes", sagt Noah.
"Ich bin etwas Besonderes", flüstert Frida hochkonzentriert.
"Und wenn ich hinfalle?", fragt Noah.
"Dann stehe ich wieder auf", beendet Frida den Satz."


Die Auflösung am Ende wirkt dann objektiv betrachtet an einigen Stellen vielleicht ein wenig konstruiert und böse Zungen könnten das Ende auch als überdramatisch sowie den Epilog als übereilt bezeichnen, dennoch mochte ich, wie sich nach langem Rätseln die einzelnen Puzzleteile ineinanderfügen und die Protagonisten ihr Happy End erhalten. Alles in allem hat die kontrastreiche Love Story also alles, was man sich als schmachtender Leser nur wünschen kann: ein anbetungswürdige sensibler Love-Interest, der viel mehr empfindet, als auf den ersten Blick ersichtlich ist (klarer Fall von "harte Schale, weicher Kern"), eine sympathische, verletzliche aber auf ihre Weise starke Protagonistin und natürlich dramatische Umstände, die ihnen im Weg stehen.


"Love makes the shy brave and the brave shy." (...) ich weiß nicht, ob das hier Liebe ist. Oder ob ich vorher mutig oder schüchtern gewesen bin. Und erst recht nicht, was davon ich jetzt bin. Ich weiß nicht, wie mutig ich sein kann, aber ich weiß, dass ich Noah so nicht verabschieden will."




Fazit:


"It was always love" überzeugt mit vielschichtigeren Figuren, ernsthafteren Themen, einer knisternderen Chemie und emotional mitreißenderen Atmosphäre als der Vorgänger. In diese atmosphärische, lebendige und authentische Geschichte muss man sich einfach verlieben!

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