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Veröffentlicht am 01.01.2021

Ein Traumjob wird zum Albtraum

Hinter diesen Türen
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Das leise Grauen kann besonders eindringlich sein, dazu braucht es keine Brutalo-Szenen. Das bewahrheitet sich auch in dem Thriller "Hinter diesen Türen" der britischen Autorin Ruth Ware, in dem nichts ...

Das leise Grauen kann besonders eindringlich sein, dazu braucht es keine Brutalo-Szenen. Das bewahrheitet sich auch in dem Thriller "Hinter diesen Türen" der britischen Autorin Ruth Ware, in dem nichts ist, wie es scheint. Außerdem ungewöhnlich: Ihr Thriller kommt in Form eines Briefromans daher, über weite Strecken aus der Sicht einer jungen Frau, die aus der Untersuchungshaft heraus versucht, einen Anwalt dazu zu bringen, ihren Fall zu übernehmen. Der Leser weiß früh: Der angebliche Traumjob der jungen Erzieherin Rowan Caine als Kindermädchen einer sechsköpfigen Familie in den schottischen Highlands endete nicht gut. Die junge Frau sitzt wegen des Todes eines Kindes im Gefängnis. Doch um welchen ihrer Schützlinge es sich handelt, ob sie schuldig ist oder nicht, ob sie überhaupt zurechnungsfähig ist - auf all diese Informationen lässt Ware ihre Leser lange warten. Überhaupt bleibt manches Detail dann doch der Phantasie des Lesers überlassen.

Psychologische Spannung, eine düster-paranoide Atmosphäre, Beschreibungen der dramatischen Landschaft der schottischen Highlands und des sich immer weiter zuspitzenden Gemütszustands des Kindermädchens in einer Familie, in der fast jeder Geheimnisse zu haben scheint: Ware schafft es, eine beklemmende Atmosphäre entstehen zu lassen. Der Leser kann die Ängste Rowans nachvollziehen, doch das Grauen bleibt subtil.

Seit sie die Anzeige gesehen hat, weiß Rowan: Sie will den Nanny-Job bei der Architektenfamilie Elincourt. In ihrer Kita ist sie zunehmend unzufrieden, seit bei einer Beförderung ihre Mitbewerberin den Zuschlag bekam, ihre Mitbewohnerin ist auf Weltreise, sie selbst fühlt sich in der Wohnung mittlerweile einsam. Das geschmackvoll eingerichtete Haus in atemberaubender Landschaft, das sie bei ihrem Vorstellungsgespräch kennenlernt, soll das neue Zuhause werden. Ihre künftige Chefin drängt allerdings darauf, sie müsse sich schon für eine längere Zeit verpflichten. Denn Rowans Vorgängerinnen blieben nicht lange, beendeten den Job teils schon nach wenigen Wochen. Für die Kinder sei das gar nicht gut gewesen.

Schon nach wenigen Tagen muss Rowan ihr pädagogisches Geschick nonstop unter Beweis stellen. Denn die Elincourts sind gemeinsam unterwegs auf einer Messe. Plötzlich hat das Kindermädchen ganz allein die Verantwortung für die Kinder, die ihr teils ablehnend begegnen. In dem smart house mit seinen Apps, Lautsprechern und Kameras fühlt sie sich überwacht. Doch nicht nur das macht ihr zu schaffen: Nachts hört sie Schritte, ihre Halskette verschwindet, seltsame Geräusche versetzen sie zunehmend in Panik. Ist etwas dran an dem Gerede, dass im Haus Geister ihr Unwesen treiben?

Ware schafft es, immer wieder überraschende Wendungen zu präsentieren. Und wenn sich sowohl Spannung als auch Dramatik immer weiter zuspitzen und fast jeder irgendwie verdächtig erscheint, fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Ich habe es jedenfalls in einem Rutsch verschlungen.

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Veröffentlicht am 28.11.2020

Atemlose Coming of Age Geschichte

Dieses ganze Leben
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Von wegen, mit 16 Jahren ist das Leben so herrlich. Paola jedenfalls ist mit sich und der Welt nicht im Reinen, dabei hat die Protagonistin in Raffaela Romangnolos Coming of Age-Roman "Dieses ganze Leben" ...

Von wegen, mit 16 Jahren ist das Leben so herrlich. Paola jedenfalls ist mit sich und der Welt nicht im Reinen, dabei hat die Protagonistin in Raffaela Romangnolos Coming of Age-Roman "Dieses ganze Leben" zumindest materiell alles, was andere sich so wünschen. Die Unternehmertochter wohnt in einer Villa mit Pool, stets gibt es das neuest Tablet- und Handymodell. Aber abgesehen davon, dass die gefühlte emotionale Abwesenheit der Eltern die besten Voraussetzungen für Wohlstandsverwahrlosung bietet, kann Paola weder sich selbst akzeptieren, noch hat sie das Gefühl, von anderen jemals akzeptiert oder gar geliebt werden zu können: Zu groß, zu dickt, schlechter Teint, in der Schule gemobbt.

Das Mädchen, dass sich gerne in die Welt seiner Bücher flüchtet scheint auch zu Hause ganz im Schatten ihres jüngeren Bruders Ricchi zu stehen. Der ist schwerbehindert, seine Pflege, Therapie usw stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die Mutter scheint Paola nur mit Diät und Fitness-tipps zu beachten. Dass sowohl die Mutter als auch die Oma überaus attraktiv sind, macht das Heranwachsen für Paola nicht gerade leichter.

Der einzige, bei dem sie sich verstanden fühlt, ist Antonio, in der Schule ein paar Klassen über ihr und buchstäblich "from the wrong side of the tracks", wohnt er doch in einer Sozialsiedlung, die die Baufirma von Paolas Familie gebaut hat. Diese Siedlung unweit der Villa auf der "schlechten" Seite der Straße ist Paolas Mutter verhasst - ein Grund mehr für Paola und Ricchi, dort abzuhängen, wenn sie angeblich Richtung Golfklub spazieren. Zu ihrem heimlichen Protestverhalten gehört auch, sich auf der Tankstelle mit Junkfood zu versorgen.

Das könnte nun leicht in Richtung Teenager-Kitschromanze gehen, aber zum Glück findet die Autorin einen ganz anderen Dreh, wenn Paola in ihrem aufgeregten, hastigen innerem Monolog über sich, das Leben und das Schweigen in der Familie reflektiert. An ihre imaginäre Freundin Carmen gewandt lässt sie den Frust ihres Alltags ab, die Wut über die vielen unbeantworteten Fragen. Denn die heile Welt in der Villa bekommt Risse: Carabinieri stehen vor der Tür, der Vater schreddert Dokumente. Immer drängender stellt Paola Fragen, will sich mit dem Schweigen nicht abfinden.

"Alle glücklichen Familien ähneln einander. jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich, und unsere Art ist das Schweigen", paraphrasiert sie einmal "Anna Karenina". Es ist, so könnte man sagen, ein buchstäblich vergiftetes Schweigen, und erst, als es gebrochen wird, ist das nicht nur ein Befreiungsschlag für Paola, sondern für alle Frauen der Familie mit ihren verborgenen Geheimnissen, ihren alten Narben und verdrängten Sehnsüchtigen. So sprunghaft die Gedankenwelt Paolas in den ersten Kapiteln ist, so reift sie an den Herausforderungen. Das Leben mit 16 mag ganz schön kompliziert sein, doch am Ende ist nicht nur Paola ein ganzes Stück erwachsener geworden. Ein Buch voller Atemlosigkeit, das den Gefühlswirrwarr, die Emotionalität und Unbedingtheit junger Menschen auch den älter gewordenen Lesern wieder in Erinnerung ruft.

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Veröffentlicht am 09.11.2020

Ein Gangsterleben

Heißes Blut
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Mit "Die Plotter" hatte der koreanische Schriftstelle Un-Su Kim eine düster-brutale, aber auch fast schon philosophische Geschichte eines Profu-Killers geschrieben, Auch in "Heißes Blut" bleibt er dem ...

Mit "Die Plotter" hatte der koreanische Schriftstelle Un-Su Kim eine düster-brutale, aber auch fast schon philosophische Geschichte eines Profu-Killers geschrieben, Auch in "Heißes Blut" bleibt er dem Gangstermilieu treu und schildert Karrieren, Verteilungskämpfe und blutige Fehden in Busan und am Strandviertel Guam. Atmosphärisch dicht, sprachtlich kraftvoll erzählt Un-Su Kim die Geschichte des Gangsters Huisu, der in den 90-er Jahren die rechte Hand des koreanischen Paten Vater Son ist.

Huisu gehört gewissermaßen zum mittleren Management des organisierten Verbrechens, ein Mann mit Ambitionen, aber auch mit einem Ehrgefühl als Gangster. Vaterlos aufgewachsen kennt er das Leben am Rand der Gesellschaft, seine große Liebe ist eine Barbesitzerin und ehemalige Prostituierte. Teilweise ist "Heißes Blut" wie eine koreanische Version des "Paten", mit Soldaten und Offizieren, mit Abgaben und korruptem Beamten, mit ungeschriebenen Gesetzen und Verhaltensregeln. Nur dass hier in den Kampfpausen einen Gangsterkrieges nicht Spaghetti gekocht werden, sondern Ramen-Nudeln und bei Sashimi verhandelt wird. Wobei die Sashimi-Messer auch anderweitig zum Einsatz kommen.

Ähnlich wie der Killer Raesong ist Huisu eine teils gebrochene, teils an ihren Grundwerten festhaltende Figur. Ähnlich wie sein Ziehvater Son setzt Huisu mehr auf Verhandlungen als auf Brutalität und Blutvergießen, auch wenn ihm beides nicht fremd ist. Nicht zuletzt seine Schuldenlast macht ihn angreifbar, zwingt ihn zu Entscheidungen mit weitreichenden Folgen.

Ein wenig ähneln die Gangster von Busan den Einwohnern einer Kleinstadt - jeder weiß fast alles über die anderen, es gibt Zweckbündnisse und Loyalitäten, doch unter der scheinbar glatten Oberfläche des Geschäftslebens sind allerhand Untiefen.

"Heißes Blut" ist ein Kriminalroman wie aus der "schwarzen Serie", düster, oftmals tödlich und getragen von einem ethischen Kodex der Unterwelt. Auch soziale Hierarchien, rituelle Unterwürfigkeit und Rangfolgen spielen eine wichtige Rolle, wobei ich schlecht beurteilen kann, inwieweit hier auch "typisch koreanische" Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders eine Rolle spielen und inwieweit es sich um die Nischenkultur der Gangstergesellschaft handelt.

Dunkel und hart, manchmal mit Humor und sogar Wärme lässt Un-Su Kim am Leben seiner Antihelden teilhaben. Nicht nur für Krimi-Freunde ein faszinierendes Buch voller Spannung und dunkler Emotionen.

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Veröffentlicht am 04.11.2020

Das Trauma der Entwurzelung

Flucht – Eine Menschheitsgeschichte
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Schon das Titelbild von Andreas Kosserts Buch "Flucht" zeigt, wie leicht sich der Leser bei der Einschätzung irren kann und wie allgemeingültig die Geschichte von Flüchtlingen ist: Der kleine Junge mit ...

Schon das Titelbild von Andreas Kosserts Buch "Flucht" zeigt, wie leicht sich der Leser bei der Einschätzung irren kann und wie allgemeingültig die Geschichte von Flüchtlingen ist: Der kleine Junge mit den kurzen Hosen, der auf zusammengeschnürten Gepäckstücken und Säcken hockt, ist nicht etwa ein Kind aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien im Jahr 1945, sondern ein junger Flüchtling "aus osteuropäischen Regionen" im Jahr 1949 - vielleicht aus der Westukraine oder der Wilnaer Gegend vor der Umsiedlung in die einstigen deutschen Ostgebiete, vielleicht ein Kind von "Displaced Persons", die nach dem Krieg in Deutschland feststeckten und entweder in ihre Heimatländer repatriiert wurden oder eine neue Zukunft in einem anderen Land suchten. Gemeinsam war und ist ihne: Sie sind entwurzelt, führen ein Leben im Wartestand, von den jeweils "Hiesigen", den Beheimateten oft misstrauisch beäugt, abgelehnt, angefeindet.

"Eine Menschheitsgeschichte" hat der Autor sein Buch im Untertitel genannt und es ist der große Verdienst Kosserts, dass er den Blick nicht, wie das in der Vergangenheit viele deutsche Historiker in den Fernsehdokumentationen zur besten Sendezeit gemacht haben, allein auf das Schicksal der 14 Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg richtet, sondern auf das davor und danach. Etwa die gewaltsamen Umsiedlungen durch die Nationalsozialisten in den von Deutschland besetzten Gebieten, aber auch die erzwungenen Bevölkerungsverschiebungen in den einstigen polnischen Ostgebieten.

Kossert hat am Deutschen Historischen Institut in Warschau gearbeitet, er schreibt für eine deutsche Leserschaft - insofern liegt durchaus ein Fokus auf dem Zwanzigsten Jahrhundert, auf Deutschland und seinen Nachbarstaaten. Doch stets werden Erfahrungen, Erinnerungen, Zitate von Flucht, von Unterwegssein und Ankommen anderer Flüchtling hinzugestellt, sei es von nordafrikanischen Juden, von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, von Griechen und Türken.

Oft ist der Verweis auf Autor und Jahr des Zitats nötig, so ähneln sich bei allen unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen, trotz unterschiedlicher Religionen, Sprachen und Ethnien die Gefühle, die zum Ausdruck kommen, wenn Menschen gezwungen sind, mit dem Allernötigsten, oft ohne Zeit zum Abschiednehmen, in eine ungewisse Zukunft aufbrechen müssen. Eben waren sie noch Einwohner, Nachbarn, Bauern oder örtliche Unternehmer. Und plötzlich sind sie nur noch Flüchtlinge, aus dem Alltag, aus der Sicherheit und aus allem Gewohnten gefallen.

Eine kleine, wiederkehrende Szene, die Flüchtlinge aus Palästina oder Ostpreußen, aus Kurdistan oder Kappadokien schildern, weckt Erinnerungen: Die Schlüssel der alten Wohnung, des einstigen Hauses, den viele Flüchtlinge mitnehmen, in der Hoffnung, dass es vielleicht doch mal ein Zurück gibt. Ein Schlüssel, wie er auch im Schrank meiner Großmutter lag und der an keine der Türen und Schränke passte. "Der ist von zu Hause", sagte sie. "Aus der alten Heimat." Eine neue hat sie, wie viele ihrer Generation, nie gefunden.

Wer selbst eine Familie mit Fluchtbiografie hat, wer die Erzählungen von Eltern oder Großeltern kennt oder selbst die Erfahrung gemacht hat, mit einem "anderen" Namen, der "falschen" religiösen Zugehörigkeit, der Herkunft der Familie an einem Ort, an dem man selbst geboren wurde, als nicht dazugehörig betrachtet zu werden, der kennt vieles von dem, was in "Flucht" geschildert wird. Kossert räumt mit den lange gepflegten Schilderungen von der großherzigen Aufnahme der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland auf, er zeigt die Sprachlosigkeit, mit oft traumatisierenden Erinnerungen umgehen zu müssen, schildert, dass ähnlich wie in Familien von Holocaust-Überlebenden auch in Familien von Flüchtlingen die nachgeborenen Generationen oft einen Teil des psychologischen Erbes der Familiengeschichte mit sich herumschleppen.

Ausführlich geht es auch um die Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber dem Schicksal entwurzelter Menschen. Die Willkommenskultur des Sommers 2015 - fünf Jahre später wissen wir, das war eine kurze Episode. Das Schicksal der Namenlosen, die Jahr für Jahr im Mittelmeer ertrinken, die Zustände in Moria oder in den Flüchtlingslagern in der Türkei kommen in den Sinn, wenn Kossert resümiert: "Flucht und Vertreibung als Geißel der Menschheit zu ächten, könnte bewirken, sie bereits im Entstehen zu unterbinden und ihre Ursachen zu bekämpfen, statt immer nur noch höhere Zäune und Mauern zu errichten. Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben. ... Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist. Sie verschieben die Sicht auf die Welt, weil sich mit jeder Fluchtgeschichte und jedem einzelnen Flüchtling die Frage stellt, wie fest wir wurzeln."

Veröffentlicht am 14.10.2020

Die unerzählte Geschichte Kanadas

Unter dem Nordlicht
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Kanada gilt ja als das freundliche Gesicht Nordamerikas - das Land mit der atemberaubenden Natur, den freundlichen Menschen, der Politik, die sich angenehm von dem Nachbarn südlich der Grenze unterscheidet. ...

Kanada gilt ja als das freundliche Gesicht Nordamerikas - das Land mit der atemberaubenden Natur, den freundlichen Menschen, der Politik, die sich angenehm von dem Nachbarn südlich der Grenze unterscheidet. Oder doch nicht? In seinem Buch "Unter dem Nordlicht" schildert der Schweizer Autor Manuel Menrath die dunkle Seite der kanadischen Geschichte.

In diesem Jahr sollte Kanada Partnerland der Frankfurter Buchmesse sein. Coronabedingt findet die Messe virtuell statt, der "richtige" Partnerauftritt wurde auf das kommende Jahr verschoben (toi, toi, toi!). Die Verlage planten ihre Neuerscheinungen zur Buchmesse allerdings langfristig, so dass es nicht verwunderlich ist, dass derzeit viel Literatur aus und über Kanada erscheint.

Sowohl in "Volkswagen-Blues" als auch in "Das weite Herz des Landes" ging es um Protagonisten mit indianischer oder teilweise indianischer Identität, im Fall von Richard Wagamese handelte es sich zudem um einen indigenen Autor. Gerade wer schon einmal in Westkanada war, hat in Städten wie Calgary oder Edmonton wohl Indianer gesehen - meist unter den Obdachlosen, und Alkohol- und Drogenabhängigen. Die Nachfahren der Menschen, die vor der Ankunft der europäischen Siedler das Land geprägt hatten, leben heute vielfach am Rande des Existenzminimums. Die Lage in den Reservaten ist keineswegs besser: Armut, Arbeitslosigkeit, hohe Selbstmordraten.

Und doch - wenn vom Umgang mit den indigenen Völkern die Rede war, schien Kanada nie so in Verruf zu geraten wie (wieder mal) der Nachbar USA mit seinen Indianerkriegen, mit einer Politik insbesondere gegen kämpferische Völker wie die Cheyenne und die Lakota, die heute nur als Völkermord eingeordnet werden können. Doch war es in Kanada wirklich besser? Menrath hat im Norden Ontarios recherchiert, mit Elders, spirituellen Führern, Politikern und ganz normalen Menschen in den indianischen Siedlungen gesprochen. Er erzählt die Geschichte der Cree und Ojibwe aus deren Perspektive, schildert ihre Kultur, die Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft.Und er erinnert an den "kulturellen Völkermord"

Denn in der Tat - bei Kindern, die ihren Familien entrissen, zwangsadoptiert oder in Internatsschulen brutal der eigenen Kultur entfremdet wurden, hatte ich zuvor immer an Australien und den Umgang mit den Aborigines gedacht. Dass die gleiche Politik auch in Kanada vorgenommen wurde, war mir bis dahin nicht bewusst gewesen. Dass die indigenen Völker nach wie vor keinen ernst zu nehmenden Anteil aus der Förderung von Bodenschätzen selbst aus den Reservaten erhalten, war mir bislang ebenso unklar.

Von diesen Erfahrungen zu lesen, ist bedrückend, ebenso wie von den Kindern und Jugendlichen, die sich angesichts vielfältiger Probleme das Leben nehmen. Zugleich zeigt das Buch inspirierende Beispiele vom Überleben indianischer Kultur und Spirtualität, ja von einer gewissen Renaissance. Das Verhältnis zum Land, zur Natur, zur eigenen Rolle als Teil, aber nicht als Herrscher oder Besitzer von Wäldern, Flüssen und Seen erklärt das Weltbild, das Cree und Ojibwe mit anderen indianischen Völkern teilen. Wenn heute angesichts von Raubbau an der Natur und Zerstörung von Ökosystemen die Zukunftsszenarien düster aussehen, lässt sich von Kanadas Indigenen viel lernen.