Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.10.2020

Der Riss in der Biografie

Ich an meiner Seite
0

Artur ist zwar erst 22, hat aber schon viel Erfahrung mit Scheitern. Der Protagonist von Birgit Birnbachers Roman "Ich an meiner Seite" hat wegen Internetbetrugs und Identitätdiebstahls eine Haftstrafe ...

Artur ist zwar erst 22, hat aber schon viel Erfahrung mit Scheitern. Der Protagonist von Birgit Birnbachers Roman "Ich an meiner Seite" hat wegen Internetbetrugs und Identitätdiebstahls eine Haftstrafe abgesessen - nun soll er wieder Fuß fassen. Die Resozialisierungsmaschinerie ist angelaufen - Wohngemeinschaft, Therapie, ein Forschungsprojekt und ein eher unorthodoxer Therapeut mit genügend eigenen Problemen.

Im Gefängnis wurde Artur nicht wirklich auf die "Zeit danach" vorbereitet, und mit familiärer Rückendeckung sieht es auch nicht gut aus: Der Vater hat die Familie verlassen, als Artur und sein älterer Bruder noch klein waren. Der zweite Mann der Mutter hat sich nicht wirklich mit seinen Stiefsöhnen befasst, überhaupt war das Paar so mit dem Hospiz beschäftigt, dass es nach seiner Auswanderung nach Andalusien aufgebaut hat,dass Artur sich meist selbst überlassen blieb, zumal sein Bruder als Jugendlicher zurück nach Österreich kehrte.

Als der junge Mann aus der Haft verlassen wird, wartet nur seine buchstäblich alte Freundin Grazetta, die er in eben jenem Hospiz kennengelernt hat - eine ehemalige Schauspielerin mit bewegter Vergangenheit und liebenswerter Exzentrik, unheilbar krank aber nicht bereit, so schnell vom Leben zu lassen. Mit ihren Pflegerinnen hat sie sich in einem Hotel einquartiert, um Artur wenigsten emotionalen Beistand leisten zu können.

Birnbacher lässt Artur lakonisch erzählen, mit Rückblenden in die Vergangenheit, die Kindheit in der Eisenbahnersiedlung,das Leben in Andalusien, die Dreiecksbeziehung mit zwei anderen Expat-Kids, die in einer Tragödie mündet. Artur geht zurück nach Österreich, mittellos, der Weg in die Kriminalität ist vielleicht nicht die logische Alternative, aber für ihn der einfachste Weg. Was genau ihm in der Haft zustieß wird nur angedeutet, doch ein Trauma schleppt er mit sich herum. Es war nicht nur Mobbing und Demütigung, was sich in seiner Viererzelle abspielte und von den JVA-Mitarbeitern wohl weitgehend ignoriert wurde.

Die Haftzeit ist nicht der einzige, aber der tiefste Riss, der sich durch Arturs Biografie zieht, und letzlich auch der Entscheidende: Schon die Suche nach einem Praktikumsplatz gerät zur Unmöglichkeit, wenn Artur die Zeit im Gefängnis zur Sprache bricht. Wäre ein geschönter, ein gefälschter Lebenslauf nicht naheliegend? Wird ein vermeintlich leichterer Weg Artur zurück in die Illegalität führen? Birnbacher (ver-)urteilt nicht, wenn sie ihren Protagonisten durch das Leben straucheln lässt, erspart dem Leser aber auch "Gutmensch-Prosa". Und auch Artur suhlt sich nicht in Selbstmitleid oder sucht Schuldige für seine Misere, wenn er versucht, wieder im Leben Fuss zu fassen. Nicht nur wegen der schillernden Nebenfiguren eine interessante Außenseiterstudie, empathisch und doch mit leichter Distanz geschrieben.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.10.2020

Fisch und mehr

Uri Buri - meine Küche
0

Ich muss gestehen, ich hatte vorher noch nie von Uri Buri gehört, der eigentlich mit bürgerlichem Namen Uri Jeremias heißt und DER Koch für Fisch und Meeresfrüchte in Israel sein soll. Eine kurze Internetrecherche ...

Ich muss gestehen, ich hatte vorher noch nie von Uri Buri gehört, der eigentlich mit bürgerlichem Namen Uri Jeremias heißt und DER Koch für Fisch und Meeresfrüchte in Israel sein soll. Eine kurze Internetrecherche ergab jedenfalls überschwängliches Lob für den Mann, der mit seinem wallenden weißen Bart ein wenig an einen rundlich geratenen Gandalf erinnert. Mit einem silberglänzenden Fisch in den Händen wird der Mann mit den schelmischen Augen auch auf der Titelseite von "Uri Buri - meine Küche" porträtiert.

Klar, dass es auf den fast 290 Seiten viel um Fisch geht - worauf man beim Kauf achten muss,wie man ihn optimal frisch hält, wie man ihn zubereitet und natürlich viele Rezepte. Zuerst aber steht der Menschen Uni im Vordergrund, seine Philosophie, sein Umgang mit Mitarbeitern und Gästen, seine Lebensfreude und sein positives Interesse an Menschen. Und schon einmal das macht dieses Buch zu einem Gewinn, denn - da kommt wieder die Parallele zu Gandalf - Uri strahlt Lebensweisheit aus. Die vielen Bilder von seinem Restaurant in Akko, von einer israelisch-arabischen Welt, die nicht von Konflikten, sondern von Nachbarschaft bestimmt wird zeigt jedenfalls: so kann es sein.

Der zweite Buchteil befasst sich dann weniger mit den inneren Werten als mit dem kulinarischen Talent, der Küchenphilosophie und dem, was der bärtige Koch auf den Tisch bringt. Ob gegrillt, gebacken, gedünstet - Fischrezepte sond natürlich reichtlich vertreten, zugleich wird dem Leser die Angst genommen, dass Fisch vielleicht doch ein bißchen heikel und kompliziert ist, jedenfalls, solange nicht einfach Fischstäbchen in eine Pfanne geknallt werden.

Nächste Überraschung: Das Buch enthält eine ganze Reihe spannend klingender Gerichte, die überhaupt keinen Fisch enthalten, sondern israelische oder mediterrane Klassiker sind, aber auch aus der aschkenasischen Tradition stammen. Auch wenn so manches nach Meer schmeckt, ist ein vielseitiger Mix von Rezepten zu finden, obendrein wunderschön und appettitanregend fotografiert. Da kommt einfach Lust zum ausprobieren und Nachkochen auf.

Veröffentlicht am 12.10.2020

Das große Schweigen

Ada
0

Sie ist zwar in Deutschland geboren, doch viele Erinnerungen hat Ada nicht, als sie mit ihrer Mutter aus Argentinien nach Berlin zurückkehrt. Der ihr als ihr Vater vorgestellte Mann ist für sie ein Fremder, ...

Sie ist zwar in Deutschland geboren, doch viele Erinnerungen hat Ada nicht, als sie mit ihrer Mutter aus Argentinien nach Berlin zurückkehrt. Der ihr als ihr Vater vorgestellte Mann ist für sie ein Fremder, fremd ist auch die Sprache, die Mentalität, der ganze Alltag. Auf diese Nachkriegskindheit blickt die Titelfigur von Christian Berkels Roman "Ada" als erwachsene Frau zurück, die Mauer ist gerade gefallen, doch sie selbst steckt gerade in einer Sinn- und Lebenskrise, erzählt einem Psychiater aus ihrem Leben.

Als kleines Kind wollte Ada lange nicht sprechen, in Deutschland ist sie von Schweigen umgeben, wie viele ihrer Generation, die lange nicht einmal wissen, welche Fragen sie eigentlich stellen sollen. Es ist das Leben, die Generation "nach der Sintflut". Die jüngste Vergangenheit ist tabu, als Ada zum ersten Mal von einer Mitschülerin den Namen Hitler hört, kann sie sich nichts darunter vorstellen. Dabei geht es in ihrer Familie nicht einmal um verdrängte Schuld, die man am liebsten vergessen will: Adas Mutter Sala ist Jüdin, auch wenn sie nichts von ihrem Glauben und ihrer Identität an Ada und deren Bruder weitervermittelt. Die unbekannte Großmutter kämpfte als Anarchistin gegen Franco, saß in der Todeszelle, der bisexuelle geliebte Großvater Jean war wegen Homosexualität im Konzentrationslager.

Ada erfährt vieles davon erst spät - von einer Tante in Paris, die sie mit zu ihrer ersten Bar Mizwah nimmt, von der Freundin ihrer Mutter, die bei allen Familienkrisen tatkräftig hilft. Nicht nur bei den Täterfamilien wird geschwiegen. Diese Zeit der Verdrängens und Schweigens, der Prüderie und der vielen Tabus zeichnet Berkel in einer oft bedrückenden Atmosphäre. Hinzu kommt bei Ada, aber auch bei ihrer Mutter, das Gefühl der Entwurzelung. Ada weiß lange nicht, in welchem Land sie sich zu Hause fühlen soll, fühlt sich zudem als Kuckuckskind - ist ihr Vater gar nicht ihr biologischer Vater? Sala hingegen ist ruhelos, getrieben, muss aufbrechen. Geht sie wirklich zu einem letzten Abschied nach Buenas Aires, oder geht sie zu dem anderen Mann nach Paris? Darüber grübelt nicht nur Ada.

Erste seuxelle Erfahrungen ohne jeglicheAufklärung, festgefahrene Geschlechterverhältnisse und schließlich die Aufbruchsstimmung der 60-er Jahre prägen die zweite Hälfte des Romans. Das Rolling Stones-Konzert im Waldstadion, erste Drogenerfahrungen, ein Hauch von Revolution, und Ada ist mittendrin. Dass aber auch in den angeblich progressiven Wohngemeinschaften das Kloputzen Frauensache sein soll, will sie aber nicht einsehen. Der Tod von Benno Ohnesorg ist ein einschneidendes Erlebnis, in Paris erlebt Ada die Eleganz des Modeateliers ihrer Tante, die jüdische Welt des Marais, die dortige Revolte, doch letztlich bleibt sie eine Suchende, Aufbrechende.

Als Zeitgemälde ist "Ada" stimmig,. Bemerkenswert gut kann Berkel seine innere Frau aktivieren und mit Ada eine glaubwürdige Frauenfigur schaffen. Nur am Ende, beim Sprung von den 60-erm in die Gegenwart, verliert das Buch an Stringenz - die Entfremdung Adas und ihrer Familie, die sich einmal mehr in jahrelangem Schweigen ausdrückt, ist schwer nachvollziehbar, die Entwicklung der erwachsenen Frau zu schnell abgehakt, die Auslöser ihrer Lebenskrise bleiben offen - da fehlt die verbindende Klammer zwischen den 50-er und 60-er Jahren und der Zeit nach 1989, hier hätte ich gerne noch einige Lücken aus der Biografie von Ada gefüllt gesehen. Als Familien- und Gesellschaftspsychogramm der frühen Bundesrepublik zwischen Wirtschaftswunder, 68-erGeneration und dem großen Schweigen statt einer echten Vergangenheitsbewältigung spannend zu lesen

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.10.2020

Schmelzende Eisberge und Klimakrise

Das Eis schmilzt
1

Als Polarforscher hat Arved Fuchs im Laufe der Jahrzehnte Einblicke in die Auswirkungen der Erdregionen erhalten, zu denen die meisten Menschen niemals Zugang haben werden. Zwar ist das Foto des verhungernden ...

Als Polarforscher hat Arved Fuchs im Laufe der Jahrzehnte Einblicke in die Auswirkungen der Erdregionen erhalten, zu denen die meisten Menschen niemals Zugang haben werden. Zwar ist das Foto des verhungernden Eisbären auf einer abgebrochenen Eisscholle viral als Symbol für die Erwärmung der Polargebiete geworden - doch wenn Forschungsschiffe plötzlich problemlos Gebiete durchschiffen können, in denen noch wenige Jahre zuvor noch dichtes Packeis einen Wettlauf mit der Zeit zur Durchquerung der Passage machte, dann zeigt sich der Klimawandel mit einer noch ganz anderen Deutlichkeit als in den Extremwetterereignissen in unseren Breitengraden, den immer heißeren Sommern.

Mit seinem Buch "Das Eis schmilzt" hat Arved Fuchs seine Forderungen nach neuem Denken bei Klimaschutz und Wirtschaft in eine auch für Nicht-Wissenschaftler leicht verständliche Form gebracht, die auch Menschen ohne viel Hintergrundwissen nicht überfrachtet. Mit zahlreichen Bildern sowohl von seinen Forschungsreisen und den großartigen Natureindrücken wie auch von den schockierenden Eingriffen der Menschen - als Beispiel seien die teils giftigen Müllhalden ehemaliger amerikanischer Militärbasen auf Grönland genannt - beeindruckt das Buch auch optisch.

Dabei beschränkt sich Fuchs nicht auf die Entwicklung in den Polar- oder Permafrostregionen, sondern er schildert den globalen Zusammenhang der Klimakrise - die Rolle der Industriestaaten bei den Emissionen von Kohlendioxid oder bei der Überfischung der Meere, die Zerstörung der Lebensgrundlagen bei Menschen im gloalen Süden, die zu immer mehr Klimaflüchtlingen führen, die auch in Europa eine Perspektive suchen - nicht aus Abenteuerlust, sondern aus schierer Not. Und er kritisiert die Gleichgültigkeit angesichts des Sterbens im Mittelmeer, erinnert an die Aufmerksamkeit und Ressourcen, die etwa das in Seenot geratene norwegische Kreuzfahrtschiff "Viking Sky" im vergangenen Jahr erhielt. Aber da waren ja auch finanzstarke europäische Passagiere an Bord, die es zu retten galt.

Ob Plastik in den Meeren oder Energiekrise, Zaudern der Industriestaaten und die Forderungen der Fridays for Future-Bewegung, Artensterben und Nahrungsketten - Fuchs erinnert, dass es viele Zusammenhänge zu berücksichtigen gilt. Und er stellt aktuelle Zusammenhänge beim Glauben an die angebliche Beherrschbarkeit der Klimakrise her: "Die Coronakrise lehrt uns, dass wir nicht so unverwundbar und omnipotent sind, wie wir glauben". Oder: "Die Coronakrise wird irgendwann vorbei sein - der Klimawandel hingegen ist irreversibel."

In seinem Buch plädiert Fuchs für eine wirkliche Energiewende, nennt Beispiele und verweist auf best practice-Erfahrungen. Und vielleicht, so hofft er, könnte gerade die Coronakrise einen positiven Impuls liefern - nämlich, wenn die Konjunkturprogramme nach der Pandemie in Deutschland und Europa dazu dienen, der Wirtschaft eine Neuausrichtung zu ermöglichen und Zukunftstechnologien den benötigten Anschub zu geben.

Veröffentlicht am 10.10.2020

Vielseitiges kulinarisches Erbe - Kochen wie in Israel

Kochen wie in Israel
0

Auch wenn beim Gedanken an die Restaurants von Tel Aviv sicherlich erst einmal Shakshuka, Hummus und Falafel auf der mentalen Speisekarte auftauchen - DIE israelische Küche ist schwet abzustecken angesichts ...

Auch wenn beim Gedanken an die Restaurants von Tel Aviv sicherlich erst einmal Shakshuka, Hummus und Falafel auf der mentalen Speisekarte auftauchen - DIE israelische Küche ist schwet abzustecken angesichts der Vielzahl kulinarischer Traditionen. Denn Israel liegt zwar am Mittelmeer und teilt so manche kulinarische Vorliebe mit den Nachbarn - Hummus und Falafel mögen eines der einigenden Elemente über alle Teilungen undFeindschaften des Nahost-Konflikts hinweg sein - aber 2000 Jahre jüdischen Lebens in der Diaspora haben ihre Spuren hinterlassen, auch wenn es um die überlieferten Rezepte geht.

Klar, die sephardische Tradition aus Nordafrika und der spanischen Halbinsel hat viele Gemeinsamkeiten mit der Mittelmeerküche und den Rezepten der Levante. Aber die aschkenasische Kochtraditon - Rugelach! Babka! Latkes! - ist geprägt vom Leben in Mittel- und Osteuropa, mit seinem anderen Klima, seinen anderen Lebensmitteln. Und auch wenn bei weitem nicht jeder Israeli koscher lebt und sich an die religiösen Speisege- und verbote hält, dürfte die Trennung von "milchig" und "fleischig" in der Kochtradition weiter eine gewisse Rolle spielen - und sei es nur mit vegetarischen Gerichten, die ja jenseits aller Religion voll im Trend liegen.

Mit "Kochen wie in Israel" hat die in Berlin lebende Israelin Stav Cohen einen Teil der Rezepte ihrer Oma aufgegriffen, stellt aber -zusammen mit Besuchtipps und mus-see-Orten in Israel die Trends der Food-Szene zwischen Tel Aviv und Jerusalem vor.

Gleich am Anfang kommt das, was für mich zum besten der Küche in der Region gehört, nämlich Mezze. Hummus darf da natürlich nicht fehlen, Gurke-Minze-Yoghurt, wie man ihn auch aus der türkisch-griechischen Küche kennt, Harissa wie aus Tunesien, Paprikacreme und Muhammara. All die leckern Dips und kleinen Salate eben, die sich mit einem Stück Pita-Brot (für das es ebenfalls ein Rezept gibt) so gut stippen lassen.

Und auch bei den Hauptgerichten muss Hummus nicht fehlen - etwa warmer Hummus mit Lamm. Dass es nicht immer nur Taboule sein muss, beweisen der Thunfisch mit Quinoa-Salat oder der Röst-Couscous mit Garnelen. Und auch die vegetarischen Gerichte können sich sehen lassen, das satt machende Soul Food Mejadra oder die Latkes-Variante mit Petersilienwurzel - es muss eben nicht immer (nur) Kartoffel sein. Auch der Ofenkürbis mit Koriandersoße als herbstliche Bereicherung des Küchenplans klingt vielversprechend..

Abgerundet wird "Kochen wie in Israel" mit Desserts, bei denen mich vor allem die Mohn-Babka lockt. Das klingt doch wie von einer Galitzyaner oder Litvak-Bubbe übernommen und erinnert mich an ähnlich liebevoll gehütete polnische Familienrezept.