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Veröffentlicht am 15.09.2016

Die volle Ladung Sauerstoff

Der Junge muss an die frische Luft
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Eine Persönlichkeit, das ist nicht gleich eine Person. Das sind alle Personen und alle Orte und jede Luft, die man im Leben jemals aufgesogen hat. Hape Kerkeling würden viele Leute als die Persönlichkeit ...

Eine Persönlichkeit, das ist nicht gleich eine Person. Das sind alle Personen und alle Orte und jede Luft, die man im Leben jemals aufgesogen hat. Hape Kerkeling würden viele Leute als die Persönlichkeit schlechthin bezeichnet. In seinem neuen Buch erklärt der Entertainer, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt ist.

Nach dem riesigen und berechtigten Erfolg des - man könnte es folgendermaßen nennen - Pilgertagebuches Ich bin dann mal weg, welches nicht zuletzt auch in mir den dringenden Wunsch nach Jakobsmuscheln weckte, handelt es sich bei dem neuesten Werk um ein noch persönlicheres, um ein noch bewegenderes.
Die Reise nach Santiago de Compostela hinterließ Sympathie und Wohlwollen von allen Seiten, die vorliegende Schilderung intimster Anekdoten und Tragödien hingegen verdient zudem größten Respekt. Ich will im Grunde nicht allzu sehr in Bildern sprechen, aber man kann in der Tat behaupten: Dermaßen nackt hat man Hape Kerkeling noch nie gesehen.

Die literarische Qualität halte ich für vollkommen angemessen. Kerkeling ist kein hauptberuflicher Autor, er ist vor allem Entertainer. Nach der Lektüre will ich sogar behaupten, dass er schlicht und ergreifend auf menschlicher, weniger auf literarischer Mission ist. Dazu kann eine eigene Erfahrung kaum literarisch sein, denn literarisch, das heißt manchmal unecht.
Somit handelt es sich hier nicht um nobelpreisverdächtige Kunst im Sinne der Wissenschaft. Es finden sich tatsächlich einige durchaus poetisch anmutende Stellen, die mir glockenhell, aber keineswegs tinnitusartig in den Ohren klangen. Dann aber wiederholen sich Phrasen hier und da, manch ein Dialog hätte noch weiter ausgebaut werden können (aber auch, weil ein Kind, dem Schokolade angeboten wird, nicht mit einem einzigen Riegel zufrieden ist). Insgesamt eine ausgeglichene Leistung.
Geschrieben wird einfach, wie der Schreiber ist, und das macht das Geschriebene umso sympathischer.

Außerdem würde einer Geschichte, die der Untermalung willen ausgeschmückt wurde, Maßgebliches fehlen: Authentizität; jene, die ich besonders an dem Jungen, der an die frische Luft muss, bewundere. Sie zeichnet auch jede einzelne Figur aus, die einem hier mehr oder weniger über den Weg laufen. Häufig meint man, bekannte Gesichter aus seiner Familie in ihnen zu erkennen; spezielle Rollen in der Verwandtschaft gibt es, die werden stets von derselben Art Familienmitglied besetzt, obwohl es niemandem zu gleichen scheint.
Als herausragende Eigenschaft veranschaulicht eine unverblümte Ehrlichkeit dem Leser, dass der Publikumsliebling zwar für ebendieses (das Publikum) geschrieben hat; sei es, um ihm Mut zu machen, Verständnis zu erzeugen, auch zur Unterstützung Kranker und als Hommage an die Menschen, die ihn geprägt haben - jedoch vermute ich auch, dass er das Buch zu keinem geringen Anteil ebenso für sich selbst geschrieben hat. Ein von-der-Seele-Schreiben, ein sich-selbst-Verdeutlichen. Gewissermaßen ein sein-Leben-vor-sich-Ausbreiten.

Lustig sein ist eine seelische Bereicherung (und das sage ich, obwohl ich gar nicht lustig bin). Auf bemerkenswerte Art bekräftigt der Autor seine innige Liebe zum menschlichen Humor, die beim Lesen regelrecht Lebenslust verbreitet und glücklich macht.
Nicht zu missachten ist auch folgende Botschaft an den Leser, etwas, das zumindest ich von Hape gelernt habe: dass ein Mensch, der zur öffentlichen Person gemacht wird, noch immer ein Mensch ist. Mit einer einzigartigen Geschichte, die nur eben diesem Menschen gehört. Jedermanns Geschichte kann erzählt werden und bleibt doch Eigentum dessen, der sie erlebt hat.

Direkt zu Anfang lachte ich, bis meine Sitznachbarn in der Bahn am liebsten den Platz gewechselt hätten. Nicht lang darauf weinte ich, als klebten frische Zwiebelscheiben zwischen den Buchseiten.
Das ist es doch, worum es beim Lesen geht. Geschüttelt werden, und gerührt. Das schafft nicht einmal jeder fiktive Roman, gar nicht erst von Sachbüchern anzufangen, von arroganten Autobiographien selbsternannter Gandalfs. Mit diesem Buch beschenkt Hape Kerkeling sich selbst und die Welt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Von Männern, die nicht wissen, dass sie kahl werden

Von Männern, die keine Frauen haben
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Letztens habe ich in diesem Buch gelesen, während einer Vorlesung, und mir die Frage gestellt: Was für Probleme müssen Männer haben, die frauenlos sind?

Mein Blick wanderte über die vorderen Reihen, von ...

Letztens habe ich in diesem Buch gelesen, während einer Vorlesung, und mir die Frage gestellt: Was für Probleme müssen Männer haben, die frauenlos sind?

Mein Blick wanderte über die vorderen Reihen, von Hinterkopf zu Hinterkopf. Viele maskuline Hinterköpfe beginnen bereits, licht zu werden. Fast schon richtige Glatzen, finde ich, ohne, dass die Kopfbesitzer es auch nur erahnen. Sie haben ja keine Frau, die sie von hinten sehen und darauf aufmerksam machen können. Aber ist das ein Problem, oder ein Umstand, von dem man möglichst lange nichts wissen möchte?

In wenigen Tagen wird Murakami der "Welt"-Literaturpreis 2014 verliehen, nicht nur dafür, dass er ebenso über Haarlosigkeit philosophieren kann, wie ich. Er kann, was man als guter Autor können muss: Welten erschaffen. Das macht er dann auf eine Weise, als sei er der literarische Salvador Dalí unserer Zeit.
Von Männern, die keine Frauen haben: Das klingt ja eher real, weniger surreal. Alltäglich sogar. Das sind beinahe die meisten der Geschichten. Sie handeln von Männern, die es so höchstwahrscheinlich auch gibt. Man liest, dann schaut man sich den Nachbarn an, der sein Bier stets einsam trinkt und nur zu duschen scheint, wenn es unbedingt nötig ist. Egal, wann oder wobei man ihn sieht. Dieser Mensch ist plötzlich ein Spiegel in eine andere Welt. Murakami macht's möglich, aber ich entschuldige mich hiermit bei all den Männern, die auch frauenlos wunderbar funktionieren. Metaphern leben nun einmal von Klischees.

Jede Geschichte ist geheimnisvoll. Man munkelt und will wissen, wie viel von dem beliebten Autor in den Figuren stecken mag, und, wenn überhaupt, welch seltsame, teils erschreckende Erfahrungen der arme Kerl schon gemacht haben muss. Immerhin, umso besser für den Interessantheitsgrad der Handlungen.
Der für ihn typische, düstere Surrealismus ist präsent, sodass ein geübter Murakami-Gernleser nicht von diesem Werk enttäuscht sein kann.

Dass die deutsche Version noch vor der englischen publiziert wurde, passt jedoch zu dem einzig negativen Punkt, der mich allerdings nur zu Beginn störte. Die Übersetzung wirkt gewissermaßen gehetzt, es wurde zunächst wenig auf einen abwechslungsreichen Wortschatz geachtet, viele Worte wiederholen sich. So, dass man ein Trinkspiel daraus machen könnte. Das gibt sich jedoch, man muss sich nicht einmal sonderlich dran gewöhnen. (Betrunken ist man dann trotzdem schon. Oder fühlt sich Murakamis Schreibstil wie Betrunkenheit an? Wenn ich so darüber nachdenke, ja.)

Anscheinend wurde die Gelegenheit genutzt, mal eben auch der Literatur, dem Schreiben an sich und Vorbildern zu huldigen. Der Titel bezieht sich auf Hemingways Men Without Women.

Bemerkenswert ist diesbezüglich auch die Geschichte Samsa in Love, eine Umkehrung der berühmten Kafka-Erzählung Die Verwandlung: Hier verwandelt sich nicht Gregor Samsa in einen Käfer, sondern ein Käfer in Samsa. Wie würde sich ein Insekt fühlen, wenn es plötzlich mit den schrägen sexuellen Instinkten eines menschlichen Mannes konfrontiert würde? Liebe ist eine seltsame Angelegenheit, soll das heißen.
Hinter all dem Alltäglichen, dem Gewohnten der Gefühle und des Körperlichen steckt stets etwas, das Lächerlich ist oder zumindest unbegreiflich. Immer neu. Vor allem kann der Schlag einen auch treffen, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht (oder gerade dann). Die wahren Probleme und Interessen der Menschheit sind geschlechtlichen Ursprungs, könnte man meinen.
Gleichzeitig ist es möglich, dass es sich hierbei einfach um eine faszinierende Geschichte der Faszination willen handelt. Die Interpretationen gefallen mir trotzdem.

[Seite 30] „Der zwischenmenschliche Umgang, besonders der zwischen Mann und Frau ist - wie soll ich sagen? - zu komplex. Verschwommen, selbstsüchtig, schmerzhaft.“

Dieses Buch ist Futter, wie ein nicht sättigendes, eher Lust auf mehr machendes Menü aus sieben Gängen. Ein bisschen Liebe zur Literatur, ein bisschen Liebe zu Frauen, ein bisschen Liebe zum Seltsamen, ein bisschen Liebe zur Liebe.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein Federkleid aus Charme und Farben

Der Pfau
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In einem beschaulichen Tal mitten im Winter macht eine Gruppe, bestehend aus Bankern, einer Köchin und einer Psychologin, sich auf, einen gewissen Teamgeist zu stärken. Was ein durchgeknallter Pfau schließlich ...

In einem beschaulichen Tal mitten im Winter macht eine Gruppe, bestehend aus Bankern, einer Köchin und einer Psychologin, sich auf, einen gewissen Teamgeist zu stärken. Was ein durchgeknallter Pfau schließlich in Gang setzt, mag ein Sozialisationsprozess sein: Zu lernen, Misstrauen und Scham in einen dicken Mantel aus Höflich- und Freundlichkeit zu kleiden.

Es macht so viel Spaß, Bücher zu rezensieren, die man unterirdisch schlecht gefunden hat, denn das gibt einem den seltenen Anlass, sich mal richtig auszulassen und zu schimpfen und zu meckern. Romane gefallen einem aus den unterschiedlichsten Gründen nicht; wenn sie es aber doch tun, dann meist auf eine sehr ähnliche Weise, je nach Geschmack. So empfinde ich das Ganze, andere mögen anders denken, ist ja klar. Der Pfau gehört in die Kategorie ebendieser Romane, die ich gut finde.

Isabel Bogdan erzählt so leicht und frisch, wie man es eigentlich nur von englischsprachigen Romanen kennt, die ins Deutsche übersetzt wurden. Unverschnörkelt und schlicht, von genau der richtigen Kürze, durch die weder zu viel, noch zu wenig verraten wird. Wie macht sie das, zum Teufel?
Ich kann mir allerdings vorstellen, dass gerade diese Schlichtheit, wenn man nicht gerade ein Fan von ihr ist, wie Monotonie wirken kann. Ansichtssache.

Ich bin begeistert von den Figuren, die zunächst vollends in Klischees zu passen scheinen, die man mit der Zeit jedoch allesamt zu mögen beginnt – so liebevoll und ironisch, wie sie dem Leser nähergebracht werden, kein Wunder. Wie den Pfau die Eitelkeit ans Ende treibt, so nützt auch den Menschen diese gar nicht; ist das Federkleid einmal verblasst oder auch gänzlich abgelegt, treten Wesen zu Tage, wie sie wirklich sind. Oder zumindest nahe daran.
Sogar dem Hund wird erzählerisch Anerkennung gezollt, das finde ich unglaublich sympathisch.

Die Handlung ist auf ihre ganz eigene Art spannend, weil Irrungen, Wirrungen und Verworrenheit auch banale Situationen dramatisch aufbauschen. Davon wäre ich normalerweise genervt, hier schaffen es der Charme und die Komik des theatermäßigen Schauspiels, mich in ihren Bann zu ziehen. Die Kürze macht die Würze: Einhundert Seiten mehr und das Ganze hätte albern gewirkt. Die Autorin ist offenbar Meisterin der pointierten Unterhaltung.

Der Pfau gehört in die Kategorie der Bücher, die ich gut finde, und besticht doch durch Eigenarten. Wie die Figuren.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Von der Liebe einer Mutter

Remember Mia
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Wer Estelle mit ihrem Baby begegnet, widersteht selten dem Drang, die Augen zu verdrehen und sich die Ohren zuzuhalten. Mia schreit und schreit, ungehindert, ein beinahe dämonisches Kreischen, wenn man ...

Wer Estelle mit ihrem Baby begegnet, widersteht selten dem Drang, die Augen zu verdrehen und sich die Ohren zuzuhalten. Mia schreit und schreit, ungehindert, ein beinahe dämonisches Kreischen, wenn man so will. Schnell kommt man zu dem Schluss, das Paradebeispiel einer schlechten Mutter vor sich zu haben. Wenn das Baby nun spurlos verschwindet und Estelle, scheinbar ohne jegliche Erinnerung, es der Polizei nicht gemeldet, sondern die Beweismittel beseitigt hat? Wenn man ihr das Irre schon an den Augen ablesen kann und sie in einer Schlucht gefunden wird, offensichtlich, weil sie sich das Leben nehmen wollte? Wer hielte sie dann nicht für die kaltblütige Mörderin ihres eigenen Kindes – zumal sie sich selbst nicht ganz sicher ist...

Was ist mit Mia passiert? Vordergründig beschäftigt sich die Geschichte mit der Klärung dieser Frage. Aber vielmehr noch geht es um den Prozess des Erinnerns. Und ganz besonders darum, dass eine Mutter lernt, die eigene Verantwortung nicht in Form von grenzenloser Schuld auf den Schultern mit sich herumzutragen. Um Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in andere. Letztlich auch darum, Probleme und Anliegen anderer mit der nötigen Anerkennung und einem selbstverständlichen Respekt gegenüberzutreten: so verrückt sie auch scheinen.

Spannung wird hier sehr allmählich aufgebaut, mit so viel Vor- und Nachbereitung, dass der Weg zum Maximum und wieder hinunter etwas zäh ist. Man stelle sich jedoch den Mount Everest vor, da ist es ja genau dasselbe. Der Blick von ganz oben ist es, weshalb man erst raufgestiegen ist. Seinetwegen lohnt sich die Mühe. Der Berg "Remember Mia" ist allerdings nicht ganz so hoch (das wäre wohl allzu gigantisch).
Deshalb bin ich erleichtert, dass – obwohl es noch möglich gewesen wäre – nicht weitere Hintergründe, ein Epilog, Perspektivwechsel, hinzugekommen sind. Das hätte die Handlung wirklich trüb werden lassen und meinen persönlichen Vorstellungen von einem Thriller nicht mehr
entsprochen.

Die Figuren sind schlüssig und mehr oder weniger detailliert ausgearbeitet, je nach Relevanz der Person für die Geschichte. Man verliert nie ganz das Misstrauen gegenüber Estelle, ebenso wenig wie sie selbst, was ich genial finde. Das liegt daran, dass man sie nie allzu genau kennenlernt. Wer weiß, vielleicht verbirgt sich doch ein Psychokiller hinter der hilflosen Fassade einer überforderten Frau? Ein Gedanke, den die Autorin geschickt aufrechtzuerhalten weiß.

Die Sprache ist einfach und schnörkellos. So überlässt sie größtenteils der Handlung das Feld, wenn es um Tiefe und Interpretationen geht. Vor jedem der vier Teile, in die der Text grob gegliedert ist, werden jedoch Zitate von Lewis Carroll aufgeführt; aus den Werken "Alice im Wunderland" und "Durch den Spiegel". So bleibt der Phantasie zumindest ein kleiner Spielraum, metaphorische Parallelen zu finden, oder sich mit der Erinnerung, Verrücktheit, Vorstellungskraft an sich auseinanderzusetzen.

Die grausige Darstellung von Mias Geschrei wirkte zunächst wie eine Aufforderung, sich niemals Kinder anzuschaffen (wobei mein Wortlaut wirkt, als spräche ich von einem Hund oder einer Kommode). Es wird aber zügig klar, dass genau das Gegenteil angestrebt worden ist: Eine Hommage an das Muttersein, an die grenzenlose Liebe, die nur Mütter empfinden können.

Insgesamt ein wirklich gelungener Thriller, wobei der Höhepunkt der Spannung der Vorbereitung und dem Abflauen derselben nicht hundertprozentig gerecht geworden ist. Da kann man es wohl keinem gerecht machen, denn während ich mir möglichst viel Interpretationsspielraum wünsche, bevorzugen andere es, jedes Detail, jeden Werdegang so zu erfahren, wie es sich die Autorin (oder der Autor, allgemeiner formuliert) selbst vorstellt. Insofern wurde ein solides Mittelding gefunden.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Nicht unbedingt unvergesslich, aber auch nicht übel.

Einfach unvergesslich
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Claire findet, dass sie im Grunde zu alt ist für ihren Ehemann Greg. Sogar Caitlin, ihre Tochter, meint, es wäre logischer, wenn sie selbst mit ihm eine Beziehung führte - nicht, dass sie es so wollte. ...

Claire findet, dass sie im Grunde zu alt ist für ihren Ehemann Greg. Sogar Caitlin, ihre Tochter, meint, es wäre logischer, wenn sie selbst mit ihm eine Beziehung führte - nicht, dass sie es so wollte. Niemals. Aber theoretisch?
Nun ist es vollkommen egal, wofür Claire zu alt ist. Für eines ist sie unumstritten zu jung: Alzheimer. Der Nebel, der sich in ihrem Geist ausbreitet, ein ihr verhasster, dicker Nebel, findet das ganz und gar nicht.

Ein weiterer Roman über die Tücken des Vergessens.

Alzheimer lässt uns alle schaudern, egal, ob wir bereits Umgang mit Patienten hatten, jemand Betroffenes in der Familie, oder ob wir uns einfach vorstellen: Was wäre, wenn?

Insofern lässt sich trocken behaupten, dass dieses Thema für eine Geschichte, die unter die Haut gehen soll, schon einmal die beste Grundlage bietet. Geht immer. Und ist auch immer irgendwie faszinierend. Inwieweit die geschilderten medizinischen Umstände der Wahrheit entsprechen, kann ich als Laie kaum beantworten. Für mich klang das alles ganz glaubwürdig. Aber wie soll ich das objektiv bewerten? Immerhin haben sogar mir die Tränendrüsen gejuckt.

Eine sehr einfache, flüssige Sprache mit einem bisschen "hyper" und "mega" zeichnet den Roman wie ein Jugendbuch aus. (Nein, nicht wie schlechte Techno-Töne.) Dadurch werden Perspektivwechsel zwar gestützt und angereichert, der Gesamtanspruch liegt jedoch somit lediglich bei dem Thema der Demenz, weniger bei der literarischen Darstellung. Im Grunde lernt man über Demenz auch kaum etwas. Muss man das denn? Das kann man so oder so sehen. Die aufgebauten Emotionen gehen hier jedenfalls ganz unverblümt auf den Leser über, zugleich mutet die Atmosphäre so typisch und alltäglich an, dass man sich umso besser in die Rolle der Protagonisten hineinversetzen kann. Das ist für einen Roman, der von den (unterdrückten) Tränchen der Leser lebt, entscheidend. Außerdem denkt ein Mensch, dessen Geist dem Verfall unterliegt, zunehmend einfacher. Bei Claire ist es sogar so, dass sie sich in ihre Jugendzeit zurückversetzt fühlt und sich an frische Liebe klammert, vom Simpelsten lebt und überlebt. Sie weist immer mehr Parallelen zu ihren beiden Töchtern auf.

Wenn nun aus Caitlins Sicht erzählt wird, die typische Mädchen-Jugendbuch-Probleme hat, und dann aus der Sicht ihrer kranken Mutter, die nun ebensolche Probleme zu haben denkt, sind die Perspektiven und Erinnerungen von Oma Ruth und Greg frischer Wind. Irgendwie erwachsene Luftbläschen. Die Autorin schafft hier einen wirklich notwendigen Ausgleich.

Was das Ende angeht, von dem hier nichts verraten wird: Ich halte es für einen Hauch in die Länge gezogen. Als ich den "Das war's"-Moment hatte, diesen Seufzer, auf den normalerweise ein Buchzuklappen folgt, ging es noch weiter. Aber das ist nicht weiter wichtig, wenn man bedenkt, dass womöglich andere Leser diesen seltsamen "Das war's"-Moment genau dann haben, wenn es das auch wirklich war. Ich mag es nur nicht, wenn man sich an einem Punkt alle möglichen bisher offenen Fragen selber beantworten kann und dann trotzdem eine Erklärung auf alles folgt. Es sei denn, es handelt sich um einen Krimi, denn da liege ich meistens falsch.

Was diesen Roman vor allem ausmacht, ist nicht die Tragik seines Krankheitsthemas. Vielmehr scheint er eine Hommage an Liebe und Familienverbundenheit zu sein. Coleman schreibt über die eigentümliche Liebenswürdigkeit von Frauen in verschiedenen Generationen; dass sie einander ebenso ähneln wie sie sich unterscheiden, und dass eben hier die Quelle des starken Zusammenhalts liegt, stärker sogar als unüberwindbare Schicksalsschläge. All das bewerkstelligt Rowan Coleman hier mit einem zarten Humor insgesamt wunderbar - da darf die Sprache ruhig etwas einfacher sein.