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Veröffentlicht am 23.10.2020

Zeitportrait und Familiengeschichte

Bis wieder einer weint
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Die Aussage «Bis wieder einer weint» ist wahrscheinlich kaum jemandem fremd.
Jeder Erwachsene wird diese Warnung wohl schon gehört oder ausgesprochen haben, die sich darauf bezieht, dass albernes Herumtoben ...

Die Aussage «Bis wieder einer weint» ist wahrscheinlich kaum jemandem fremd.
Jeder Erwachsene wird diese Warnung wohl schon gehört oder ausgesprochen haben, die sich darauf bezieht, dass albernes Herumtoben von Kindern plötzlich bitterernst wird und in Streit oder Weinen umschlägt.
Diese Aussage zum Titel zu machen, ist originell und macht neugierig.
Was wird hier kippen? Und warum?

Der Roman, gleichermaßen westdeutsche Familiengeschichte wie Gesellschaftsportrait, der laut Autorin autobiografisch gefärbt ist, beginnt in der Adenauerzeit und dauert bis in die frühen 1990-er Jahre an.

Kurz und knapp gesagt geht es in dieser kurzweiligen, fesselnden und berührenden Geschichte, die chronologisch und mit gekonnten Zeitsprüngen erzählt wird, um Aufstieg und Fall der Rautenberg-Dynastie, einer Unternehmerfamilie aus dem Ruhrgebiet, in der Nachkriegszeit.

Nun etwas ausführlicher:
Die schöne 17-jährige Arzttochter Inga und der stattliche, um 12 Jahre ältere Dressurreiter und erfolgreiche Geschäftsmann Wilhelm werden ein Paar.
Nach außen hin scheint alles perfekt. Finanzieller Reichtum, materielle Fülle, eine schöne Frau, ein ansehnlicher, erfolgreicher und wohlhabender Mann, eine sechsjährige Tochter.
Aber die Schattenseite des Lebens macht vor diesem sonnigen und schillernden Bild nicht Halt:
Kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter Suse stirbt Inga 1971 an Leukämie.
Während Asta, das ältere Mädchen bei ihrem Vater Wilhelm bleibt, wächst die kleine Suse bis zu ihrer Einschulung bei den Großeltern mütterlicherseits auf.
Erst dann holt der Vater auch seine jüngere Tochter zu sich und der großen Schwester nach Hause.
Für Suse, die ihre Großmutter innig liebt, bricht eine Welt zusammen, zumal sie jetzt auch noch mit der lieblosen Großmutter Marianne, der Mutter ihres Vaters, zurechtkommen muss.

Die heimlich ausgelebte Homosexualität von Wilhelm und die Verhaltensauffälligkeit von Suse, die zur Außenseiterin wird, erleichtern das familiäre Zusammenleben nicht.
Nach und nach geht es bergab.
Der äußere Schein kann nicht mehr gewahrt werden.
Lebenslügen kommen ans Tageslicht.
Wilhelms Firma geht pleite.
Es ist eine rasante Talfahrt, die ihre Spuren hinterlässt.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei Ebenen und aus zwei Perspektiven.
Der auktoriale Erzähler bringt uns das Pärchen Inga und Wilhelm nahe, die Ich-Erzählerin Suse erzählt aus ihrer Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter.

Eva Sichelschmidt zeichnet ihre Charaktere in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit.
Auf diese Weise entstehen lebendige und realistische Figuren mit Ecken und Kanten.
Die Atmosphäre des Verdrängens und der Wortkargheit im Nachkriegsdeutschland wird von der Autorin gut eingefangen und typische Werbeslogans oder Hits sorgen für Erinnerungen, wenn man selbst in dieser Zeit aufgewachsen ist.

Ich empfehle diesen gleichermaßen erschütternden, tragischen wie humorvollen und manchmal sogar ziemlich komischen Roman gerne weiter.
Er befriedigt den literarischen Anspruch und sorgt für gute Unterhaltung.



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Veröffentlicht am 20.10.2020

Die bedeutsame Beziehung zwischen Polly Flint und Robinson Crusoe…

Robinsons Tochter
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Polly Flint ist die kluge und gewitzte Protagonistin und Ich-Erzählerin, um die es in diesem wunderbaren Roman geht und die hier ihre 87-jährige Geschichte erzählt.

Das Buch der inzwischen 92-jährigen ...

Polly Flint ist die kluge und gewitzte Protagonistin und Ich-Erzählerin, um die es in diesem wunderbaren Roman geht und die hier ihre 87-jährige Geschichte erzählt.

Das Buch der inzwischen 92-jährigen Jane Gardam, Grand Dame der englischen Literatur, ist bereits 1985, also weit vor ihrer berühmten und wunderbaren „Old-Filth-Trilogie“ im englischen Original erschienenen.

1904, kurz nach dem Ende des viktorianischen Zeitalters, wird Polly als 6-jähriges Waisenkind bei ihren beiden ältlichen und frommen Tanten Mary und Frances in einem abgelegenen Ort in North-Yorkshire/England abgegeben.
Obwohl noch so jung, hat sie bereits Aufenthalte in einigen Pflegefamilien hinter sich, weil ihre Mutter Emma verstarb, als sie ein Jahr alt war und sich ihr Vater, ein Seemann, nicht um sie kümmern konnte.

Zuneigung und Liebesbekundungen gibt es von der strengen Aunt Mary und der sanftmütigeren Aunt Frances kaum und Schulbildung bleibt ihr, abgesehen von den Schulstunden in Deutsch und Französisch beim verwitweten und strenggläubigen Hausdrachen Mrs. Woods nahezu verwehrt.

Unterhaltung und Abwechslung sind Mangelware, aber glücklicherweise gibt es hier, im Gelben Haus am Meer, viele Bücher. Sie sind alt und wertvoll und stehen in der umfangreichen Bibliothek von Grandfather Younghusband.

Polly vertieft sich in viele Werke des 19. Jahrhunderts und beschäftigt sich mit Autorinnen wie Jane Austen, George Eliot und den Brontë-Schwestern.

Sie liebt und verehrt den unerschütterlichen Seemann und Schiffbrüchigen Robinson Crusoe und liest diesen Roman von Daniel Defoe, in dem für sie das Geheimnis des Lebens und die Antworten auf ihre Fragen stecken, mindestens einmal pro Jahr.
Robinson wird zu ihrem Freund, Begleiter, Vorbild und Leitstern... deshalb auch der sehr treffende Titel „Robinsons Tochter“.

Polly schöpft Kraft und zieht Weisheiten aus diesem Werk, identifiziert sich mit Robinson und fühlt sich in ihrer Umgebung ebenfalls wie auf einer einsamen Insel, auf der sie im Grunde genommen ein isoliertes und eingesperrtes Leben führt.

Das brave Mädchen Polly wächst zu einer eigenwilligen Frau mit unabhängigem Geist und rebellischem Wesen heran.
Man nennt sie irgendwann „die komische Miss Flint“.

Von Religion, Glauben und frommem Getue hält sie nichts, die Konfirmation lehnt sie rundweg ab. Dass die gottesfürchtigen Tanten entsetzt sind, ist selbstredend.
Aber Polly lässt sich nicht unterkriegen und geht ihren eigenen Weg.

Verluste bleiben nicht aus. Ihre Tante Frances heiratet und geht nach Indien und auch andere bedeutsame Menschen wie Paul, in den sie sich mit 16 verliebt hat sowie Theo und seine jüdische Familie verlassen sie, so dass sie nach dem Krieg nur mit Ihrer Haushälterin zusammen in dem für sie beide viel zu großen Haus lebt.

Und hier kommt wieder Robinson ins Spiel. Er rettet sie vor der Einsamkeit und den Gefahren von Armut und Whisky.
Wie?
Indem sie das Buch mit ihrer vielleicht wichtigsten Bezugsperson ins Französische und Deutsche übersetzt.

Polly erlebt über die Jahre hinweg all das, was ein Menschenleben ausmacht: Freundschaften, Liebe, Enttäuschungen, Verluste, depressive Phasen.

Gardam ist eine exakte Beobachterin, die scharfsinnig, feinfühlig, raffiniert und mit Humor und Ironie erzählen kann.
Bis zum Ende erfreut und verblüfft sie den Leser mit Geheimnissen, Überraschungen und manch‘ surrealen Momenten.

Mir gefiel es, wie das Augenmerk zeitweise auch auf die schrecklichen Auswirkungen der aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrten jungen Männer oder auf das Schicksal der jüdischen Kinder, die 1938/39 im Rahmen des „Refugee Children‘s Movement“ nach Großbritannien gebracht wurden, gerichtet wurde.

Ihre Figuren, allen voran Polly, zeichnet Jane Gardam tiefgründig und in all ihrer Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit.
Durch die Ich-Perspektive wird dem Leser das Innenleben der Protagonistin sehr vertraut und man kommt ihr nahe wie einer guten Bekannten.
Gleichzeitig zu dieser Nähe wird aber durchgehend eine gewisse Distanz gewahrt, man wird, um in diesem Bild zu bleiben, nie zur besten Freundin, wodurch das gleichermaßen menschliche und zugewandte, wie reservierte und unangepasste Wesen Pollys noch deutlicher wird.

Ich möchte diesen leichtfüßig daherkommenden und besonderen Roman, in dem es u. a. um Selbstfindung und Emanzipation geht, unbedingt empfehlen.

Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse und der englischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt er die kurzweilige Lebensgeschichte einer Frau, die entschlossen und unbeirrt ihren Weg geht, kein dauerhaftes Glück bei den Männern findet und immer wieder aufsteht, wenn sie stolpert.
Er hat mir äußerst vergnügliche Lesestunden beschert und auch meinen Wunsch, anspruchsvolle, aber nicht unzugängliche und abgehobene Literatur zu lesen, befriedigt.

Ich bin froh, Polly Flint, eine außergewöhnliche, starke, mutige und liebenswerte Frau mit bewundernswerter Contenance und Standfestigkeit kennengelernt und über viele Jahrzehnte hinweg begleitet zu haben.

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Veröffentlicht am 19.10.2020

Soziale Herkunft und Hemmnisse, die sich daraus ergeben.

Streulicht
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Freunde aus der Kindheit heiraten und deshalb kehrt die namenlose Ich-Erzählerin zu dem Ort zurück, an dem sie aufgewachsen ist. „Heimatort“ möchte ich ihn an dieser Stelle ganz bewusst nicht nennen, ...



Freunde aus der Kindheit heiraten und deshalb kehrt die namenlose Ich-Erzählerin zu dem Ort zurück, an dem sie aufgewachsen ist. „Heimatort“ möchte ich ihn an dieser Stelle ganz bewusst nicht nennen, weil sie sich dort nie wirklich heimisch, zugehörig und wohl gefühlt hat.
Es ist ein von Industrie geprägter Ort, in dem ihr Vater sein Leben lang als einfacher Fabrikarbeiter gearbeitet hat.

Der Besuch löst Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, an ihre Familiengeschichte und an die Dynamik in ihrer Herkunftsfamilie aus.
Sie kommt nicht umhin, ausgiebig darüber zu reflektieren.
Ihr Bildungsweg spielt in diesen Gedanken und Überlegungen eine große Rolle.

Ihr Vater war ein gewaltbereiter, veränderungsresistenter und wortkarger Mann und ihre Mutter ging schließlich weg und ließ sie beim trinkenden Vater zurück.

Sie erinnert sich an Schamgefühle und Ängste und ihr wird klar, dass sie, um ihres Vaters Gewalttätigkeit nicht anzufachen und um familiäre Eskalationen zu vermeiden, ein ruhiges, stilles und unscheinbares Mädchen werden musste.

Diese Entwicklung war jedoch etwas, das ihr in der Schule zum Nachteil wurde, weil sie sich dort als aufgewecktes und offenes Mädchen zeigen sollte.
Zwischen diesen Anforderungen hin und her gerissen, wird es nur einen Ausweg geben: den eigenen Weg und die Individualität zu finden.

Sie ist frühzeitig von der Schule abgegangen und hat ihre Abschlüsse erfolgreich auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt.

Jetzt, wieder auf den alten Pfaden unterwegs, fragt sie sich, warum ihr Weg so verlaufen ist und währenddessen erfahren wir, wie es dazu kam, dass sie weggegangen ist.

Der Roman beschäftigt sich v. a. mit sozialer Herkunft und ihrem Einfluss auf innere bzw. äußere Hemmnisse der individuellen Entwicklung. Themen wie Diskriminierung und Rassismus klingen deutlich an.

In der Auseinandersetzung mit ihrer Biographie wird ihr mit Wehmut klar, dass sie sich in diesem Ort nie wirklich zugehörig und in ihrem Ich-Sein angenommen, sondern fremd, ausgeschlossen und abgewertet gefühlt hat.

Am Ende der Geschichte steht nicht die Anklage derer, die der Erzählerin ihren Werdegang und ihre Entwicklung erschwert haben, sondern, so meine ich, das befriedigende, aber nicht triumphierende Gefühl, Antworten, Erkenntnis und Verständnis erlangt zu haben.

Der Roman wird nicht chronologisch und auch nicht kausal erzählt.
Nach ihrer Rückkehr erfahren wir durch Rückblenden und eher assoziativ von ihrer äußeren und inneren Realität.

Deniz Ohde wertet und erklärt nicht, sondern sie reflektiert und beschreibt detailliert.
Sie beschreibt glaubhaft und gleichermaßen einfühlsam wie eindringlich die Nöte eines Arbeiterkindes mit Migrationshintergrund, das trotz erschwerter Startbedingungen und Erfahrungen von Ungleichheit und Ablehnung den eigenen Lebensweg findet und eine akademische Laufbahn einschlägt.

Dass es dieser bewegende und kluge Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 geschafft hat ist für mich nicht verwunderlich.

Klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 18.10.2020

Ein lesenswertes Debut!

Und andere Formen menschlichen Versagens
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Dieser nur 155-seitige Debutroman hat es in sich!

Nach einem Flugzeugabsturz im Jahr 1992 über Südamerika treibt die 22-jährige Marina tagelang, festgeklammert an einen Fenstersitz, im Südpazifik, bevor ...

Dieser nur 155-seitige Debutroman hat es in sich!

Nach einem Flugzeugabsturz im Jahr 1992 über Südamerika treibt die 22-jährige Marina tagelang, festgeklammert an einen Fenstersitz, im Südpazifik, bevor sie in der Ferne eine Insel erblickt.

Wenn man diese knappe Zusammenfassung hört, assoziiert man sofort „Überlebensgeschichte“und denkt an Robinson Crusoe.
Aber weit gefehlt.
Denn nach diesem Intro geht es anders weiter.
Ab jetzt verfolgen wir die verschiedenen Lebenswege und Hintergründe derjenigen Menschen, die Marina nahestehen und deren Leben sich aufgrund der Katastrophe und des antizipierten Verlusts von Marina verändern werden.

In sieben Kapiteln lernen wir neben Anderem ihre Eltern und ihren Freund kennen.
Man könnte eigentlich von sieben Kurzgeschichten sprechen, die jeweils für sich stehen könnten, aber gleichzeitig auf wundervolle Weise über Marina miteinander verwoben sind.

Beeindruckend dabei ist, dass jede Person in ihrer Vielschichtigkeit und jede Lebensgeschichte in ihrer Unterschiedlichkeit dargestellt wird. So entstehen abwechslungsreiche Geschichten und individuelle lebendige, authentische Charaktere mit Ecken und Kanten, die man gern kennenlernt und begleitet.

Wir treffen auf illustre, kauzige und grotesk gezeichnete Figuren, die niemals lächerlich dargestellt werden
Der Autor stellt sie uns mit Witz und Charme vor, was dazu führt, dass man seine Erfindungsgabe und Kreativität bewundert und seine Romanhelden mit all ihren Eigenarten ins Herz schließt.

Von Marinas Vater, einem Bauunternehmer mit Größenphantasien zu lesen, ist gleichermaßen erstaunlich wie belustigend.
Die Geschichte ihrer anerkennungsbedürftigen Mutter, einer Regisseurin, die versucht, den Verlust ihrer Tochter zu verarbeiten, indem sie einen blutrünstigen Horrorfilm dreht, ist interessant und bewegend.
Und dass ihr Freund, ein aufstrebender Nachwuchsboxer Profit aus der Katastrophe schlägt, ist befremdlich.

Ich möchte aber nun nicht mehr zum Inhalt verraten, um niemandes Lesegenuss zu schmälern.

Beim Lesen dieser abgründigen, tiefgründigen und manchmal sogar etwas verrückten Geschichten, in denen oft Ironie steckt und in denen es so vieles zu entdecken gibt, das offensichtlich oder rückblickend, teilweise bzw. oft auf irgendeine Weise miteinander in Verbindung steht, verliert man Marina erst einmal aus den Augen, weil es um von ihr unabhängige Erlebnisse und Erfahrungen geht.
Gleichzeitig ist sie aber immer präsent, weil sie ja die Sonne ist, um die sich alles dreht und weil sie ja mit ihrem Schicksal den Auslöser für die Entstehung der anderen Erzählungen darstellt.
Marina und ihr Los sind der rote Faden, der das Knäuel aus sieben Geschichten zusammenhält.

Von Kapitel zu Kapitel springen wir zu anderen Personen, an andere Orte und in andere Zeiten, wobei Lennardt Loß einen jeweils anderen und passenden Erzählton für jede Geschichte gefunden hat.
In Windeseile gelingt es ihm, den Leser in völlig andere Szenarien eintauchen zu lassen und überrascht dabei oft mit unvorhergesehenen Wendungen.

Ich empfehle diesen außergewöhnlichen, skurrilen und tragikomischen Kurzroman, der mir mit seiner frischen und lebendigen Sprache eine vergnügliche Lesezeit beschert hat, sehr gerne weiter!

Ein must-read!
Ein must-re-read!

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Veröffentlicht am 17.10.2020

Zeitgeschichte, Familiengeschichte und Identitätssuche

Ada
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Es geht in „Ada“ um Selbstfindung und Identitätssuche in der noch jungen Bundesrepubublik...in einer Zeit der Umbrüche, in der bedeutende geschichtliche Ereignisse stattfanden:
Wirtschaftswunder, Mauerbau, ...

Es geht in „Ada“ um Selbstfindung und Identitätssuche in der noch jungen Bundesrepubublik...in einer Zeit der Umbrüche, in der bedeutende geschichtliche Ereignisse stattfanden:
Wirtschaftswunder, Mauerbau, 68-er Bewegung.

Die 1945 in Leipzig geborene Ich-Erzählerin Ada ist auf der Suche nach sich selbst, ihrer Familie und ihrem Vater.
Wir begleiten sie bis in die 90-er Jahre hinein, mit einem Schwerpunkt auf den 50-er und 60-er Jahren.

Bereits kurz nach ihrer Geburt emigriert ihre jüdische Mutter Sala mit ihr nach Buenos Aires/Argentinien und erst 9 Jahre später kehren sie nach Berlin zurück.
Es ist eine Rückkehr in ein fremdes Land, in dem die jüngste Vergangenheit totgeschwiegen wird und in eine kalte, sprachlosen Stadt. Es ist ein Heimkommen zu völlig unbekannten Leuten mit einer Sprache, die sie kaum spricht.
Und dann kommt es auch noch zum lang ersehnten Wiedersehen mit ihrem Vater Otto, einem Arzt, den sie bisher nur vom Foto kannte.
Die drei ziehen zusammen und versuchen, eine Familie zu werden.

Ada hat viele Fragen und fühlt sich mit ihren Sorgen und Nöten alleingelassen.
Wie bereits in Argentinien fühlt sie sich nirgends richtig zugehörig.
Ada erhält keine Antworten, es wird nicht gesprochen.
Sie lernt früh, ihre Angelegenheiten mit sich selbst auszumachen und wirkt, obwohl sie nicht allein ist, manchmal einsam und in mancher Hinsicht heimatlos.

Hier zeigt sich die innere Ambivalenz Adas:
Einerseits ist sie froh, dass ihr schwer erträgliche Geschichten erspart bleiben, andererseits leidet sie unter dem allgegenwärtigen Schweigen.
Die Sprachlosigkeit dieser Zeit und einer Generation wird im Roman wunderbar abgebildet.
Darüber hinaus erhält man wunderbare Einblicke in das Leben in Berlin im Nachkriegsdeutschland.

In der Geschichte geht es um die Identitätsfindung Adas, für die es unerlässlich ist, dass sie ein Bild von ihrer eigenen Vergangenheit und von ihren jüdischen Wurzeln bekommt.
Es geht darum, dass sie ihre Vergangenheit versteht, um ihren Platz in der Gegenwart zu finden.
Dabei spielen die Themen Liebe, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Freiheit natürlich durchgehend eine bedeutende Rolle.

Mir gefallen Erzählstil und Sprache des Autors.
Christian Berkel schreibt sehr gewandt, detailliert und wohlformuliert eine lebendige und spannende Familiengeschichte, die sich an wahren Begebenheiten orientiert und die als wichtiges und interessantes Zeitzeugnis gesehen werden kann.
Der melancholisch getönte Roman wirkt ehrlich und reflektiert und wird unaufdringlich in einer schnörkellosen direkten Sprache geschrieben.

Obwohl der Roman in einer anderen Zeit spielt und weil es um zeitlose individuelle Themen geht, ist er aufgrund von ähnlichen sozialen, politischen und individuellen Problemen hoch aktuell.
Die Protagonisten werden authentisch gezeichnet, deren Handlungen nachvollziehbar geschildert und die meist bedrückende, oft kühle und schweigsame Atmosphäre eindrücklich vermittelt.

Was ich (als Psychoanalytikerin) besonders originell und interessant finde, ist, dass wir Adas Geschichte in Rückblenden im Rahmen einer Psychotherapie, die sie Anfang der 90er Jahre macht, erfahren.
Vor dem Hintergrund historischer Ereignisse begleiten wir auf diese Weise Ada durch ihre Nachkriegsjugend, in der sie sich nach und nach von ihrer Familie loslöst, erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und Drogen sammelt, in der Studentenbewegung der 60er Jahre mitmischt, ruhelos umherreist und schließlich sogar das legendäre Woodstock-Festival 1969 besucht.
Ein bisschen schade sind das recht abrupte Ende und der Zeitsprung zwischen Woodstock und Therapiebeginn, weil wir von der Phase dazwischen kaum bis nichts erfahren und die Geschichte für meinen Geschmack etwas zu plötzlich endet.

Der Roman von Christian Berkel liest sich leicht und flüssig, ist mitreißend, fesselnd und bewegend.

Ich empfehle ihn sehr gerne weiter!

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