Jahresringe konservieren mehr als nur Momente in der Zeit
Wie klein und unbedeutend wir Menschen sind in unserem kurzen, sterblichen Dasein und wie wenig wir doch wissen über das Leben unserer Familien, der Generationen vor uns, die gewollt oder ungewollt unser ...
Wie klein und unbedeutend wir Menschen sind in unserem kurzen, sterblichen Dasein und wie wenig wir doch wissen über das Leben unserer Familien, der Generationen vor uns, die gewollt oder ungewollt unser jetziges Dasein prägen. Die uns Laster der Vergangenheit aufhalsen, deren Bedeutung wir nie gänzlich begreifen können und uns mit besonderen Gaben segnen, die uns nahezu in den Schoß fallen, das Leben erleichtern. Wie mächtig ist dagegen die Natur und vor allem die Bäume, die uns alle überdauern und in ihren Jahresringen alles abspeichern, jede Dürre, jedes ertragreiche Jahr, lesbar, konserviert für Jahrhunderte.
Diese Demut hat mich überfallen während ich "Das Flüstern der Bäume" von Michael Christie nahezu in einem Zug verschlungen habe, der in seinem Mehrgenerationen Drama die Geschichte der Familie Greenwood langsam entmantelt, dem Lösen einer Baumrinde eines mächtigen Mammutbaumes gleich und mit einem markanten Schnitt durch den Stamm Jahresring um Jahresring offenlegt. Zu Tage gefördert wird eine komplexe, spannende, emotionale Geschichte, die mich mit Staunen erfüllt, emotional aufwühlt und mich mit vielen Fragen ins Hier und Jetzt entlässt, allen voran mit der Gewissheit, wie wenig wir in unserem Leben eigentlich über uns wissen, wie klein das Puzzleteil ist, dass wir im großen ganzen Bild ergänzen. Manchmal wollte ich schreien, denn als Leser wird dir auf unbeschreibliche Weise eben dieses Bild auf diese Familie eröffnet, dass du mit jeder Generation teilen willst, dich aber der Entscheidung jedes einzelnen Protagonisten beugen musst der eben sein kleines Puzzleteil erfüllt, nicht mehr und nicht weniger. Das ist die Aufgabe, die jedem einzelnen in seiner Zeit durchs Leben zufällt.
Der Roman ist ein wahrer Pageturner, zwingt den Leser weiterzulesen, tiefer in die Jahresringe der Zeit einzudringen, denn die Bäume sind die einzig wahren Zeitzeugen und ihren Geschichten zu lauschen, dem roten Faden der Handlung, das ist eben der besondere Reiz der Geschichte. Die Sprache ist fließend, leicht, dazu mit spannenden Wendungen versehen. Die Zeitsprünge sind animierend und gut gewählt, lassen sie den Leser zu Beginn die Größe der wahren Geschichte nicht greifen, sondern eher im Unklaren über die Bedeutung der Sätze, Protagonisten, Momentaufnahmen, was mir persönlich sehr gut gefallen hat. Es steckt so viel Liebe zum Detail in diesem Roman, jede einzelne Figur ist so wunderbar gezeichnet, für sich klar und deutlich vorstellbar und überdauert die Zeit mit dem immer klaren Bezug zur Natur und vor allem zu den Bäumen, die als Wächter überdauern. Die Charaktere könnten unterschiedlicher nicht sein und doch eint sie mehr, als ihnen selbst bewusst ist. Mich begleitet vor allem nach dem Ende die Frage, wieviel zwischen den Generationen unausgesprochen bleibt, verloren mit der Zeit, hinfort getragen vom Wind. Nur konserviert durch die Jahresringe der Bäume, den Zeugen der Zeit, denen jedoch die Stimme fehlt das Puzzle unseres Lebens über Generationen hinweg zu beleuchten und unser kleines Dasein so viel größer erscheinen zu lassen. Eine klare Empfehlung für alle, die sich auf eine unglaubliche Reise durch die Zeit einlassen wollen, die verzahnte Mehrgenerationen Romane lieben und sich immer schon gefragt haben, was eigentlich nach dem Ende bleibt.