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Veröffentlicht am 29.10.2020

Schicksale, die man im Gedächtnis behält

Ich bin ein Schicksal
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Romy Hall ist zu einer zweimal lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden ohne Aussicht auf eine frühzeitige Entlassung, weil sie ihren Stalker umgebracht hat. Mildernde Umstände waren, wie bei ihren ...

Romy Hall ist zu einer zweimal lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden ohne Aussicht auf eine frühzeitige Entlassung, weil sie ihren Stalker umgebracht hat. Mildernde Umstände waren, wie bei ihren Mitgefangenen, nicht zu erkennen und so muss sie für lange Zeit ihren kleinen Sohn bei ihrer Mutter zurücklassen. Romy ist die Ich-Erzählerin dieses Buches, die nicht nur von ihrem Leben im Gefängnis berichtet, sondern auch von ihrem Leben davor: jede Menge Gründe wie es dazu kam, dass sie jetzt inhaftiert ist.
Wer befürchtet, hier eine mitleidsheischende Gefangenenbiographie aufgetischt zu bekommen, kann beruhigt sein, denn die Hauptfigur erzählt fast schon gefühllos von ihrer Kindheit und Jugend und ihrem kurzen Leben als Erwachsene in Freiheit. Es ist eine wohl typische Geschichte vom Aufwachsen in prekären Verhältnissen, aus denen es praktisch kein Entkommen gibt. Als 11jährige missbraucht, für die Eltern nur eine Last, ist es für die junge gutaussehende Romy nach der Schule nur ein kurzer Weg zum Job als Striptease-Tänzerin im Mars Room, wo sie ihrem zukünftigen Opfer begegnet. Wobei nicht so eindeutig ist, wer nun tatsächlich das Opfer ist. Auch ihre Mitgefangenen haben ähnliche Lebenswege hinter sich: ärmliche Verhältnisse, vernachlässigt, Missbrauch, Drogen - der Weg ins Gefängnis für Frauen aus dieser Schicht scheint vorgegeben.
Das Gefängnis selbst ist eine reine Verwahranstalt, in der die Frauen unter demütigenden Bedingungen ihre Zeit absitzen müssen. Interesse, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, hat niemand. Für fast alle Wärterinnen und Wärter sind sie Abschaum, der es nicht anders verdient hat und werden entsprechend be- und auch misshandelt - der Gedanke einer Resozialisierung könnte hier nicht weiter entfernt sein.
Angesichts der beschriebenen Zustände, die wohl nicht allzu weit von der Normalität abweichen, ist das Buch harter Stoff. Romy erzählt ihre Geschichte meist neutral, als ob Alles was ihr geschehen ist, völlig normal wäre, so wie auch einige Andere. Alle eint, dass sie schon immer zum Bodensatz der Gesellschaft gehörten und so manche Frau fühlt sich nun im Gefängnis sicherer als in Freiheit.
Was für eine Gesellschaft, was für ein Land, in dem solche Ungerechtigkeit, Härte und Gnadenlosigkeit zum Alltäglichen gehört.

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Veröffentlicht am 29.10.2020

Zeit vergeht - Schuld nicht

Ihr Königreich
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Harry Hole ist zwar nicht zurück, aber Roy Opgard ist meiner Meinung nach ein würdiger Stellvertreter 😉 Zwar handelt es sich bei diesem Buch eher um eine Familiengeschichte (wenn auch mit mörderischem ...

Harry Hole ist zwar nicht zurück, aber Roy Opgard ist meiner Meinung nach ein würdiger Stellvertreter 😉 Zwar handelt es sich bei diesem Buch eher um eine Familiengeschichte (wenn auch mit mörderischem Hintergrund), aber die Ähnlichkeiten des Protagonisten mit Harry Hole sind unverkennbar. Beide haben es nicht so mit Menschen; überflüssiges Gerede ist nicht ihr Ding; Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Fairness und beständige Schuldgefühle bestimmen ihr Leben.

Die Brüder Roy und Carl leben mit ihren Eltern außerhalb der kleinen Stadt Os auf einem Hof in den Bergen Norwegens. Kurz vor Roys 18. Geburtstag (Carl ist ein Jahr jünger) stürzen ihre Eltern mit dem Wagen einen Abgrund hinab und sind sofort tot. Die Brüder geben sich gegenseitig Halt und bleiben auf dem Hof, während Roy eine Ausbildung zum Automechaniker macht und Carl die Schule beendet. Er verlässt Norwegen, um in den USA zu studieren und kehrt nach 15 Jahren unerwartet mit seiner Ehefrau zurück mit einem großen Plan im Gepäck, der ganz Os vermögend machen soll.

Roy ist der Ich-Erzähler der Geschichte und von ihm erfahren wir in verschiedenen Rückblicken, was sich in seiner Jugend und nach Carls Rückkehr ereignet. Obwohl die Beiden wenig gemeinsam haben, liebt Roy seinen ‚kleinen‘ Bruder über alles und stellt sich stets schützend vor ihn, früher wie heute. Dies ist auch zwingend nötig, denn Carl ist nicht nur der fröhliche, optimistische, offenherzige Junge von damals, sondern bringt sich durch sein impulsives verantwortungsloses Handeln immer wieder in schier ausweglose Situationen. Doch Roys Liebe zu ihm siegt – oder ist es sein Schuldgefühl?

Wer darauf hofft, ähnlich brutale und in gewisser Weise abgedrehte Szenen wie in den letzten Harry Hole-Büchern lesen zu können, wird enttäuscht werden, denn dieser Kriminalroman ist eher bodenständig – so wie die Menschen um die es hier geht. Aber auch wenn das Nervenzerreissende dieser Reihe fehlt und die Wendungen nicht ganz so spektakulär sind – spannend und überraschend ist die Geschichte allemal. Zwar kann man ahnen, wie Alles enden wird, da man als Jo Nesbø-Fan natürlich weiß, dass seine ‚Helden‘ nicht die Fähigkeit zum Glücklichsein haben – aber ist das nicht auch der Grund, weshalb man sie liebt 🤭? Mir hat dieses Buch gefallen, sehr sogar! Und bin so froh, dass Macbeth ein Ausrutscher war.

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Auf der Suche nach einem besseren Leben

Die verschwindende Hälfte
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Passing ist ein Phänomen, dass es bereits länger gibt, in Europa aber eher unbekannt ist, obwohl es auch hier existiert. Dabei wird die soziale Identität eines Menschen (Geschlecht, Klasse, Ethnie usw.) ...

Passing ist ein Phänomen, dass es bereits länger gibt, in Europa aber eher unbekannt ist, obwohl es auch hier existiert. Dabei wird die soziale Identität eines Menschen (Geschlecht, Klasse, Ethnie usw.) von seiner Umwelt nicht erkannt, so dass die damit verbundenen Erwartungen, Rechte und Pflichten nicht existieren. Wie beispielsweise in Deutschland die Juden während des Dritten Reiches, die ihr Jüdischsein verheimlichten, um so der Verfolgung zu entgehen. Heute ist es insbesondere in den USA Thema, wobei Schwarze mit sehr heller Haut für Weiße gehalten und entsprechend behandelt werden, wovon dieses Buch unter anderem auch erzählt.

1938 werden die Zwillinge Desiree und Stella in dem kleinen Nest Mallard im Süden der USA geboren, dessen BewohnerInnen es sich zum Ziel setzen, mit jeder Generation hellhäutiger zu werden. Mit 16 Jahren brennen die Beiden durch und gehen nach New Orleans, wo sich ihre Wege trennen. „… Desiree heiratete den dunkelsten Mann den sie finden konnte.“ und bekommt eine Tochter, „… so schwarz, schwärzer geht’s nicht.“
Stella hingegen „… wurde zur weißen Stella.“, was sie jedoch nur sein konnte, „…, wenn Desiree nicht dabei war.“ Sie heiratet einen vermögenden weißen Mann aus dem Geldadel und bekommt eine blonde Tochter.
Die Lebenswege der beiden Frauen entwickeln sich so weit auseinander, dass sie sich nie wieder gesehen hätten, wären ihre Töchter sich nicht begegnet. Denn Desiree kehrt mit ihrer Tochter Jude nach Mallard zurück, während Stella ihr Leben als Weiße in der High Society in Los Angeles führt.

Brit Bennett, die Autorin, zeigt in diesem Buch überdeutlich, wie groß die Unterschiede der Möglichkeiten sind, die je nach Hautfarbe zur Wahl stehen. Während Stella praktisch alles werden kann, bleibt für Desiree letzten Endes der Job in der Kneipe. Aber das Leben auf einer Lüge aufzubauen, hat ebenfalls seinen Preis.
Überzeugend stellt Bennett dar, wie Stella aus Angst, enttarnt zu werden, am heftigsten gegen die ersten schwarzen Nachbarn protestiert. Und wie sie ständig in der Furcht lebt, als das erkannt zu werden, was sie ist: schwarz.
Auch gut gefallen hat mir, wie Bennett die Charaktere der Töchter in Teilen fast spiegelbildlich zu denen ihrer Mütter entwirft. Desirees Tochter Jude hat mehr Ähnlichkeit mit Stella, während Stellas Tochter Kennedy viele Wesenszüge ihrer Tante aufweist. Doch Beide tragen ganz klar das Erbe ihrer Mütter in sich, während die Väter kaum eine Rolle spielen.

Wirklich lesenswert!

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Was wirklich zählt

Kostbare Tage
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Es ist Sommer in Holt, einer Kleinstadt in Colorado. Und es wird der letzte Sommer sein für Dad Lewis, der sein ganzes Leben dort verbrachte. Dad hat Krebs und ihm bleibt noch ein Monat, vielleicht etwas ...

Es ist Sommer in Holt, einer Kleinstadt in Colorado. Und es wird der letzte Sommer sein für Dad Lewis, der sein ganzes Leben dort verbrachte. Dad hat Krebs und ihm bleibt noch ein Monat, vielleicht etwas länger.

Von dieser Zeit erzählt ‚Kostbare Tage‘ und trotz dieses eigentlich trostlosen Themas ist es nie hoffnungslos, kitschig oder schwülstig. Man lernt nicht nur Dad und seine Familie kennen: seine ihn voller Hingabe pflegende Frau Mary, die auch er noch immer von ganzem Herzen liebt; ihre Tochter Lorraine, die ihren Eltern zur Seite steht; und ihren Sohn Frank, von dem sie schon Jahre nichts mehr gehört haben. Da gibt es noch die Johnsons, Mutter und Tochter, die gegen die Einsamkeit kämpfen; den neuen Reverend Lyle, der nicht nur mit der Gemeinde, sondern auch seiner Familie Schwierigkeiten hat; seinen Sohn John, der eine erste Liebe der besonderen Art erlebt; und Berta, die Nachbarin, mit ihrer kleinen Enkelin Alice, die für Alle eine Hoffnung darstellt.

Für Alle ist dieser Sommer eine besondere Zeit, denn es gibt eine Menge Abschiede. Kent Haruf erzählt davon in einem ruhigen und fast schon sachlichem Ton, der zwar eine melancholische Stimmung entstehen lässt, aber auch nicht mehr. Er ist ein aufmerksamer Beobachter, jede Kleinigkeit ist es wert, festgehalten zu werden, doch stets nur beschreibend, nie wertend. So genau sind seine Darstellungen, dass man die Kleinstadt und ihre Menschen bald deutlich vor Augen hat und ihre Ängste, Gedanken und Sorgen mitfühlen kann. Und merkwürdigerweise wird es nicht langweilig, obwohl nichts wirklich Aufregendes geschieht. Ein bisschen ist es, als ob man Menschen, die man mag, ein Stück in ihrem Leben begleitet. Nicht mehr – und nicht weniger.

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Veröffentlicht am 01.09.2020

Die geheimgehaltenen Wahrheiten

Miracle Creek
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Der kleine Ort Miracle Creek wird zum Schauplatz eines tragischen Unglücks: Eine in einer Scheune aufgestellte Druckkammer, in der Behandlungen mit reinem Sauerstoff durchgeführt werden, explodiert und ...

Der kleine Ort Miracle Creek wird zum Schauplatz eines tragischen Unglücks: Eine in einer Scheune aufgestellte Druckkammer, in der Behandlungen mit reinem Sauerstoff durchgeführt werden, explodiert und ein achtjähriger autistischer Junge sowie eine Mutter von fünf Kindern sterben. Doch was zunächst wie ein Unglück aussieht, stellt sich als Verbrechen heraus. Die Mutter des Achtjährigen soll ein Feuer gelegt haben, das die Ursache für die Explosion war. Alle Indizien sprechen gegen sie und auch ihr Verhalten vor Gericht entkräftet diesen Verdacht nicht.

Erzählt wird die Geschichte, ausgehend von der dreitägigen Gerichtsverhandlung, aus Sicht verschiedener Betroffener, sodass nach und nach Wahrheiten ans Licht kommen, die das Geschehene jeweils in ein völlig anderes Licht rücken. Obwohl ich vergleichsweise früh vermutete, wer für Alles verantwortlich zu machen ist, verursachte jeder neue Perspektivwechsel auch neue Zweifel. Wirklich gut gemacht!

Doch dieses Buch ist nicht nur ein einfacher Krimi, der sich um die Frage nach dem oder der Schuldigen dreht, obwohl dieser Fall sicherlich seitenfüllend genug gewesen wäre. Angie Kim, die Autorin, greift Themen auf, die nicht nur aktuell sondern auch eher unschicklich sind und über die man sonst lieber schweigt. Es geht um Rassismus gegenüber und unter Einwanderern sowie um behinderte Kinder bzw. deren Mütter, die bei der Betreuung schier Unmenschliches leisten. Dass Angie Kim damit ihre eigenen Erfahrungen gemacht hat, wie sie in verschiedenen Interviews mitteilte, merkt man dem Buch an, wie ich finde.

Schwerpunkt der Geschichte ist die Mutter (Eltern) – Kind – Beziehung, wobei es hier hauptsächlich um Kinder mit teils schwersten Behinderungen geht. Während die Einen versuchen, ihrem behindertem Kind mit Disziplin und Strenge zu einem besseren Leben zu verhelfen und alles, wirklich alles probieren, versuchen die Anderen es mit größerer Lockerheit. Was sie jedoch verbindet, ist, dass sie ihr eigenes Leben aufgeben und es voll und ganz in den ‚Dienst‘ ihrer Kinder stellen – ob diese nun gesund sind oder nicht. Es wird als Selbstverständlichkeit angesehen, aber dass sie darüber zeitweise (ver)zweifeln, Gedanken hegen, die man besser nicht ausspricht – darüber redet man lieber nicht miteinander. Tut man es doch, kann man schnell in Teufels Küche kommen.

Eine richtig tolle Lektüre, die nicht nur spannend ist, sondern auch einen Einblick in andere Welten verschafft.

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