Der Traum von einer Rakete
Passend zum Titel erzählt Daniel Mellem die biografischen Eckpfeiler des österreich-ungarisch-deutschen Physikers und Raketenpioniers Hermann Oberth als Countdown-Zählung in der Kapitelgebung. Oberth wächst ...
Passend zum Titel erzählt Daniel Mellem die biografischen Eckpfeiler des österreich-ungarisch-deutschen Physikers und Raketenpioniers Hermann Oberth als Countdown-Zählung in der Kapitelgebung. Oberth wächst als ältester Sohn eines angesehenen Spitalleiters in Schäßburg, Siebenbürgen, auf. Anders als von seinem strengen Vater vorgesehen, interessiert er sich nicht für Medizin, sondern für die Physik. Schon als kleiner Bub liest er auf einem Boot Jules Verne, entdeckt technische Fehler im Roman und experimentiert mit physikalischer Schubkraft. Sein Traum ist es, eine Rakete zu entwickeln, um die Menschheit unbeschadet auf den Mond fliegen zu lassen. Nach einem Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg, wo er die Schrecken eines Krieges hautnah miterlebt und sein fröhlicher Bruder sterben wird, studiert er in Göttingen Physik und gilt schnell als schrulliger Außenseiter. Seine Dissertation zur Raketentechnik findet keine wissenschaftliche Disziplin – er wird sie später als wegweisendes Buch veröffentlichen. Währenddessen heiratet er Tilla, eine lebensfrohe Frau, die sehr viel zurücksteckt und sich um die drei Kinder fast alleine kümmert und so Oberths Rücken für fast besessene Forschungsarbeiten freihält.
Doch schon steht der nächste Weltkrieg vor der Tür – Oberth erhält ein Angebot aus der Sowjetunion, das er ablehnt. Wernher von Braun wird ihn in die Heeresversuchsanstalt Peenemünde ordern – wo er niedrige Schreibtischarbeiten erledigt, aber für den Feind nicht mehr gefährlich ist. Oberth schreibt an Hitler, wird Deutscher und entgeht in den Kriegswirren knapp dem Tod – sein Sohn wird fallen und die Tochter bei einer Explosion umkommen. Die V2-Raketen fordern während des Krieges zahlreiche unschuldige Opfer.
Nach Kriegsende lebt die Familie Oberth verarmt in ihrem neuen Heimatort Feucht, bis ein Päckchen von Braun aus den USA ankommt – er wird Oberth mit anderen Peenemünde-Nazimitstreitern in die USA holen, wo deutsche Wissenschaftler ihr technisches Wissen in der Operation Overcast zur Verfügung stellen. Oberth wird 1969 den ersten Start von Apollo 11 am Cape Canaveral noch miterleben – Mellem erzählt hier den finalen Countdown.
Hermann Oberth ist in Feucht ein Museum gewidmet und gilt als Wegbereiter der Raketentechnik und Astronautik, aber er war auch ein streitbarer Wissenschaftler. Im Roman wird sein Gedanke zur Rakete so geschildert, dass er doch nur den Frieden für die Menschheit während des Krieges wollte – Deutschland sollte schnell gewinnen. Aus seinem Traum einer Mondrakete wurde eine mörderische Kriegswaffe, die er den Nationalsozialisten anbot. Hier wird die Frage nach der Ethik in der Wissenschaft laut – Oberth stellt sich in dem Roman nur wenige, dürftige moralische Fragen. Daniel Mellem schildert seine Gedanken als Abschlussfrage im Nachwort: War Oberth seiner eigenen Verantwortung als Wissenschaftler gerecht geworden? Hatte er seine eigene Idee selbst missbraucht, als er mit den Nationalsozialisten sympathisiert hat? Diese Fragen überlässt die biografische Fiktion dem Leser – „Die Erfindung des Countdowns“ zeigt auf, mit welchen wiederkehrenden Verfehlungen und Scheitern Hermann Oberth bis zuletzt für seinen Traum der Mondrakete zu kämpfen hatte. Und auch wenn Fritz Lang bei seinem Film „Frau im Mond“ mit Oberth als wissenschaftlichem Berater an seiner Seite, den Raketencountdown erfunden hat, der bei jedem Raketenstart bis dato heruntergezählt wird, so hat Oberth der Menschheit den Traum der Mondlandung nähergebracht.
Daniel Mellem führt den Leser flüssig und präzise durch die Zeitgeschichte und verpackt eine technische Wissenschaft in einen spannenden Roman über einen Visionär, ohne den historischen Hintergrund zu vernachlässigen. Der Wissenschaftler und sein verkappter Charakter, seine unbeholfenen Beziehungen zu Familienmitgliedern und Mitstreitern sind lebendig und hervorragend herausgearbeitet. Und manche Szenen sind so prägnant beschrieben, dass sie sehr lange nachhallen – zusammen mit der Frage nach Moral und Ethik.
"Der Krieg war nicht ausgeblieben, er war auch nicht schneller vorübergegangen. Die Rakete war lediglich ein Werkzeug gewesen. Es war paradox. Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten?" S. 216