Wir lernen in dem ca. 220-seitigen Werk Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes kennen, einen mutigen Menschenfreund und Katholiken, der sich Regeln, Anweisungen und Verboten der portugiesischen Regierung ...
Wir lernen in dem ca. 220-seitigen Werk Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes kennen, einen mutigen Menschenfreund und Katholiken, der sich Regeln, Anweisungen und Verboten der portugiesischen Regierung widersetzt, um Tausenden von Menschen zu helfen.
Diese Hilfe gewährt der aus einer Adelsfamilie stammende verheiratete, kinderreiche, wohlhabende und empathische Mann, indem er zu Beginn des zweiten Weltkrieges trotz oder entgegen der vom Diktator Salazar ausgesprochenen drastisch verschärften Einreisebedingungen vielen überwiegend jüdischen Flüchtlingen und politisch Verfolgten Visa erteilt, damit sie nach Portugal einreisen können.
Doch sein Handeln hat Konsequenzen.
Aristides de Sousa Mendes verliert seine Ämter und muss in einem Disziplinarverfahren Rede und Antwort stehen.
Von da an geht es in allen Beteichen seines Lebens rapide abwärts.
1954 verstarb er.
Rehabilitiert wurde er erst posthum.
Psychologisch nachvollziehbar und stimmig zeichnet Dagmar Fohl die Seelenzustände ihres Protagonisten mit all seinen inneren Konflikten und Beweggründen, wobei es bezüglich seiner inneren Zerrissenheit nicht nur um sein politisches Engagement, sondern auch um private Angelegenheiten ging.
Auffällig und bedeutungsvoll war für mich, dass der Konsul, was die Flüchtlinge betraf, extrem engagiert und verantwortungsbewusst handelte, dass er gleichzeitig aber, was ihn selbst und seine Familie anging, fast schon leichtsinnig, fahrlässig und arglos agierte. Warum hat er potentielle Folgen und Gefahren für sich und seine Familie, Ehefrau und 14 gemeinsame Kinder, ausgeblendet und verleugnet?
Dass die Autorin Geschichte studiert und gründlich recherchiert hat, ist unschwer zu erkennen, denn sie beleuchtet und vermittelt die gesellschaftlichen Verhältnisse, Nöte und Probleme der damaligen Zeit realistisch und glaubhaft.
Ihr recht faktischer, nüchterner, etwas sperriger und steif-hölzerner Schreibstil trägt dazu bei, die bedrohliche und karge Atmosphäre der damaligen Zeit zu vermitteln.
Die lebendig, dynamisch, rasant und eindringlich geschriebene Romanbiographie über den mir bis dahin nicht bekannten, weltoffenen, weitgereisten, beeindruckenden und außergewöhnlichen Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes ist ein äußerst interessantes und lesenswertes Werk!
Mit Beginn der Lektüre begeben wir uns in die 1870-er Jahre nach Tennessee, einem Bundesstaat im Süden der USA.
Der amerikanische Bürgerkrieg ist schon seit einigen Jahren vorbei, aber die Nachwehen ...
Mit Beginn der Lektüre begeben wir uns in die 1870-er Jahre nach Tennessee, einem Bundesstaat im Süden der USA.
Der amerikanische Bürgerkrieg ist schon seit einigen Jahren vorbei, aber die Nachwehen sind noch zu spüren.
Die Konföderierten haben den Krieg zwar verloren, doch Plünderer, Vagabunden, düstere Gestalten, raue Unionssoldaten und besiegte Grauröcke lungern herum und rebellieren gegen die neuen Verhältnisse in den Südstaaten, mit denen sie sich nicht anfreunden wollen. „Die geschlagenen Rebellen standen auf, standen überall wieder auf.“ (S. 36)
Soviel zum Setting.
Und jetzt zum Inhalt:
Die Indianerin Winona erzählt uns rückblickend ihre Geschichte.
Ihre Familie, Angehörige des Stammes der Lakota, wurde getötet, als sie ca. sechs Jahre alt war.
Sie selbst wuchs anschließend als Waisenkind bei den homosexuellen Unionssoldaten Thomas McNulty, einem Iren und John Cole, einem Farmer mit indianischen Vorfahren, auf einer Farm in Tennessee auf.
Thomas und John arbeiteten, genauso wie Rosalee, die stämmige schwarze Haushälterin und deren Bruder Tennyson, beide ehemalige Sklaven, auf Lige Magans Farm, die genau so viel abwarf, dass die ungewöhnliche kleine Wohngemeinschaft gerade so über die Runden kam.
Ungewöhnlich?
Ja, denn diese sechs Menschen, Thomas, John, Rosalee, Tennyson, Winona und der Farmbetreiber Lige, waren eine zusammengewürfelte Randgruppe, die der erzkonservativen Bevölkerung von Tennessee ein Dorn im Auge war:
Zwei Homosexuelle, einer davon mit indianischen Wurzeln, eine Indianerin, zwei Ex-Sklaven und ein Farmer, der diese Leute bei sich arbeiten und wohnen ließ.
Ungewöhnlich aber auch, weil diese Menschen ein bewunderns- und nachahmenswertes Vorbild für Solidarität, Loyalität, Freundschaft, Liebe und Toleranz darstellten.
Winona lernte Englisch, um im nahegelegenen Städtchen Paris, Tennessee nicht verprügelt zu werden, denn „eine Indianerin zu schlagen war kein Verbrechen, ganz und gar nicht.“ (S. 11).
Natürlich war das nicht der einzige Grund, weshalb das Mädchen diese Sprache erlernte
Aber es war tatsächlich so, dass die englische Sprache in gewisser Weise ein Schutzschild war.
Die Diskriminierung der Indianer und die latente Gefahr, der sie ausgesetzt waren, war eine unumstößliche Tatsache und auch Ex-Sklaven hatten keine Rechte und fielen Ungerechtigkeiten, Willkür und Abwertungen zum Opfer.
Winona trägt eine Zerrissenheit in sich, die sie intuitiv gelöst hat.
Es geht dabei um die Vereinbarkeit der Liebe zu ihrer getöteten Ursprungsfamilie und zu ihren fürsorglichen Ziehvätern, die als Soldaten möglicherweise an deren Ermordung beteiligt waren.
Das Mädchen erinnerte sich oft an ihre liebevolle und mutige Mutter, die an den Winterabenden im Tipi Geschichten erzählte und an ihre Schwester, mit der sie draußen in der Prärie unter dem Sternenzelt spielte bevor das Unglück, geschah.
„Die erwachsenen Frauen hielten das Lager in Ordnung, die Männer jagten und kämpften und unsere kleine Aufgabe als Kinder war es, herumzuspringen und glücklich zu sein.“ (S. 36) ...und dann kamen Krieg, Gemetzel und Tod.
Gleichzeitig fühlte sie sich zärtlich verbunden mit ihren zuverlässigen und auf ihre Art liebevollen „Adoptivvätern“ Thomas und John, die ihr Halt gaben und Orientierung boten.
„John, der Kiel meines Bootes, Thomas die Ruder und die Segel.“ (S. 201)
Dieses daraus resultierende innere Dilemma, das sie, wie gesagt, gut gelöst hat, beschreibt Winona eindrücklich:
„Sie haben mir die Wunde zugefügt und sie geheilt, was eine unumstößliche Tatsache ist.“ (S. 13)
Winona lernte nicht nur Englisch, wie oben erwähnt, sondern auch schreiben und rechnen und als sie alt genug war, bekam sie eine Anstellung beim ca. 60-jährigen freundlichen und gerechten Anwalt Briscoe, der sein Büro im ca. sieben Kilometer entfernten Paris, Tennessee, hatte und der ihre Begeisterung für Bücher weckte.
Eines Tages lernte die inzwischen ca. 17-jährige Winona den um zwei Jahre älteren Jas Jonski, einen Weißen polnischer Abstammung, kennen. Er war Verkäufer in einem Geschäft für Trockenwaren, in dem sie regelmäßig einkaufte.
Sie verliebten sich ineinander, er wollte sie heiraten, aber John Cole „wurde wütend wie ein Wels. „Kommt nicht in Frage, Madam!“sagte er.“ (S. 18)
Auch Mr. Hicks, der Chef von Jas und seine Mutter, sind alles andere als begeistert davon, dass Jas jemanden heiraten möchte „der einem Affen näher steht als einem Menschen“. (S. 20)
Eines Tages passierte es dann doch.
Trotz der Englischkenntnisse.
„Die Rothaut“ Winona wurde in der Stadt verprügelt und übel zugerichtet.
Thomas und John forderten ausgleichende Gerechtigkeit, „weil das einzige von Wert, was sie besaßen, versehrt worden war.“ (S. 22)
Aber es war ja „ohnehin kein Verbrechen, eine Indianerin zu schlagen“. (S. 22)
Ihre Vermutung bzgl. Täter behielt Winona für sich, damit John Cole nicht auf die Idee kam, sie zu rächen, wofür er gehängt worden wäre.
Winona, von den meisten Stadtbewohnern als Wilde betrachtet, die einer Wölfin ähnlicher ist, als eine Frau, beschloß, „die Sache selber in die Hand zu nehmen.“ (S. 25)
...und dann wurde auch noch Tennyson, der ehemalige Sklave, brutal zusammengeschlagen...
Es ist schmerzhaft und fast unerträglich, zu lesen, dass Winona, die von ihren „Adoptivvätern“ aufrichtig geliebt und fast wie eine Prinzessin betrachtet und behandelt wurde, so viel Abwertung und Missgunst von vielen Anderen ausgesetzt war.
„Ich war geringer als die Geringsten unter ihnen. Ich war geringer als die Huren im Hurenhaus...Ich war geringer als die schwarzen Fliegen, die einen im Sommer verfolgten. Geringer als die alte Scheiße, die hinter die Häuser geschüttet wurde.“(S. 26)
Erschüttert und sprachlos liest man Sätze wie „Eine Indianerin ist keine Bürgerin, und das Gesetz findet nicht in gleicher Weise Anwendung.“ (S. 49) und Aussagen wie „Es war kein Verbrechen, einen Indianer zu töten, weil ein Indianer nichts besonderes war.“ (S. 57), jagen einem einen kalten Schauer über den Rücken.
Die traumatisierte jugendliche Ich-Erzählerin Winona beschreibt die raue Welt, in der sie aufgewachsen ist und lebt, mal poetisch zart, mal hart und direkt.
Bisweilen spricht Sie ihre Leserschaft direkt an und bezieht sie mit ein.
Sie erzählt nüchtern, leichtfüßig, ungeschönt und ohne jegliche Sentimentalität.
Nur so ist es ihr, wie nach traumatischen Erlebnissen üblich, überhaupt möglich, über ihre erschütternde und traurige Geschichte zu sprechen.
Die gefühlskarge Darstellung verstärkt dabei die emotionale Reaktion im Leser.
Der Autor schreibt seinen Roman in einer wunderschönen bildgewaltigen Sprache mit wortgewandten Formulierungen und anschaulichen Metaphern, die immer wieder zum Innehalten und nochmaligen Lesen Anlass geben.
Einige Beispiele möchte ich gern zitieren:
„In seinem Haus war ein Büro, das ganz mit schimmerndem Holz ausgelegt war, so dass man meinen konnte, es stehe Wasser auf dem Boden, so sehr schien er zu schwappen und zu zittern.“ (S. 27)
„Wenn Hochwasser eine Farm überschwemmt, stürzen zahlreiche Bäume um, und die Pflanzen, sofern sie bereits hoch stehen, werden niedergedrückt.
Die ärgste Überschwemmung wird noch das letzte Feld verheeren; es muss von neuem gepflügt und von neuem geegt werden, und vielleicht ist es schon zu spät um in dem betreffenden Jahr noch eine weitere Aussaat vorzunehmen.
Hat man nach der Überschwemmung erst einmal seine Kleidung getrocknet, merkt man womöglich, dass man im kommenden Jahr nicht so viel zu essen haben wird wie in diesem. Aber es ist klar wie der Tag, dass man der Stärke der Flut, des Tornados oder des heftigen Sturms mit ebenso großer Stärke begegnen muss.
Um aufzubauen, was zerstört wurde, um das, was aus seiner Verankerung gerissen und von seinem Haken getrennt wurde, wieder an seinen Platz zu tun.“ (S. 52)
„Die Traurigkeit eines anderen Menschen kann die eigene ein wenig lindern. Habe ich festgestellt. Doch so seltsam ist das gar nicht, denn die Welt ist ohnehin mysteriös.“ (S. 56)
„Als ich diesen Gedanken zum ersten Mal fasste, kam er mir verrückt und verwegen vor, doch viele solcher Gedanken wirken weniger verrückt und verwegen, wenn man sie öfter denkt.“ (S. 133)
„Er ist so geradlinig wie die Lotschnur eines Maurers.“ (S. 208)
Der 1955 geborene, irischer Autor Sebastian Barry, hat mit „Tausend Monde“ einen abenteuerlichen Roman geschrieben, der an Menschlichkeit, Nächstenliebe und Toleranz appelliert und in dem es auch um grundlegende Fragen, z. B. Vereinbarkeit von Hass und Liebe, Solidarität, Rache, Aushalten von Nichtwissen und Verwirrung sowie Identität geht.
Wer bin ich?
Winona? Ojinjintka?
Indianerin, Schwarze, Weiße?
Mann oder Frau?
Homosexuell oder heterosexuell?
Der Roman ist ein Highlight.
Er sorgte für unterhaltsame, packende, gleichzeitig spannende und entspannende, sowie informative Lesestunden.
Die Lektüre war mich Lesefreude und Lesegenuss pur!
Amity Gaige beherrscht die Kunst des Erzählens. Sie fesselt den Leser mit ihrer Geschichte von einer jungen amerikanischen Familie, die den Traum des Familienvaters verwirklicht, ein Abenteuer wagt und ...
Amity Gaige beherrscht die Kunst des Erzählens. Sie fesselt den Leser mit ihrer Geschichte von einer jungen amerikanischen Familie, die den Traum des Familienvaters verwirklicht, ein Abenteuer wagt und einer Tragödie entgegensegelt.
Das um die 40-jährige Ehepaar Julie und Michael Partlow und ihre beiden Kinder, die 7-jährige Sybil und der 2 1/2 jährige George, leben in einer Vorstadt in Connecticut.
Julie, die seit der Geburt ihrer Kinder immer wieder von depressiven Phasen und Versagensgefühlen geplagt wird, ist Literaturwissenschaftlerin und hat sich auf Lyrik spezialisiert.
Sie schreibt an ihrer Dissertation über die Lyrikerin Anne Sexton, die auch unter Depressionen litt.
Michael ist im Versicherungswesen tätig und unzufrieden mit seinem Job.
Die beiden sind sich, was ihre politische Gesinnung und ihre Persönlichkeit betrifft, nicht besonders ähnlich.
Michael, offensichtlich ein Trumpwähler, hat etwas selbstgerechtes, spontanes und fatalistisches, während Julie, eine prototypische intellektuelle Linke, eher die Besonnene ist.
Michael, der das Gefühl hat, in einer gesellschaftlichen Zwangsjacke zu stecken, hat einen großen Traum und schafft es, seine Familie dafür zu begeistern: ein Jahr auf hoher See auf einer Segelyacht.
Julie ist zwar skeptisch, willigt aber schon deshalb ein, weil sie hofft, durch diese Auszeit ihre Ehe, in der es schon länger heftig krieselt, zu retten.
Kann das gelingen?
Eine Reise statt Paartherapie um Trennung zu vermeiden...
Mit der konkreten Schiffsreise treten Julie und Michael eine innere Reise an.
Während dieses Jahres entdecken die vier die fantastische Insellandschaft der Südsee und die Kinder freuen sich über die gemeinsame Zeit v. a. mit ihrem Vater.
Erinnerungen ploppen auf und die Eheleute setzen sich mit Träumen und Versäumnissen auseinander.
Statt sich näher zu kommen, schreitet ihre innere Distanzierung voran.
Die Reise birgt auch rein äußerlich Gefahren: die Nahrungsmittel werden knapp, die Technik hat ihre Tücken und ein gewaltiger Sturm zieht auf...
Nach ihrer Rückkehr liest Julie das Tagebuch ihres Mannes, das er während des Jahres auf hoher See und teilweise auch schon davor geführt hat.
Sie möchte dadurch Verständnis gewinnen. Für ihren Mann und für seine Beweggründe.
Wir lesen in „Unter uns das Meer“ von einer Schiffsreise, die mit ihrem Entdeckungscharakter, ihren Unwägbarkeiten, genussvollen, abenteuerlichen und schwierigen Momenten die naturgegebene Veränderung von zwischenmenschlichen Beziehungen symbolisiert.
Das Wetter und die Gezeiten sind wie die Tatsache, dass Beziehungen einer Dynamik unterliegen, vorgegeben, unbeeinflussbar und unberechenbar.
Vergleichbar dem Auf und Ab der Wellen, gibt es auch Höhe- und Tiefpunkte in Beziehungen.
Und manchmal ist der Wellengang zu heftig.
Vor allem dann, wenn die Partner so wie Julie und Michael sehr unterschiedlich sind, eigentlich nicht zusammenpassen und sich trotzdem ergänzen.
Die Geschichte wird retrospektiv in der Ich-Perspektive von Julie erzählt.
Unterbrochen und aufgelockert wird diese Erzählweise von den sehr persönlichen Tage- bzw. Logbucheintragungen ihres Mannes Michael und den kurzen Abschnitten, die aus der Sicht von Julies Tochter geschrieben sind.
Die Erzählweisen von Michael und Julie spiegeln dabei eindrücklich deren Persönlichkeiten wieder.
Auf der einen Seite die eher gedrückte und melancholische Julie, auf der anderen Seite der deutlich lebendigere und anpackendere Ton von Michael.
Überhaupt sind die gegensätzlichen Charaktere der Eheleute wunderbar gezeichnet. Die Vielschichtigkeit und Komplexität ihres Innenlebens wird deutlich und wir erleben Menschen mit Ecken und Kanten und Stärken und Schwächen.
Die Einschübe aus dem Tagebuch tragen zur Abwechslung bei und zahlreiche Fachbegriffe aus der Segelsprache machen den Roman sehr authentisch, auch wenn sie den Lesefluss etwas stören, weil ein Laie wie ich immer wieder recherchieren „muss“.
Aufrichtig und ungeschönt, wortgewandt und bildgewaltig, sowie packend, mitreißend und feinfühlig konfrontiert die Autorin den Leser mit der Schwierigkeit, im Gewirr der unzähligen Möglichkeiten des modernen, komplexen und durchdigitalisierten Lebens seinen individuellen Weg zu finden.
Die Autorin vermittelt die Bedrohlichkeit, die über der Reise und der Ehe liegt sehr eindrücklich.
Amity Gaige hat mit „Unter uns das Meer“ ein Buch geschrieben, das gleichermaßen Familiengeschichte, Reise- und Abenteuerroman sowie Psychogramm einer Ehe und Ehedrama ist, das sich durchgehend flüssig und phasenweise so spannend wie ein Thriller liest und das zum Nachdenken anregt und nachhallt.
Ich empfehle diesen außergewöhnlichen und tiefgreifenden Roman sehr gerne weiter.
Er ist keine leichte Kost, da er von einer konfliktreichen Ehe, einer dysfunktionalen Familie, traumatischen Erlebnissen und psychischen Erkrankungen handelt. Aber: That’s life.
Manchmal ist es nicht einfach und manchmal löst sich auch nicht alles in Wohlgefallen auf.
Das dünne kartonierte Buch mit dem schlichten, in beige und oliv gehaltenen Cover, auf dem ein Ziegenbock abgebildet ist, ist eine Augenweide.
Vorsatzpapier und Lesebändchen in grün vervollständigen ...
Das dünne kartonierte Buch mit dem schlichten, in beige und oliv gehaltenen Cover, auf dem ein Ziegenbock abgebildet ist, ist eine Augenweide.
Vorsatzpapier und Lesebändchen in grün vervollständigen den hochwertigen äußeren Eindruck.
Das Kind, ein kleines Mädchen im Grundschulalter, lebt bei seiner Großmutter, die einst viel gereist ist und gern Klavier gespielt hat.
Die beiden wohnen in einem Dorf, das sich in einem von Bergen umgebenen Tal in der Schweiz befindet.
Der Ort „ist nicht mehr als ein Fliegendreck auf der Karte.“ (S. 8)
Der Großvater, ein Jägersmann mit Güte und Humor, ist seit einem Jahr in Tamangur, dem Paradies für Jäger.
Er „hat es wahrlich verdient, in dieses Paradies eingelassen worden zu sein.“ (S. 22) ...und das, obwohl „er sich ganz plötzlich aus dem Staub gemacht hat, dieser Feigling“. (S. 37)
Auch der kleine Bruder des Mädchens und seine Eltern glänzen durch Abwesenheit und sind wie der Großvater trotzdem und gleichzeitig ständig präsent.
Der Ort, das Kind und die Großmutter sind namenlos.
Namen hat nur das Umfeld.
Beispielsweise Carlotta, die leicht schielende Strohpuppe mit Märzendreck auf der Nase, die eines Tages einer Erkundungs-Operation zum Opfer fiel.
Oder Elsa, eine der Seltsamen, die ein bisschen neben den Schuhen stehen, eine schöne Sprache und einen frischen Blick auf die Welt haben.
Elsa besucht die beiden oft und hilft der Großmutter manchmal bei der Hausarbeit.
Oder Chan, der Hund der Großeltern, dessen Schnaufen das Kind beruhigt und der laut Großmutter der Vater sämtlicher Welpen im Dorf ist, obwohl er nur noch einen Hoden hat.
Oder der kleine drahtige Kasimir, für den Alkohol die Kaminfegerbürste für die Seele ist.
Oder die kleine pfiffige Luzia aus der Alpenrose, mit der es dem Kind nie langweilig wird.
Wir erfahren, warum es von Vorteil ist, katholisch zu sein, lesen von Käse im gezuckerten Kaffee, von wunderbaren Geschichten, die der Opa für sein Enkelkind erfindet und von den fünf langen, gelben Hirschzähnen des Großvaters, die beim Kind eine Hühnerhaut hervorrufen.
Bald schon ahnen wir, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine Katastrophe gegeben haben muss, die zum Verschwinden des kleinen Bruders und der Eltern des Mädchens geführt hat.
An dem Unglück scheint das kleine Mädchen seinen Anteil gehabt zu haben. Vielleicht war es sogar dafür verantwortlich?
Manchmal wird das Kind von Schmerz, Sehnsucht, Albträumen und Schuldgefühlen heimgesucht.
Ich stieß immer wieder auf wunderschöne Formulierungen, die mich innehalten ließen:
„Die Erinnerung liegt dann überall herum wie ein schlafendes Tier und versperrt einem den Weg. Ständig muss man darüber stolpern, ihm ausweichen und wehe, man erwischt es mit der Fußspitze oder tritt gar aus Versehen drauf und es erwacht und trottet hinter einem her...“ (S. 20)
„Die Angst ist wie ein Jagdhund. Man muss ihn gut behandeln, aber man darf sich niemals von ihm beherrschen lassen.“ (S. 26)
„An gewisse Regeln muss man sich halten, sonst wird man haltlos, und die Großmutter hat etwas gegen Haltlosigkeit. Haltlosigkeit kommt kurz vor dem Absturz.“ (S. 43)
„Ich habe nicht verstanden, sagt Elsa, wie das ist mit der Angst. Kommt sie von außen und überfällt einen hinterrücks? Oder hockt sie in einem drin, igelt sich ein irgendwo in einem verborgenen Winkel… Und wenn man es am wenigsten erwartet, schlägt sie erbarmungslos zu?“ (S. 47)
„Oft ist das, was ein anderer oder eine andere sagt, nur halb so interessant wie das, was ich während eines inneren Spaziergangs mit mir selbst erlebe.“ (S. 117)
Man stolpert auch immer wieder über amüsante Stellen, die ein Schmunzeln hervorrufen:
„Warum sind deine Hände so groß?, fragt das Kind.
Weil die Großmutter so große Brüste hat. Die müssen Platz haben, eine in jeder Hand.“ (S. 24)
„Tamangur“ ist ein stiller, warmer, sehnsüchtiger und poetischer Roman, der etwas Märchenhaftes und Zartes hat und bei aller darunter liegenden Dramatik mit Humor nicht geizt.
Obwohl über der Geschichte ein Wölkchen von Melancholie hängt, bekommt sie durch die teilweise heitere und aufrichtige Sprache, den liebevollen Ton und die ruhige Erzählweise eine Leichtigkeit.
Dieses außergewöhnliche Schmuckstück ist eine inhaltliche und sprachliche Wucht und wird einen bleibenden und besonderen Platz in meinem Bücherregal bekommen.
Das Prosawerk „Tamangur“ der 1944 geborenen Schweizer Poetin und Erzählerin Leta Semadeni hat 2016 den Schweizer Literaturpreis erhalten.
Schon lange treibt die 57-jährige Fanny, stellvertretende Abteilungsleiterin in einem kleinen Supermarkt auf dem Land und verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, ziellos in einem von außen betrachtet ...
Schon lange treibt die 57-jährige Fanny, stellvertretende Abteilungsleiterin in einem kleinen Supermarkt auf dem Land und verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder, ziellos in einem von außen betrachtet komfortablen Leben dahin.
Sie fühlt sich im langweiligen Alltagstrott neben ihrem von Migräne geplagten Mann, der zufrieden seinem Ruhestand entgegenarbeitet, gefangen und hat das Gefühl, nur noch zu funktionieren und in einer Zwangsjacke zu stecken.
Der Tod einer Freundin rüttelt Fanny wach und bringt ihr inneres Gleichgewicht massiv ins Wanken.
Anstatt den Termin für ein psychotherapeutisches Erstgespräch wahrzunehmen, um in der Folge eine Psychotherapie zu beginnen, flüchtet sie spontan mit ihrem alten Auto.
Sie fährt einfach an der Ausfahrt vorbei und weiter Richtung Hütte in den Bergen.
Sie läuft schlicht und ergreifend davon, stellt ihre Familie vor vollendete Tatsachen und kehrt dem Rohbau den Rücken.
Auf ihrem Trip in die Freiheit und ihrer Reise zu sich selbst, erleidet sie Panikattacken und begegnet sie diversen Menschen, mit denen sie letztlich eine bunte Wohngemeinschaft auf der Pinzgauer Alm, der Hütte ihrer Eltern gründet.
Fanni, ihre Jugendliebe Ernst, die Ärztin Tippi, Berlin, das Ehepaar Ohnezweifel, Marek und der Biker Velten verschreiben sich einer Mission, der sie gemeinsam folgen. Sie wollen als Aussteiger-Clique einen Gegenentwurf zum konventionellen, normierten und durchdigitalisierten Routinealltag leben.
Karin Peschka stellt uns in ihrem rasanten und mitreißenden Roman, der etwas märchenhaftes hat, eine Art Road-Novel ist und mit etwas Phantasie auch als Heimatroman durchgehen kann, originelle und eigenwillige Menschen vor und erzählt mit Humor, Sprachwitz, Ironie und Intensität eine Geschichte, in der es um den Mut zur Veränderung, um unkonventionelle Lebensmodelle, um Freundschaft und um den Umgang mit Verlusten geht.
Außerdem wird en passant das brandaktuelle Thema der fortschreitenden Digitalisierung gestreift, was zwangsläufig ein Nachdenken und eine Auseinandersetzung mit den Themen Datenspeicherung, Privatsphäre und gläserner Mensch nach sich zieht.
„Putzt euch, tanzt, lacht“ ist eine feinfühlig und unaufgeregt erzählte Geschichte, die Hoffnung gibt, den Leser häufig zum Schmunzeln bringt und gleichzeitig ernsthafte und basale Themen anschneidet, über die es sich nachzudenken lohnt. Es geht um existentielle Fragestellungen, die sich nicht selten um die Lebensmitte herum stellen.
Karin Peschka ermuntert mit ihrem Roman zur Introspektion, zu mehr Spontaneität und dazu, eingefahrene und ausgetretene Wege auch mal zu verlassen.
Es geht um Leben nicht nur um Rationalität und Sicherheit, sondern es ist wichtig, in sich hinein zu horchen, seine Gefühle ernst zu nehmen und ihnen zu folgen.
Auch, wenn es Mut erfordert und Risiken birgt.