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Veröffentlicht am 10.11.2020

Tragödien und Bewährungsproben

Ein Lied in der Nacht
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„Kashmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint“ resümiert der Journalist und habilitierte Orientalist Navid Kermani 2007 nach einer Reise in das himmlische Tal im Himalaya, „dessen“, und ...

„Kashmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint“ resümiert der Journalist und habilitierte Orientalist Navid Kermani 2007 nach einer Reise in das himmlische Tal im Himalaya, „dessen“, und auch hier zitiere ich Kermani, „Gletscher, Seen und Wiesen leider nicht nur die Dichter und Reisenden verzückten“, steht es doch seit dem 14. Jahrhundert unter fremden Herrschern, die es eroberten, ausbeuteten und gern auch verschacherten.
Wie wahr das ist, erfährt der Leser der auf sieben Bände angelegten Kashmir-Saga, dessen fünfter hier zu besprechen ist, vom ersten Band an. Denn da begegnen uns gleich zwei Extreme: da ist die paradiesische Idylle, die der ehemalige Elitesoldat Vikram Sandeep, dessen Ruf nicht nur durch das unruhige Tal am Dach der Welt wie Donnerhall klingt, mit seinem Dar-as-Salam, dem Haus des Friedens, Heimat für eine Gruppe von Waisenkindern, geschaffen hat, für die er und seine Frau, die Traumatherapeutin Sameera, an Eltern statt verantwortlich sind. Sehr bald aber wird der Leser gewahr, dass diese Idylle nur vordergründig ist, denn die Protagonisten bewegen sich fortwährend auf einem Pulverfass, vor dem Hintergrund von Gewalt, Korruption, Mord und Unmenschlichkeit, die traurige Realität sind in dem geschundenen Kashmir, Land zwischen den Mächten und Spielball der Mächtigen, mit der Vikram, der alte, nur scheinbar gebändigte Löwe, sowie sein Freund Raja aus Pune in Indien, den er Bruder nennt, und beider Familien immer wieder auf so unliebsame wie auch lebensgefährliche Art und Weise konfrontiert werden.
In jedem einzelnen der Bände treffen wir auf böse Buben, oft Politiker oder solche, die in staatlichen Ämtern eine wichtige Position einnehmen, die sie scham- und gewissenlos zu ihrem eigenen Vorteil oder zur Verfolgung und Beseitigung ihnen unliebsamer Personen nutzen. Man bekommt schnell den Eindruck, dass, Kashmir und Indien – und, verfolgt man denn das Weltgeschehen aufmerksam, natürlich nicht nur diese beiden Länder, die Schauplatz der Romane aus der Feder der Autorinnen Simone Dorra und Ingrid Zellner sind – von besagten Typen nur so wimmeln, dass man niemandem wirklich trauen und schon gar nicht auf Gerechtigkeit bauen kann; denn entweder gelten Gesetze, die die Menschenrechte und ihre unterschiedlichen Aspekte schützen, nur in ganz bestimmten Gebieten oder sie sind so vage abgefasst, dass sie Auslegungssache sind und man, ist man denn gezwungen, sich auf eines dieser Gesetze zu berufen, schon großes Glück haben muss wie auch einen langen Atem, gepaart mit guten Beziehungen zu solchen Personen, die über einen gewissen Einfluss verfügen, um seine Rechte gewahrt zu wissen.
Das in Kashmir nicht eigentlich vorhandene Gesetz gegen Kindesmissbrauch – und hier komme ich nun explizit zu dem fünften Band, „Ein Lied in der Nacht“, ist so ein himmelschreiendes Beispiel! Da kommt einem schon der Verdacht, dass die da oben, die anscheinend nicht zu trennen sind von denen, die sich des Kindesmissbrauchs schuldig gemacht haben, schon vorsorglich sicherstellen, dass gewissen verachtenswerten Neigungen ungestraft nachgegangen werden darf! Sollte sich jemand daran stören, wird er bedroht oder gleich beseitigt!
Moussa, Pflegesohn der Sandeeps und selbst traumatisiertes Missbrauchsopfer, bringt das ins Rollen, was im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht: er erkennt durch Zufall einen seiner Peiniger, einen ambitionierten Politiker, und sowohl Vikram als auch Raja Sharma, der den Jungen liebt, als sei er der eigene Sohn, geben ihm das Versprechen, den Vergewaltiger zur Verantwortung zu ziehen, was der Beginn so spannender und temporeicher wie gefährlicher und emotional aufrührender Ermittlungen ist, von denen der erfahrene Kämpfer Vikram nur zu gut weiß, dass sie mit äußerster Vorsicht angegangen werden müssen, um nicht den Zorn und die Rache der mächtigen Schuldigen auf sich selbst und damit die Bewohner des Dar-as-Salam, seine Familie, zu ziehen.
Darüber hinaus entwickeln sich die Nachforschungen unerwarteterweise zu der schwersten Bewährungsprobe bisher für die tiefe Freundschaft zwischen dem alten Elitesoldaten und dem leiderprobten Raja, der 25 Jahre seines Lebens unschuldig im Gefängnis verbracht hatte, einer Freundschaft, wie sie schöner nicht sein, wie sie anrührender und herzerwärmender nicht beschrieben werden kann als von den Autorinnen, zwei wahrlich begnadeten Geschichtenerzählerinnen! Eine Freundschaft für die Ewigkeit? Nichts ist ewig – und daran erinnern uns Simone Dorra und Ingrid Zellner auch im vorliegenden Band immer wieder aufs Neue. Sie fabulieren Tragödien, die gerade dann in das Leben der Protagonisten hereinbrechen, wenn diese rundum glücklich sind, sich in relativer Sicherheit mitten in einer unsicheren Welt wähnen, stellen vor schier unüberwindbare Herausforderungen, breiten ein Tal der Tränen vor ihnen und gleichzeitig den erschütterten Lesern aus, durch die sie ihre liebenswerten Charaktere jedoch mit sicherer Hand leiten, aus denen sie sie mit Narben und Brüchen, aber dennoch mit dem Mut und dem Willen zum Weiterleben wieder hervortreten lassen, dünnhäutiger, gewiss, aber durch eigenes Leid noch menschlicher, gütiger, achtsamer, dankbarer für all das Gute, das ihnen vom Leben zum Geschenk gemacht wurde.
Von Band zu Band lernt der Leser die Hauptfiguren besser kennen, entdeckt er bislang nicht augenfällig gewesene Facetten, mit denen die Autorinnen sie ausgestattet haben, erschrickt darüber, wie das immer geschehen kann, wenn man tiefer hineinblickt in einen Menschen, lässt dieser es denn zu und ist man gewillt, sich auch mit den verborgenen Schattenseiten eines bis dahin verehrten Helden auseinanderzusetzen. Und Auseinandersetzung ist immer auch eine Annäherung, lässt die Möglichkeit des Verstehens und damit der Vergebung offen, die für mich eine der wesentlichen Botschaften in diesem mich außerordentlich bewegenden Roman ist, in dem ich rein gar nichts vermisse, was ich mir – in Kenntnis der Vorgängerbände – von ihm versprochen habe und in dem die beiden Autorinnen einmal mehr ihr Füllhorn an erzählerischen Fähigkeiten, am Schaffen emotional bewegendster Momente und nervenzerreißender Spannung über die Leser ausgießen. Das ist perfekte Unterhaltung, ganz gewiss nicht weniger als das!

Veröffentlicht am 18.10.2020

Wie der furchtsame Arthur die Feenwelt rettete

Potilla
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Die Feenkönigin Potilla ist eine sehr streitbare kleine Person, so ganz anders, als man sich Feen vorstellt, nicht zart und verletzlich sondern viel mehr machtvoll, sie kann zickig, launisch und richtig ...

Die Feenkönigin Potilla ist eine sehr streitbare kleine Person, so ganz anders, als man sich Feen vorstellt, nicht zart und verletzlich sondern viel mehr machtvoll, sie kann zickig, launisch und richtig wütend werden! Das bekommt der schüchterne Arthur, der noch nicht gelernt hat, für sich einzustehen, zu spüren, als er eben jene Potilla im Wald in einer alten Socke findet und mit nach Hause nimmt. Zuhause – das ist im Moment allerdings das Heim seiner Tante und seines Onkels, bei denen er die Ferien verbringen muss. Das hasst er aus tiefstem Herzen, denn leider gehören zu den Verwandten auch noch die beiden ungeliebten Zwillingsbrüder Benno und Bruno, richtige Rüpel, die ihm mit ihren ständigen Schikanen das Leben schwer machen.
Doch zum Glück gibt es das mutige Nachbarsmädchen mit den langen roten Haaren, Esther, in das Arthur heimlich verliebt ist und mit dem er so viel Zeit wie möglich verbringt!
Aber zurück zu der tyrannischen Fee! Was macht sie, dazu noch bewusstlos, in einer alten, stinkigen Socke? Das erfährt der ängstliche Arthur recht bald, denn er nimmt sie, wie gesagt, mit nach Hause, wo sie langsam wieder zu sich kommt und dem erstaunten Jungen eine geradezu ungeheuerliche Geschichte erzählt: es gibt da nämlich einen Unhold, der den Feenhügel, ihre Heimstatt draußen im Wald, überfallen und sie und ihr Volk vertrieben hat. Dieser Bösewicht hat das nicht zum ersten Mal getan, weiß also genau, wie man sich Zutritt zum Reich der Feen verschafft – indem man sie nämlich ihrer roten Mützen beraubt! Warum aber macht er das, fragt sich Arthur, und die Fee klärt ihn über die wundersamen Eigenschaften auf, die so ein Feenhügel besitzt. Zum Beispiel kann man darin seine Jugend wiedererlangen, was genau die Absicht des garstigen Mannes ist.
Durch den Eindringling aber sind die nun mützenlosen Feen nicht nur ihrer Heimat beraubt, sondern werden auch sterben müssen, genauso wie der Wald und alle seine Bewohner! Das muss um jeden Preis verhindert werden, die Folgen wären in vielerlei Hinsicht verhehrend! Früh klingt hier schon an, was heute auf keiner politischen Agenda fehlen darf: Schutz und Bewahrung unseres Lebensraumes und seiner Flora und Fauna!
Ein Glück, dass Potilla ausgerechnet auf ein Kind wie Arthur gestoßen ist, wie sich schnell herausstellt. Der Junge hat zwar keinen Schneid, aber den hat seine Freundin Esther reichlich – und aus deren roten Haaren stellt die findige Potilla nun flugs Mützchen her, die es ihr ermöglichen, zurück in den Feenhügel zu gelangen und den Eindringling zu verjagen! Ganz klar, dass Esther nicht davon abzuhalten ist, Potilla zu begleiten – und da er vor ihr nicht als der Feigling und Zauderer dastehen möchte, der er leider nun mal ist, muss Arthur notgedrungen auch mit! Wenn da nur nicht die dreisten Zwillinge wären, die extrem interessiert sind an Potilla, die Arthur auf seinem Arm umherträgt, ihnen vorgaukelnd, dass so ein Püppchen gerade der letzte Schrei sei und dass jeder in der Stadt mittlerweile damit herumliefe ( pfiffig ist Arthur also schon! ). Doch so recht trauen die ungebärdigen Brüder der Sache nicht und schleichen der kleinen Prozession, die sich des Nachts zum Feenhügel aufmacht, hinterher – was für sie freilich fatale Folgen haben wird, denn Potilla, die in ihnen einen gefährlichen „Doppling“ sieht, lässt sie flugs zu Gummibärchengröße schrumpfen, bequem in ein kleines Schächtelchen passend, das Arthur in seiner Hosentasche verschwinden lässt.
Ja, und nun kann dem Abenteuer eigentlich nichts mehr im Wege stehen, im Laufe dessen Arthur über sich selbst hinauswächst, seine Angst besiegt und lernt, dass es sich lohnt, für seine Freunde einzustehen, selbst wenn diese ein wenig seltsam sind. Schließlich wird er, ausgerechnet er, den alle hänseln und nicht für voll nehmen, zum Retter des Feenvolkes – denn dass es genau darauf hinauslaufen würde, weiß der junge Leser natürlich, zumal dann, wenn er mit Cornelia Funkes Kinderbüchern ein wenig vertraut ist, in denen eigentlich immer das Gute über das Böse siegen darf, in dieser Hinsicht treu der Märchentradition folgend.
Und dieses frühe Kinderbuch der Autorin, 1992 erstveröffentlicht, lange also vor ihren großen Erfolgen, mit denen sie sich auch international etablieren konnte, dazu noch mit ihren eigenen anschaulichen Illustrationen versehen, hat alles, was wir aus ihren späteren Büchern kennen, ist voller Magie, sprühender Einfälle und Humor, wundersamer Ereignisse und viel, viel Herz. Ein kleines Meisterwerk der Erzählkunst, denn auch Funkes Sprache hat noch nie etwas zu wünschen übriggelassen, ist kraftvoll und zart gleichzeitig, voller Poesie und Wärme. Kinderherz, was willst du mehr?
Interessant ist auch, dass Funke ausgerechnet einen Jungen zum Retter der Feenwelt macht, denn eigentlich steht so etwas traditionell doch nur Mädchen zu, nicht wahr? Aber die Autorin hält sich auch in Bezug auf ihre Protagonisten nicht an Klischeevorstellungen, genauso wenig, wie sie ihre Potilla nicht als das gewohnte zarte, flatternde Wesen darstellt sondern es mit schillernden Facetten ausstattet, mit denen die energische kleine Chefin ihres Volkes immer wieder überrascht.
Nein, Mainstream-Bücher schreibt die von der Buchillustratorin zur Buchschreiberin aufgestiegene – was ein großes Glück für die Kinder- und Jugendbuchwelt ist! - Autorin gewiss nicht. Mutig weicht sie von den eingetretenen Pfaden ab, und der Erfolg gibt ihr Recht!
Fazit: „Potilla“ ist ganz entschieden eines der Bücher, die in keiner guten Büchersammlung für Kinder fehlen sollten!

Veröffentlicht am 18.10.2020

Mit einer alten Fliese ins Jahr 1492

Alhambra
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Eher ungern und eigentlich nur seiner Mutter zuliebe nimmt Boston an der Klassenfahrt der Spanischschüler seiner Schule nach Granada teil. Er ist ein Einzelgänger, findet nur schwer Anschluss, obwohl er ...

Eher ungern und eigentlich nur seiner Mutter zuliebe nimmt Boston an der Klassenfahrt der Spanischschüler seiner Schule nach Granada teil. Er ist ein Einzelgänger, findet nur schwer Anschluss, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht als dazuzugehören, anerkannt zu werden von seinen Klassenkameraden, die in ihm nur den neunmalklugen Streber sehen. Und so bemüht er sich nach Kräften, seinen Lerneifer, für den er sich beinahe schämt, zu kaschieren und sein Wissen für sich zu behalten – doch leider nutzt ihm das nichts, er ist und bleibt der Junge ohne Freunde!
Und nun noch zwei Wochen Granada! Wie soll er das nur überstehen? Nicht, dass ihn die Stadt nicht interessieren würde, denn das tut sie – und längst hat er sich so viel Wissen angeeignet über die südspanische Stadt, einst die letzte Bastion von „al Andalus“, dem muslimisch-arabischen Königreich, das die Mauren auf der spanischen Halbinsel errichtet und 700 Jahre lang innehatten. Aber alleine zu erkunden macht Boston überhaupt keine Freude! Doch gerade als er sich bei einem Besuch der Alcaicería, dem früheren Seidenmarkt der Stadt, durch den sich heutzutage Touristenströme schieben, von Herzen wünscht, zuhause geblieben zu sein, nimmt die Klassenfahrt für ihn eine geradezu unglaubliche, eine phantastische Wendung: als Boston nämlich am Stand des abergläubischen Straßenhändlers Manuel Corazón eine alte, staubige Fliese berührt, öffnet sich ein Zeitfenster und der schüchterne Junge wird in eine Zeit katapultiert, als Granada das Zentrum der europäischen Politik war, als die „Katholischen Könige“, Isabella von Kastilien und Fernando von Aragón mit der Eroberung des letzten maurischen Königreiches Granada und der Einnahme der Alhambra - dem Symbol für politische Macht und Reichtum, gleichzeitig für Schönheit der Phantasie - und der Vertreibung „Boabdils“, des letzten Maurenherrschers, die Reconquista beendeten und anstelle des hochzivilisierten Spaniens, in dem Wissenschaft und Künste, Architektur und die Heilkunst florierten, in dem darüber hinaus ein reger Austausch zwischen den verschiedenen Religionen – Christen, Juden und Muslime – stattfand, deren Zusammenleben im Übrigen weitgehend konfliktarm verlief, die Inquisition unter dem berüchtigten Torquemada einläuteten, die mit ihrer Schreckensherrschaft zunächst gegen die Juden, dann gegen die Araber und zum Schluss gegen praktisch jeden wütete und Spanien direkt ins finsterste Mittelalter zurückwarf.
Doch noch kündigte sich das kommende Unheil nur durch finstere Wolken am Horizont an, als Boston nun im geschichtsträchtigen Jahr 1492 ankam – verstört, ungläubig, voller Angst, nicht begreifend, was mit ihm geschehen war, und alsbald in das Abenteuer seines Lebens hineingezogen wurde und gar um das nachte Überleben kämpfen musste, hielt man ihn doch aufgrund des Inhaltes seines Rucksacks, unter anderem einen Hochglanz-Reiseführer und ein Handy, für einen Teufelsbündler, auf den der Scheiterhaufen wartete...
Und wären da nicht die beiden Jungen Salomon, Sohn des Juden Isaak, und der Araber Tariq gewesen, der seinen Emir, Boabdil höchstselbst, beim nie stattfindenden Kampf gegen die katholischen Könige unterstützen wollte, und nicht zuletzt Isabella und Fernandos Tochter Johanna, die später als „Johanna die Wahnsinnige“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, - wer weiß, ob die Zeitreise ein gutes Ende, ja obendrein auch noch die Weltgeschichte, nicht einen ganz anderen Verlauf genommen hätte....
Und wie hätte sich Bostons Abenteuer, eingebettet in die sich überschlagenden geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1492, wohl gelesen, wenn es nicht Kirsten Boie, eine der renommiertesten, vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen, völlig zu Recht dekoriert mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen, unter anderem 2007 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises, geschrieben hätte? Keine recherchiert so sorgfältig wie sie, kaum jemand sonst hebt sich so hervor durch Klarheit und Schönheit der Erzählung, Detailreichtum und dem Schaffen einer unglaublich eindrucksvollen und eindringlichen Atmosphäre.
Der Fantasy-Romane gibt es gar viele, mehr oder minder einfallsreiche, mehr oder minder originelle – und ob ihrer Einförmigkeit auch leider mehr oder minder langweilige. Inzwischen ist, so meine ich, ein gewisser Sättigungsgrad erreicht und man kann sich die meisten Neuerscheinungen, die unter dem Strich wenig Neues zu bieten haben und ein Aufguss von längst hinreichend bekannten sind, im Grunde sparen. „Alhambra“ hingegen, 2007 bei Oetinger erschienen, gehört zu den löblichen, immer seltener werdenden Ausnahmen, besticht durch hohe sprachliche Qualität und durch eine enorm spannende, den Leser mitreißende Handlung, ist eine Mischung aus sehr gut gemachtem Geschichtsunterricht, fußt die Erzählung doch auf den historischen Tatsachen, soweit diese überliefert sind, und Abenteuerroman mit Fantasy-Elementen, die natürlich die Zeitreise selbst ist.
Bis auf die beiden jugendlichen Protagonisten im Granada 1492, Salomon und Tariq, einen freundlichen Mönch und einen gewissen bösartigen Soldaten, dessen Hass ihn zu seltsamen Handlungen verleitet, sind alle Mitwirkenden historische Personen – wobei ich von der Bezeichnung „Persönlichkeiten“ Abstand nehmen möchte! -, mit eben jenen Eigenschaften ausgestattet, die die Geschichtsschreibung überliefert hat, angefangen bei der fanatisch frommen Isabella von Kastilien und ihrem geldgierigen Schürzenjäger-Ehemann Fernando, über den blutrünstigen, sich an seinen eigenen Grausamkeiten weidenden Großinquisitor Torquemada bis hin zu – Cristóbal Colón höchstpersönlich! Letzterer sorgt für aufschlussreiche Auftritte, denn er ist zu Bostons Ankunft gerade dabei, die Majestäten um Ausrüstung seiner Schiffe für die vermeintliche Entdeckung des westlichen Seeweges nach Indien zu ersuchen – und erweist sich dabei als alles andere als Sympathieträger! Im Gegenteil muss es sich bei ihm um einen in Wirklichkeit recht unangenehmen Mann gehandelt haben, von seltener Arroganz und Unverschämtheit und, ähnlich wie Isabella, von einem religiösen Wahn besessen.
Nun, der große Entdecker mit zweifelhaftem Charakter spielt eine gewichtige Rolle in der Geschichte um Bostons unfreiwillige Zeitreise, auf die, um nicht zu viel zu verraten, an dieser Stelle jedoch nicht ausführlicher eingegangen werden soll, genauso wenig wie auf den so logischen wie originellen Ausgang der Geschichte, die ich als Paradestück ihres Genres empfunden habe und vorbehaltlos empfehlen kann!

Veröffentlicht am 17.10.2020

Hercule Poirots wundersame kleine graue Zellen

Alibi
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Lang ist es her, dass ich Agatha Christies Meisterwerk „The Murder of Roger Ackroyd“ ( dt. Titel: „Alibi“ ) zum ersten Mal gelesen habe. Zu dieser Zeit war ich bereits ein Fan der englischen Kriminalautorin, ...

Lang ist es her, dass ich Agatha Christies Meisterwerk „The Murder of Roger Ackroyd“ ( dt. Titel: „Alibi“ ) zum ersten Mal gelesen habe. Zu dieser Zeit war ich bereits ein Fan der englischen Kriminalautorin, von der ich auch heute, und unzählige Krimis und Thriller später, noch immer meine, dass sie den Titel „Queen of Crime“ völlig zu Recht trägt, mit ihrer Art zu schreiben sehr vertraut und mir sicher, auch diesmal, nach sorgfältigem Lesen und vermeintlichem Achten auf die vielen kleinen Hinweise, die sie clever in der Handlung versteckt, zu gegebener Zeit die Identität des Täters zu entdecken. Bis kurz vor Schluss hatte ich mir eine wunderbare und, davon war ich überzeugt, wasserdichte Theorie zusammengebastelt – und dann kam die Überraschung! Faustdick!
Nie hatte ich mit einer solchen Auflösung gerechnet, die mich fast ein wenig ärgerte, betrachtete ich sie doch als etwas hinterhältigen Trick Dame Agathas, mit dem sie den Leser an der Nase herumführte. Wo waren sie, die sonst unfehlbar vorhandenen Hinweise, die den Leser in all ihren übrigen Krimis auf die rechte Spur führten? Die Puzzleteile hatte ich zwar eifrig gesammelt, doch wollten sie nicht ins Gesamtbild passen, ohne das eine, das entscheidende Teilchen, dass nur Agatha Christie persönlich kannte. Und so beschloss ich, „The Murder of Roger Ackroyd“ als Fehlschlag abzutun und schob ihn in die hinterste Ecke des Krimiregals, aus dem er kürzlich erst wieder, ganz unerwartet, zum Vorschein kam – um erneut gelesen zu werden? Obwohl ich den so unerwarteten Mörder noch immer präsent hatte? Kurzentschlossen schlug ich den vermeintlichen Fehlschlag auf und begann mit der Lektüre, aufmerksam wie damals auch, um dem einerseits gepriesenen und andererseits gescholtenen Meisterwerk, das 2013 von „The Crime Writers' Association“ zum besten Kriminalroman aller Zeiten gekürt worden war, eine neue Chance zu geben!
Ob es daran lag, dass ich anstelle der siegesgewissen Überheblichkeit, mit der ich glaubte, einer Agatha Christie gewachsen zu sein, mit vorsichtigem Respekt zu Werke ging, mir wichtig erscheinende Passagen gleich zweimal las, um bloß nichts zu übersehen, was, so versicherten die begeisterten Kritiker dieses, Dame Agathas sechstem Kriminalroman, doch so augenfällig war? Und siehe da – von Anfang an war die Leuchtspur zu sehen, mit der die englische Lady auch dem blindesten unter ihren Lesern, zu denen auch ich mich zählen muss, den Weg gewiesen hat!
Wenn man diese Spur nicht verliert in dem üblichen Labyrinth von falschen Fährten und geschickt eingebauten Nebensächlichkeiten, wie man denken könnte, wenn man die Tatsache ignoriert, dass es bei Dame Agatha keine Nebensächlichkeiten gibt, nichts, was überflüssig wäre, wenn man es denn logisch und folgerichtig interpretiert, also seine „kleinen grauen Zellen“ benutzt, auf denen der belgische Detektiv Hercule Poirot, der in dem verzwickten Krimi seinen dritten Auftritt hat, nicht müde wird zu insistieren – hier mehr als in jedem anderen Krimi, in denen der etwas lächerlich wirkende kleine Mann mit dem großen Schnurrbart und dem noch größeren Ego ermittelt -, dann führt sie unweigerlich zu demjenigen aus einer ansehnlichen Gruppe von Verdächtigen, die, was für Poirot von Anfang an klar ist, allesamt etwas zu verbergen haben, der den reichen Roger Ackroyd ins Jenseits befördert hat!
Und dann erst erkennt man, wie klug und umsichtig, auch nicht das kleinste Detail außer Acht lassend, die berühmte Britin ihren Kriminalroman aufgebaut hat – und kann nicht umhin, ihr höchstes Lob zu zollen!
Ein wahrhaft grandioser Whodunnit ist ihr da gelungen, einer, von dem ihre Biographin Laura Thompson sagte, er sei „der größte, der ultimative Kriminalroman“, der wegweisend war, der das Genre, dem sie sich verschrieben hatte, nachhaltig beeinflusste, denn sie wagte damit etwas ganz Neues, etwas, das inzwischen natürlich viele Nachahmer, aber keinen, der ihr gleich käme, gefunden hat.
Zum Schluss meiner Überlegungen bliebe anzumerken, dass jeder Versuch einer ausführlicheren Inhaltsangabe die Gefahr birgt, dem unvoreingenommenen Leser Wissen zu vermitteln, das ihn allzu frühzeitig auf die richtige Spur bringt und ihn somit des Vergnügens beraubt, seine eigenen Theorien aufzubauen und daraus die richtigen – was schwer sein dürfte - Schlüsse zu ziehen.
Eines ist gewiss – es lohnt sich, diesen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Kriminalroman zu lesen, schon alleine, um dem klugen, von sich selbst und seinen überragenden Fähigkeiten – völlig zu Recht übrigens! - so überzeugten kleinen Detektiv, der sich eigentlich in King's Abbott, dem fiktiven Schauplatz des Romans, zur Ruhe gesetzt hatte, um dort ausgerechnet Kürbisse zu züchten, über die Schulter zu schauen und ihn mit der ihm eigenen Methodik und Systematik, unter Gebrauch der bereits erwähnten sehr aktiven kleinen grauen Zellen, den wohl erstaunlichsten Fall nicht nur seiner eigenen Karriere sondern auch derjenigen der Schriftstellerin Agatha Christie, geborene Miller, in zweiter Ehe verheiratete Mallowan, lösen zu sehen!

Veröffentlicht am 17.10.2020

Wenn der Winter zu früh kommt....

Kein Keks für Kobolde
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In einem Interview mit der Zeitschrift Capital aus dem Jahr 2017 sagte Cornelia Funke, längst etablierte und gerade in ihrer Wahlheimat, den Vereinigten Staaten, allseits beliebte und bekannte Autorin ...

In einem Interview mit der Zeitschrift Capital aus dem Jahr 2017 sagte Cornelia Funke, längst etablierte und gerade in ihrer Wahlheimat, den Vereinigten Staaten, allseits beliebte und bekannte Autorin von Kinder- und Jugendbüchern, dass sie ihre Karriere und den damit einhergehenden Wohlstand Kindern zu verdanken habe!
Nun, in erster Linie natürlich hat sie ihren Erfolg den Büchern zu verdanken, die sie Anfang der 90er Jahre für Kinder zu schreiben begann – phantasievolle, zumeist auch noch von ihr selbst illustrierte Geschichten, mit denen sie offensichtlich den Geschmack ihrer jungen Leser ganz genau traf. Eines ihrer frühen Bücher ist das 1994 erschienene, recht umfangreiche Werk „Kein Keks für Kobolde“, dem ich im folgenden ein paar Gedanken widmen möchte.
Selten nur sind die Hauptcharaktere bei Cornelia Funke ganz normale Kinder, die als Identifikationsfiguren für ihre Leser dienen können. Zumeist stehen sie, handelt es sich bei ihnen denn um Menschenkinder, mit Zauberwesen im Bunde und oft kommen die Romane der Autorin ganz ohne Menschen aus. Wie in vorliegender Geschichte, deren Protagonisten drei reizende, mutige, verfressene und rundum liebenswerte Kobolde sind: Neunauge, Feuerkopf und Siebenpunkt! Sie wurden von einem frühen Winter überrascht, für den sie, trotz Neunauges Warnungen, keine Vorräte angelegt haben, in der Hoffnung, auf dem Campingplatz, in dessen Nähe sie ihre jeweiligen Behausungen eingerichtet haben, schon genug Essbares zu finden, um den Winter über nicht hungern zu müssen. Ja, sie stibitzen, unsre drei neuen Freunde, obwohl sie doch wissen, dass das eigentlich ganz und gar nicht in Ordnung ist! Doch was sollen sie tun? Die Menschen dringen in ihre Lebensräume ein, rauben sie nach Herzenslust aus und ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, den Tieren – und auch den unsichtbaren Wesen, die Frau Funkes Welt bevölkern – ihre ureigene Nahrung für den Winter übrig zu lassen....
Doch die Rechnung von Neunauge und ihren beiden Freunden will nicht so recht aufgehen, denn die Camper haben frühzeitig den Platz verlassen und es bleibt ihnen nur der Braune, Aufseher auf dem Campingplatz, mit seinem aggressiven Hund. Klar, im Haus des Braunen gibt es genug Vorräte – also schmieden die drei einen verwegenen Plan, um an Gummibärchen & Co., ihre bevorzugte Nahrung, heranzukommen, damit sie den Winter überstehen können. Dass der Plan nicht so umzusetzen ist, wie sie es erhoffen, kann man sich denken, doch mit Geistesgegenwart, Wagemut und auch einer Portion Glück können sich die Kobolde mit dem ergatterten Wintervorrat in ihre Höhlen zurückziehen. Wenigstens denkt das der Leser!
Doch ist die Geschichte lange noch nicht zu Ende; und hat in diesem ersten Teil der Humor trotz der Not der sympathischen kleinen Wesen für einen gewissen Wohlfühlfaktor gesorgt, so geht es im zweiten Teil weitaus ernster, düsterer und gefährlicher zur Sache! Kaum nämlich bewegen sich Neunauge und Feuerkopf weg von der Höhle, die sie, weil man sich gegenseitig so viel besser wärmen kann, mit dem gemütlichen, ewig hungrigen Siebenpunkt teilen, bricht das Unheil über die bislang friedliche kleine Koboldwelt herein! Wie im Menschenreich so gibt es natürlich auch hier bösartige Gesellen, solche, die am liebsten auf Kosten anderer leben und Freude an Grausamkeiten haben. Eine Horde übelwollender, grölender Kobolde überfällt Siebenpunkt, fesselt und knebelt ihn und zieht mit den Vorräten, die unsren Freunden über den Winter helfen sollten, davon.
Jetzt ist guter Rat teuer, sollte man meinen! Doch Feuerkopf, der im Gegensatz zu Siebenpunkt nicht zu den Ängstlichen gehört, ist hell erbost und wild entschlossen, das Hauptquartier der Verbrecherbande zu finden und sich ihren Nahrungsvorrat wieder zurückzuholen. Dass das ein wagemutiges Unterfangen ist, zumal der Chef der Bande, der Weiße Kobold, ein ausgesprochen gefährliches Exemplar seiner Gattung ist, dem man nur mit List beikommen kann, wird schnell klar. Und nun wird es äußerst turbulent für die drei Kobolde, mehr als einmal geraten sie in scheinbar aussichtslose Situationen – dennoch bewähren sie sich, bewährt sich die feste Freundschaft, die sie verbindet. Gemeinsam sind sie stark!
Das zeigt Cornelia Funke auf eindrucksvolle Weise, genauso, wie sie ein Happy-End zaubert, das die jungen Leser entschädigt für all die Angst, die sie um Neunauge und ihre Freunde ausstehen mussten!
Und wenn dann die lange Geschichte noch mit den Illustrationen der Autorin geschmückt ist, die wunderschön von Frau Ziegenhals-Mohr nachkoloriert wurden, so hat man ein rundum gelungenes Cornelia Funke-Buch vor sich, das man sicher gerne noch ein weiteres Mal lesen kann, am besten im Winter, wenn es draußen so richtig beinkalt ist, mit einer Tüte Gummibärchen und einem Teller Kekse neben sich, versteht sich....