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Veröffentlicht am 11.11.2020

Lebendige Vergangenheit

Vergeltung
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Es sind meist historische Ereignisse, die der produktive englische Autor Robert Harris als Grundlage für seine Romane wählt, oft aus der jüngsten Vergangenheit. So auch in seinem neuesten Werk „Vergeltung“, ...

Es sind meist historische Ereignisse, die der produktive englische Autor Robert Harris als Grundlage für seine Romane wählt, oft aus der jüngsten Vergangenheit. So auch in seinem neuesten Werk „Vergeltung“, in dem die Entwicklung und der Einsatz der nationalsozialistischen „Vergeltungswaffe 2“, kurz „V2“, bei den Luftangriffen auf England Mittelpunkt der Handlung ist.

Im Herbst des Jahres 1944 wird London erstmals mit der V2 bombardiert, aber das ist erst der Anfang. Sie ist tückisch, fliegt sie doch lautlos mit Überschallgeschwindigkeit und kann deshalb vor dem Einschlag weder von Radar noch Aufklärern entdeckt und geortet werden Die Resultate sind verheerend, unzählige Menschen fallen diesen Angriffen zum Opfer.

Fünf Tage, zwei unterschiedliche Sichtweisen, wobei der Autor nicht in die Freund-Feind-Gut-Böse Falle tappt, sondern sensibel und deshalb umso eindringlicher mit dem Thema umgeht. Hier der Ingenieur Rudi Graf, Freund und Mitarbeiter Wernher von Brauns, der an den mobilen Startrampen in Scheveningen für die größtmögliche Verwüstung am Zielort verantwortlich ist. Dort Kay Caton-Walsh, Offizierin der Women’s Auxiliary Air Force, (Frauenhilfsdienst der britischen Luftwaffe), die anhand von Fotos den Abschussplatz der V2 ausfindig machen und die Flugbahn berechnen soll. Harris erzählt von gekaperten Kindheitsträumen, von moralischer Verantwortung und der Desillusionierung seiner Protagonisten, von den Schrecken des Krieges, den ausgemergelten Zwangsarbeitern, die unter menschenunwürdigen Zuständen im Außenlager die V2 montieren. Und nicht zuletzt von Wernher von Braun, dem Opportunisten und elitären Günstling der Nationalsozialisten, dessen Mitmenschlichkeit durch seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz auf der Strecke geblieben ist.

Ein Stück lebendiger Vergangenheit, gut recherchiert, wie immer routiniert geschrieben, hochspannend durch den Wettlauf gegen die Zeit, durch die der Roman eine ganz besondere Dynamik entwickelt. Lesen!

Veröffentlicht am 10.11.2020

Zur Lage der Nation

Brandsätze
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„Brandsätze“ist nicht nur ein hochaktueller sondern auch ein höchst brisanter Roman, lenkt er unseren Blick doch auf eine zutiefst gespaltene amerikanische Gesellschaft, deren Leben nicht nur von Vorurteilen ...

„Brandsätze“ist nicht nur ein hochaktueller sondern auch ein höchst brisanter Roman, lenkt er unseren Blick doch auf eine zutiefst gespaltene amerikanische Gesellschaft, deren Leben nicht nur von Vorurteilen und Diskriminierung sondern auch von Angst im täglichen Miteinander geprägt ist. Diffuse Ängste, die Reaktionen provozieren, die über Generationen hinweg Familien verändern können und eine Pyramide von Vorurteilen, bei denen die Hautfarbe eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

Zwei Familien, Täter und Opfer, ihr Schicksal verzahnt. Beide kommen zu Wort, wobei letztendlich bei genauem Hinsehen beide Familien Opfer sind. Opfer einer Gesellschaft, deren Wohlstand sich auf systemischen Rassismus gründet und der auch heute noch immer gelebt wird.

1991, South Los Angeles. Latasha Harlin. 15 Jahre alt und schwarz, geht in einen Mini-Market, um sich etwas zu trinken zu kaufen. Das Geld in der Hand, bereit zu zahlen, packt sie die Flasche in ihren Rucksack und wird daraufhin von der koreanischen Ladenbesitzerin des Diebstahls verdächtigt. Es kommt zu einem Wortgefecht und einem Handgemenge, das Mädchen reißt sich los, geht Richtung Ausgang und wird daraufhin von ihr in den Hinterkopf geschossen. Latasha ist auf der Stelle tot.

Wenn du schwarz bist, zählt dein Leben in den Vereinigten Staaten nichts. Die Vergangenheit und Gegenwart beweisen es tagtäglich, so auch in dem in den darauffolgenden Prozess. Die Ladenbesitzerin wird zu einer Bewährungsstrafe, gemeinnütziger Arbeit und 500 $ Strafe verurteilt. Soweit der reale Hintergrund, vor dem Steph Cha (Tochter koreanischer Immigranten) in ihrem Roman die Geschichte zweier Familien erzählt, die durch ein Tötungsdelikt auf unheilvolle Weise miteinander verbunden sind.

2019, Los Angeles. In den Straßen schwillt die Wut wegen wiederholter rassistischer Übergriffe durch die Polizei. Ein Vermummter schießt auf eine Koreanerin, die mit ihrer Tochter auf dem Heimweg ist. Es stellt sich heraus, dass das Opfer vor Jahren ein schwarzes Mädchen namens Ava getötet hat und damit quasi ungeschoren davon gekommen ist. Keine Frage für die Polizei, dass der Schütze Rache nehmen wollte. Und das grenzt die Zahl der Verdächtigen auf die Familie Avas ein.

Veröffentlicht am 06.11.2020

Ohne Gyros, Bifteki und Souflaki

Tante Poppis Küche
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Ein griechisches Kochbuch ohne Gyros, Bifteki und Souflaki, geht das? Ja, es geht, und wie gut das geht! Wer schon einmal das Glück hatte, sich in Griechenland abseits der touristischen Hotspots durch ...

Ein griechisches Kochbuch ohne Gyros, Bifteki und Souflaki, geht das? Ja, es geht, und wie gut das geht! Wer schon einmal das Glück hatte, sich in Griechenland abseits der touristischen Hotspots durch die Speisekarten kleiner Tavernen zu essen und auch in die Kochtöpfe zu schauen, wird mir zustimmen. Nicht umsonst empfehlen Internisten weltweit die „Kreta-Diät“, wenn es darum geht, aus dem Gleis geratene Blutwerte wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

„Tante Poppis“ Küche ist aber kein Diätkochbuch, sondern eine inspirierende Sammlung traditioneller Rezepte (dazwischen locker eingestreut Geschichten aus der Großfamilie). Eine ehrliche, preiswerte Alltagsküche ohne Schnickschnack, in der die Gerichte ausnahmslos vegetarisch, teilweise auch vegan sind. Weder die Zutaten noch die Gewürze sind exotisch, sondern in jedem Supermarkt erhältlich. Allerdings sollte man, wie so oft wenn frisches Gemüse verarbeitet wird, etwas mehr Zeit für die Vorbereitung einplanen. Das Kochen an sich geht dann wieder fix - vieles wird im Backofen zubereitet – sodass man in der Regel nach einer Stunde ein leckeres und gesundes Essen auf dem Tisch stehen hat.

Die Einteilung der Rezepte entspricht der klassischen Menüfolge: Die traditionellen „Meze“ (Vorspeisen) werden von „Suppen & Eintöpfen“ gefolgt, die „Hauptgerichte“ (viele Aufläufe bzw. gefüllte Gemüse) durch „Pites & Brote“ ergänzt. Den Abschluss bildet „Süsses“, wobei hier fast ausnahmslos in jedem Rezept Honig zum Einsatz kommt.

Jedes Gericht wird auf einer Doppelseite vorgestellt, wobei auf der einen Hälfte Zutaten und Zubereitung beschrieben sind, während die andere Hälfte in einem ehrlichen Foto das fertige Essen zeigt.
Ganz gleich, ob Neuling oder Küchenprofi, wer neben Abwechslung auf dem Teller auch eine Prise Urlaubsfeeling in die Küche bringen möchte, sollte bei diesem Kochbuch zugreifen. Kali orexi – guten Appetit!

Veröffentlicht am 04.11.2020

Frischer Wind aus Kanada

Aus dem Schatten des Vergessens
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Der abgesagten Frankfurter Buchmesse 2020 sei Dank, die Kanada als Gastland ausgewählt hat. So tauchen aktuell vermehrt kanadische Autoren auf dem Buchmarkt auf und bekommen endlich die Aufmerksamkeit, ...

Der abgesagten Frankfurter Buchmesse 2020 sei Dank, die Kanada als Gastland ausgewählt hat. So tauchen aktuell vermehrt kanadische Autoren auf dem Buchmarkt auf und bekommen endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdient haben. Ein willkommener Trend, denn sie müssen sich wahrlich nicht vor ihren englischsprachigen Kollegen verstecken, die den Markt dominieren.

Allerdings wundere ich mich gerade im Fall Martin Michaud einmal mehr über die Veröffentlichungspraxis, denn "Aus dem Schatten des Vergessens" ist bereits der dritte Band der mittlerweile fünfbändigen Reihe mit Sergent-Détective Victor Lessard und seiner Partnerin Jacinthe Taillon, mehrfach mit renommierten kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet und verfilmt.

Eine ermordete Psychologin und ein verschwundener Anwalt, ein Obdachloser, der Selbstmord begeht und deren Ausweispapiere in der Tasche hat. Kanadische und amerikanische Geschichte, mittelalterliche Folterinstrumente und Galgenmännchen. Verweise auf das Kennedy-Attentat und eine Stimme aus dem Grab. Klingt verwirrend? Komplex? Ist es auch, zumindest zu Beginn, woran auch die vielen kurzen Kapitel maßgeblich beteiligt sind. Aber der Autor schafft es, das Interesse des Lesers zu wecken, bei der Stange zu halten und all dies routiniert zusammenzuführen, wobei die Spannung von Seite zu Seite steigt.

Der Stil ist schnörkellos und direkt, stellenweise humorvoll, die beiden Protagonisten sind sympathisch präsent, wenn auch nicht fehlerfrei und mit eigenen Problemen kämpfend, was in diesem Genre ja nichts Neues ist. Ein intelligenter Thriller, spannend und mit einigen überraschenden Wendungen. Eine Reihe, die ich definitiv weiterverfolgen werde.

Veröffentlicht am 29.10.2020

Schmutzige Geschäfte

Kreuzberg Blues
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Wer Wohneigentum besitzt, kann sich glücklich schätzen. Für Mieter wird es, besonders in den Großstädten, schon seit geraumer Zeit eng. Bezahlbarer Wohnraum ist knapp, und wenn dann noch Immobiliengesellschaften ...

Wer Wohneigentum besitzt, kann sich glücklich schätzen. Für Mieter wird es, besonders in den Großstädten, schon seit geraumer Zeit eng. Bezahlbarer Wohnraum ist knapp, und wenn dann noch Immobiliengesellschaften die Finger im Spiel haben, deren einziges Ziel die Gewinnmaximierung ist, wird es umso schlimmer.

Dengler verlässt mit Olga das heimische Stuttgart, um deren Freundin in Berlin zu helfen. Diese wohnt in einem Plattenbau, der luxussaniert werden soll. Wer die höhere Miete nicht zahlen kann oder will, soll ausziehen. Die Mieter wollen dies nicht hinnehmen und wehren sich. Aber es gibt ja Methoden, um diese Pläne voranzutreiben. Beispielweise aggressive Ratten, die in dem Wohnblock ausgesetzt werden, unbemerkt in die Wohnung von Olgas Freundin eindringen und deren Baby den halben Finger abbeißen. Oder man kann auch in eisiger Kälte die Fenster der Wohnungen entfernen und diese erst nach einer Woche ersetzen. Für Dengler stellt sich die Frage, ob tatsächlich die Kröger Immobilien AG für diese Schweinereien verantwortlich ist, oder ob es vielleicht noch jemanden gibt, der ganz andere Interessen hat.

Berlin bietet genau die richtige Kulisse für diesen spannenden Kriminalroman, denn es gibt kaum eine deutsche Stadt, in der die Gentrifizierung so rücksichtslos vorangetrieben wird und in der die Mieten in den vergangenen Jahren so stark gestiegen sind. Immobiliengesellschaften haben längst die Oberhoheit über den Wohnungsmarkt übernommen. Ihre Liquidität wird gesichert durch die finanziellen Einlagen der Großinvestoren, die natürlich die entsprechenden Renditen erwarten.

Als Krimi-Thema hört sich das zwar trocken an, aber der Autor macht den Leser höchst spannend und schlüssig nachvollziehbar mit den Mechanismen dieses Haifischbeckens vertraut. Wie immer hat er gründlich recherchiert und sich an der Realität orientiert, weshalb natürlich auch die Pandemie thematisiert wird. Zu Recht, wie ich finden, denn da gibt es ja auch noch Player, die ihre eigenen Ziele verfolgen und zu diesem Zweck darauf aus sind, die mit der Regierungspolitik Unzufriedenen zu instrumentalisieren.

Es ist ein topaktuelles Thema, das Wolfgang Schorlau in seinem gerade erschienenen Kriminalroman aufgreift. Hochpolitisch, von Beginn an spannend durch permanente Perspektivwechsel, und umso rasanter, je näher es dem Ende zugeht. Für mich eines der Highlights in diesem Bücherherbst.