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Veröffentlicht am 14.11.2020

Tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen...

Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten
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Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann ...

Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann grätschte das Ende des zweiten Teils brutal dazwischen. Der Untergang Enduras, der Tod beinahe aller geliebter Protagonisten und das Verstummen des Thunderheads - Ihr erinnert Euch? Kein Wunder, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und kein Jahr mehr warten konnte, bis die passende Ausgabe erscheint. Zu meinem großen Glück, hatte jemand aus dem Fischer Verlag Erbarmen mit meiner misslichen Lage und hat mir ein Exemplar in die Post gegeben (Heldin der Woche, by the way). Doch was sage ich jetzt zum Finale der großen Scythe-Trilogie? Dieser dritte Teil bleibt inhaltlich, emotional und atmosphärisch leider etwas hinter dem epischen Mittelteil zurück, findet aber einen würdigen, runden Abschluss für die Geschichte.


Aus dem Testament des Toll: "Er stürzte auf sie herab wie der wütende Schlag von Millionen Flügeln, und am Himmel tobte der Donner. Die Reuelosen wurden niedergemacht, doch wer auf die Knie fiel, wurde verschont. Dann verließ er sie, löste sich abermals in einem Sturm aus Federn auf und schwang sich in den ruhigen Himmel empor. Frohlocket!"


Das Cover zeigt im Vordergrund einen Mann in lavendelfarbigem Gewand und Stola, der rechts und links von Scythe in waldgrünen Roben flankiert wird. Zusammen mit den schwarzen Sensen, dem dunkelgrünen Hintergrund vor den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergibt sich so ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Zum meinem großen Glück, ist die Covergestaltung des dritten Teils wie auch die der broschierten Ausgaben an die des amerikanischen Originals angelegt, weshalb meine drei Bände trotz des leicht unterschiedlichen Formats gut zusammenpassen.


"Vermutlich war es immer so: Wenn das Undenkbare zur Normalität wurde, stumpfte man ab. Sie wollte niemals so sehr abstumpfen."


Wenn ich mein Leseerlebnis mit "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass dieses Finale anders ist, als ich erwartet hätte. Und das beginnt schon beim Anfang. Die Handlung knüpft nämlich nicht direkt an die vielen offenen Stränge von "Scythe - Der Zorn der Gerechten" an, sondern startet mit einem Abstand von drei Jahren zum Untergang Enduras. Statt also wie zuvor auf Basis von Citras und Rowans Erlebnissen die Geschichte zu entspinnen, starten wir hier mit einem Haufen an neuen Protagonisten, die uns über Rückblicke vermitteln, was in den verstrichenen drei Jahren passiert ist. An der Hand haben wir hier nur den in Band 2 liebgewonnenen Greyson Tolliver, der eine der wenigen Konstanten in diesem eher unkonventionellen Start bildet. Klar, Neal Shusterman gibt hier sein Bestes, durch neue und altbekannte Nebenfiguren, die hier mehr ins Zentrum rücken, in die Geschichte einzusteigen und davon abzulenken, dass unsere beiden Hauptfiguren eingeschlossen und totenähnlich auf dem Grund des Meeresbodens liegen, Scythe Curie unwiderruflich tot ist, genau wie die Grandslayer und alle Einwohner Enduras, und Scythe Farraday auf einer einsamen Insel vom Radar verschwunden ist. Trotz all seiner Bemühungen ist dies jedoch nicht die beste Basis für einen packenden Einstieg ins Finale, sodass sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" von Anfang an schwer tat, an die Atmosphäre, Spannung und das Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen.


"Sie verkörpern die Unschuld, die dem Untergang geweiht ist." Das fand Anastasia auf verschiedenen Ebenen beleidigend. "Ich bin nicht dem Untergang geweiht. Und unschuldig bin ich auch nicht."
"Jaja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Menschen sich aus einer Situation immer das herausnehmen, was sie brauchen. Als Endura sank, brauchten sie jemand, dem sie ihre Trauer widmen konnten. Ein Symbol der verlorenen Hoffnung."
"Die Hoffnung ist nicht verloren", beharrte sie. "Sie ist nur verlegt worden."


Wir befinden uns also nicht nur nach dem sehr offenen Ende von Teil 2 in der Schwebe, sondern werden mit den wichtigen Fragen, die uns unter den Nägeln brennen auch noch relativ lange im tatsächlichen Einstieg vertröstet. Was ist die Notlösung der Scythe-Gründer? Was hat Goddard mit der Welt vor? Werden Citra und Rowan gefunden werden? Wie kommen die Menschen damit zurecht, dass der Thunderhead sie nun in Kollektivstrafe anschweigt? Was macht Greyson mit der ihm auserkorenen Rolle des einzigen Bindeglieds zwischen Menschen und Thunderhead? Welche Rolle spielen die Tonisten im Plan des Thunderheads? Und was entdecken Faraday und Munira auf dem blinden Fleck? Statt diese Fragen zügig zu beantworten, kommen zu den treibenden Rätseln immer neue hinzu. Denn der Thunderhead scheint plötzlich auf den abgelegenen, neu entdeckten Atollen ein geheimes Bauprojekt zu planen, Limbus-Agenten auf der ganzen Welt starten eine letzte große Reise mit ungewissem Ziel und harmlose, intonierende Tonisten werden zu einer gefährlichen, explosiven Randgruppe... Wohin soll das führen, wenn die Scythe immer mehr außer Kontrolle geraten, der Thunderhead sich nicht einmischen darf und die wichtigsten Führer der Rebellion eingefroren auf dem Meeresgrund liegen...?


"Umwälzung", sagte Jerico nüchtern. "Berge entstehen durch Umwälzungen. Ich bin sicher, das sieht am Anfang nicht schön aus. (...) In jeder Katastrophe liegt eine neue Möglichkeit", erklärte Jeri. "Ein Schiff geht unter, und mir beginnt es in den Fingern zu jucken, denn in dem Wrack liegen Schätze verborgen. Denk daran, was ich auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Dich!"
"Und vierhunderttausend Scythe-Diamanten."


Bis auf 100 Seiten vor dem Ende liest sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" eher wie der dritte Teil einer Quadrologie, als wie das Finale - so viele Themen kommen hier mit dazu, sodass meine Fragen immer mehr, statt weniger wurden. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die in "Scythe - Die Hüter des Todes" das Geschehen untermauert haben und die Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads im zweiten Teil, werden hier ersetzt durch Auszüge aus der religiösen Schrift, "Ein Testament des Toll", Selbstgespräche mit Iterationen des Thunderheads und Auszüge aus Schreiben, Reden und Stellungnahmen der führenden Scythe in verschiedenen Regionen der Welt. Auch durch diese drei verschiedenen eingebundenen Inhalte kommen mehr neue Rätsel ins Spiel, als dass sie gelöst würden. Shustermans gemächlicher Wiedereinstieg in die Geschichte und die nur langsame Aufdeckung der offenen Geheimnisse sorgt deshalb natürlich für ordentlich Spannung und ist ein Garant für ständiges Weiterlesen-Wollen. Leider ist dies aber auch einer meiner größten Kritikpunkte: viele kleine Einzelszenen, lose Puzzlestücke und komplexe Handlungsstränge sorgen zwar dafür, dass es bis zum Ende undurchschaubar bleibt, was Shusterman mit seiner Geschichte vor hat, dadurch steuert die Geschichte im Mittelteil aber etwas ziellos durch internationale Gewässer und es fehlt Bekanntes, an dem wir uns festhalten können.


"Er trat einen Schritt zurück, betrachtete Rowan von oben bis unten und taxierte ihn wie ein verblasstes Gemälde, das seinen Reiz verloren hatte. "Du hättest mein erster Unterscythe werden können"; sagte Goddard, "der Erbe des Welt-Scythetums. Und es besteht kein Zweifel, dass es nur noch ein einziges Welt-Scythetum geben wird, wenn ich fertig bin. Das wäre deine Zukunft gewesen."
"Wenn ich nur mein Gewissen ignoriert hätte."
Goddard schüttelte mitleidig den Kopf. "Gewissen ist nur ein Werkzeug wie viele andere. wenn du es nicht richtig beherrschst, beherrscht es dich - und wie ich dein Gewissen einschätze, hat es dir den Verstand geraubt."


Schon im zweiten Teil der Trilogie rückte der Fokus stark von unseren beiden Hauptfiguren ab, um zwei weiteren Handlungsträgern die Bühne zu überlassen: Greyson Tolliver und dem Thunderhead, welche abermals eine tragende Rolle übernehmen und mich mit ihrer seltsam innigen, körperlosen Verbindung (Liebe?) zueinander, berührt haben. Hier geraten Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia noch einmal mehr in den Hintergrund und bilden nur noch eine Art roten Faden für die Betrachtung des globalen Geschehens. Zwischen all den Reisen, großen Events, Zeitsprüngen, Bergungsaktionen und dem ein oder anderen Kampf, bei dem auch die Action nicht zu kurz kommt, gehen die beiden Figuren, die einmal Kernstück der Geschichte war, leider etwas zu sehr unter. Wer also hier eine weitere Vertiefung ihrer Charakterzeichnung oder gar eine amouröse Entwicklung erwartet, wird wohl enttäuscht werden.


"Im Laufe der Jahre hatte er Millionen Menschen dabei zugesehen, wie sie in den Armen eines oder einer anderen schliefen. Der Thunderhead hatte keine Arme, mit denen er jemanden hätte umfangen können. Trotzdem spürte er Greysons Herzschlag und seine exakte Körpertemperatur, als wäre er direkt neben ihm. Das zu verlieren hätte ihm unermesslichen Kummer bereitet. Nacht für Nacht überwachte er Greyson stumm in jeder ihm möglichen Weise. Denn das kam führ ihn einer Umarmung am nächsten."


Dafür rücken Faraday und Munira etwas mehr in den Fokus des Geschehens und zwei neue Figuren - Jerico, aus Madagaskar stammender Kapitän eines Bergungsschiffs, der unter der Sonne weiblich und unter den Wolken männlich ist und Loriana, vormalige Nimbusagentin und heimliche Leiterin der Thunderhead-Mission im "Land Nod". Vor allem Jerico und das mit ihm/ihr aufkommende Thema des Geschlechterdualismus und der impliziten Kritik am binären Geschlechtersystem hat mich sehr fasziniert. Die beiden konnten aber leider -wie alle anderen kunstvollen Weiterführungen der Story- nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne Citra und Rowan im Vordergrund der Geschichte etwas Essentielles fehlt. Demnach habe ich diesen dritten Teil als weniger emotional und berührend empfunden. Natürlich spürt man die Spannung weiterhin, man fiebert aber nicht mehr so mit und ist eher ein distanzierter Beobachter der Geschehnisse. So habe ich mit Faszination zwar und einer ordentlichen Portion Demut vor dem Talent des Autors die Geschichte verfolgt, mich aber nicht mehr emotional reingehängt, wie zuvor.


"Du bist eine schreckliche Person", sagte der Thunderhead. "Du bist eine wundervolle Person."
"Na, was denn jetzt?", wollte Greyson wissen.
Und die Antwort, die er leise, ganz leise bekam, war keine Antwort, sondern eine Frage. "Warum verstehst du nicht, dass die Antwort -beides- lautet?"


Neal Shusterman stellt hier das Große und Ganze seines Settings, die weltpolitische Wendung, die Entwicklungen innerhalb des Scythetums aber auch den Vormarsch der Tonisten und das Aufkommen von extremistischen Zischersekten in den Vordergrund. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat und es im zweiten Teil um die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads und Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums ging, wird Shusterman hier nochmals politischer und weitet seinen Blick auf die ganze Welt aus. Auch in seinem großen Finale lässt es sich der Autor nicht nehmen, viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit anzubringen. Dadurch kommen natürlich einerseits wieder viele neue spannende Ideen zur Sprache und die Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie wird nochmals komplexer und vielschichtiger. Auf der anderen Seite holt der Autor etwas weiter aus, als in diesem Finale nötig gewesen wäre, lässt sich viel Zeit zu Beginn und macht seinen Reihenabschluss somit ein bisschen schwerfälliger als erwartet.


"Sie war nicht ausgebildet für und vorbereitet auf die Verantwortung, Leben zu beenden. Sie hatte jetzt größerem Respekt vor den seltsam gewandten Geistern, denn man musst ein außergewöhnlicher Mensch sein, um diese Verantwortung täglich zu übernehmen. Entweder ein Mensch, der gar kein Gewissen hatte, oder einer, dessen Gewissen so tief und standhaft war, dass er seine Mitte auch im Angesichts der Verloschenen wahren konnte."


Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Geschichte in wenigen Tagen durchzusuchten und gespannt auf die Lösung zu warten, die der Autor für dieses komplexe und wohl ausgeklügelte Durcheinander bereithalten würden. Des Weiteren war ich natürlich auch nach wie vor tief beeindruckt von Shustermans Schreibstil, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet. Die vielen enthaltenen Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte trotz ihrer "Andersartigkeit" zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zwischen den 608 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.


"Es gab ein Problem, wenn man sich aufmachte, die Welt zu verändern: Man war niemals der Einzige. Bei einem endlosen Tauziehen mit mächtigen Gegnern - die nicht nur in die entgegengesetzte, sondern einfach in alle Richtungen zogen - konnte man sich vielleicht ab und zu vorwärtsbewegen, manchmal musste man aber auch ein paar Schritte zur Seite gehen. Wäre es besser gewesen, es gar nicht erst zu probieren? Das wusste er nicht."


Das eigentliche Ende ist dann in erster Linie explosiv, hochspannend ... und viel zu schnell vorbei. "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" ließ sich wie gesagt sehr lange Zeit, die nach dem Ende von Band 2 vorhandene Spannung Stück für Stück weiter auszubauen und zum Finale hin zu steigern. Ich hatte schon während dem Lesen Vorbehalte, ob all die offenen Fäden in den noch verbleibenden Seiten wirklich alle zu Ende geführt werden können - und ich hatte Recht: es wurde hier so lange und akribisch auf das Ende hingearbeitet, dass dieses dann sehr schnell vorbeizieht. Die Spannung, die sich über alle Teile aufgebaut hat, entweicht hier auf wenigen Seiten explosionsartig und hinterlässt Ohrenklingeln und eine Menge weiterer Anknüpfungspunkte. Hier hätte ich mir ein etwas kürzerer Mittelteil und dafür einen ausführlicheren Showdown gewünscht, der sich für Kernentwicklungen mehr Zeit nimmt.


"Menschen sind wie Gefäße", hatte Jeri zu ihr gesagt. "Sie nehmen das auf, was in sie hineingeschüttet wird."


Achtung Spoiler: Zum Beispiel die Entstehung von Cirrus Primary aus den Iterationen des Thunderheads kam mir sehr plötzlich vor. Wir erleben zuerst eine sehr langsame Evolution der Thunderhead-Nachkommen und der entscheidende Schritt findet dann komplett im Dunkeln statt und schließt und aus. Auch einen genaueren Blick hinter Goddards Fassade hätte ich mir von diesem Finale gewünscht. Wie findet er die Atolle? Warum will er sie zerstören? Was treibt ihn wirklich an? Ist es nur Machtgier? Da er hier eine so große Rolle spielt, hätte ich mir ein wenig mehr Zeit für seine Beweggründe erhofft. Ein weiterer Punkt, welcher direkt mit Goddard zusammenhängt und mich nicht ganz abholen konnte, war sein Tod. Ayn Rand beginnt ja schon im zweiten Teil, leicht abtrünnig zu werden und über ihre Gefolgschaft nachzudenken. Der Gipfel ihrer schleichenden Entwicklung - ihr Mord an Goddard - kam für mich aber viel zu sehr aus dem Nichts, um mich zu überzeugen. Ein weiteres loses Ende stellt für mich das Testament des Tolls, dessen Deutungen, Referenzen zur Handlung und Parallelen zur Bibel dar. In welcher zeitlichen Relation das Dokument zur Handlung steht, ob es vielleicht auch in der neuen Tonistenkolonie entstanden ist, oder ob es sich um ein historisch überliefertes Dokument handelt, das die Handlung vorhersagt, blieb mir leider zu offen, als dass ich eine wirkliche Bereicherung darin gesehen hätte. So wurde ich durch diese Abschnitte in erster Linie verwirrt und hätte mir noch mal einen klareren Bezug zur Haupthandlung gewünscht. Der letzte große Punkt, der das Ende ein wenig unbefriedigend macht, ist die sehr offene Haltung der Zukunft unserer geliebten Protagonisten gegenüber. Was aus Citra, Rowan, Greyson, Jerico, Faraday und all den anderen wird, ist hier nur kurz angeschnitten und überlässt vieles der Fantasie.


"Du bist ein entscheidender Schritt zu etwas Größerem. Ein goldener Schritt. Ich werde mit sintflutartigem Regen um dich trauern, und diese Überschwemmung wird neues Leben hervorbringen. Alles dank dir. Ich will glauben, dass du Teil dieses neuen Lebens sein wirst. Das tröstet mich. Vielleicht tröstet es dich auch."
"Ich habe Angst."
"Das ist nicht schlimm. Sein eigenes Ende zu fürchten ist Teil des Lebens. So weiß ich, dass wir tatsächlich wahrhaft lebendig sind."
[Iteration #9000349, gelöscht]


Was sollt Ihr aus meiner ellenlangen Rezension nun mitnehmen? Diese Geschichte enthält gleichzeitig so viele kunstvolle Weiterführungen, kreative Ideen und geniale Wendungen, dass man sie für immer lieben muss, vernachlässigt aber durch den abermals veränderten Fokus die beiden Hauptprotagonisten auf schändliche Art und Weise, weshalb ich zwischen 3,5 und 5 Sternen jede Bewertung gerechtfertigt sehe. Lässt man meine Erwartungen und die Vergleiche zu den ersten Teilen und anderen Werken des Autors außeracht, würde ich hier sofort die Höchstwertung geben. Da mir aber nach langem Nachdenken einiges gefehlt hat, was ich gerne gelesen hätte, gibt es nur 4,5 Sterne.


Zum Abschluss...
... noch mein Lieblingszitat, das wohl auch Antwort auf die Frage gibt, ob Neal Shusterman hier nun eine Dystopie oder eine Utopie geschrieben hat:

"Was ist los mit uns, Munira?", fragte Faraday. "Was ist los mit uns, dass wir uns dermaßen hochgesteckte Ziele suchen und dann das Fundament in Stücke reißen? Warum müssen wir immer das Streben nach unseren eigenen Träumen sabotieren?"
"Weil wir fehlerhafte Wesen sind", sagte Munira. "Wie sollten wir in eine perfekte Welt passen?"





Fazit:


Dieses Finale tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen und bleibt deshalb hinter meinen Erwartungen zurück. Trotz des etwas zu offenen und schnellen Endes, des recht gemächlichen Einstiegs und der in den Hintergrund geratenen Protagonisten ist "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" so ein vielschichtiger, runder und hochspannender Abschluss der Scythe-Trilogie, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet, dass es zu meinen Jahreshighlights zählt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.11.2020

Tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen...

Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten
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Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann ...

Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann grätschte das Ende des zweiten Teils brutal dazwischen. Der Untergang Enduras, der Tod beinahe aller geliebter Protagonisten und das Verstummen des Thunderheads - Ihr erinnert Euch? Kein Wunder, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und kein Jahr mehr warten konnte, bis die passende Ausgabe erscheint. Zu meinem großen Glück, hatte jemand aus dem Fischer Verlag Erbarmen mit meiner misslichen Lage und hat mir ein Exemplar in die Post gegeben (Heldin der Woche, by the way). Doch was sage ich jetzt zum Finale der großen Scythe-Trilogie? Dieser dritte Teil bleibt inhaltlich, emotional und atmosphärisch leider etwas hinter dem epischen Mittelteil zurück, findet aber einen würdigen, runden Abschluss für die Geschichte.


Aus dem Testament des Toll: "Er stürzte auf sie herab wie der wütende Schlag von Millionen Flügeln, und am Himmel tobte der Donner. Die Reuelosen wurden niedergemacht, doch wer auf die Knie fiel, wurde verschont. Dann verließ er sie, löste sich abermals in einem Sturm aus Federn auf und schwang sich in den ruhigen Himmel empor. Frohlocket!"


Das Cover zeigt im Vordergrund einen Mann in lavendelfarbigem Gewand und Stola, der rechts und links von Scythe in waldgrünen Roben flankiert wird. Zusammen mit den schwarzen Sensen, dem dunkelgrünen Hintergrund vor den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergibt sich so ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Zum meinem großen Glück, ist die Covergestaltung des dritten Teils wie auch die der broschierten Ausgaben an die des amerikanischen Originals angelegt, weshalb meine drei Bände trotz des leicht unterschiedlichen Formats gut zusammenpassen.


"Vermutlich war es immer so: Wenn das Undenkbare zur Normalität wurde, stumpfte man ab. Sie wollte niemals so sehr abstumpfen."


Wenn ich mein Leseerlebnis mit "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass dieses Finale anders ist, als ich erwartet hätte. Und das beginnt schon beim Anfang. Die Handlung knüpft nämlich nicht direkt an die vielen offenen Stränge von "Scythe - Der Zorn der Gerechten" an, sondern startet mit einem Abstand von drei Jahren zum Untergang Enduras. Statt also wie zuvor auf Basis von Citras und Rowans Erlebnissen die Geschichte zu entspinnen, starten wir hier mit einem Haufen an neuen Protagonisten, die uns über Rückblicke vermitteln, was in den verstrichenen drei Jahren passiert ist. An der Hand haben wir hier nur den in Band 2 liebgewonnenen Greyson Tolliver, der eine der wenigen Konstanten in diesem eher unkonventionellen Start bildet. Klar, Neal Shusterman gibt hier sein Bestes, durch neue und altbekannte Nebenfiguren, die hier mehr ins Zentrum rücken, in die Geschichte einzusteigen und davon abzulenken, dass unsere beiden Hauptfiguren eingeschlossen und totenähnlich auf dem Grund des Meeresbodens liegen, Scythe Curie unwiderruflich tot ist, genau wie die Grandslayer und alle Einwohner Enduras, und Scythe Farraday auf einer einsamen Insel vom Radar verschwunden ist. Trotz all seiner Bemühungen ist dies jedoch nicht die beste Basis für einen packenden Einstieg ins Finale, sodass sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" von Anfang an schwer tat, an die Atmosphäre, Spannung und das Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen.


"Sie verkörpern die Unschuld, die dem Untergang geweiht ist." Das fand Anastasia auf verschiedenen Ebenen beleidigend. "Ich bin nicht dem Untergang geweiht. Und unschuldig bin ich auch nicht."
"Jaja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Menschen sich aus einer Situation immer das herausnehmen, was sie brauchen. Als Endura sank, brauchten sie jemand, dem sie ihre Trauer widmen konnten. Ein Symbol der verlorenen Hoffnung."
"Die Hoffnung ist nicht verloren", beharrte sie. "Sie ist nur verlegt worden."


Wir befinden uns also nicht nur nach dem sehr offenen Ende von Teil 2 in der Schwebe, sondern werden mit den wichtigen Fragen, die uns unter den Nägeln brennen auch noch relativ lange im tatsächlichen Einstieg vertröstet. Was ist die Notlösung der Scythe-Gründer? Was hat Goddard mit der Welt vor? Werden Citra und Rowan gefunden werden? Wie kommen die Menschen damit zurecht, dass der Thunderhead sie nun in Kollektivstrafe anschweigt? Was macht Greyson mit der ihm auserkorenen Rolle des einzigen Bindeglieds zwischen Menschen und Thunderhead? Welche Rolle spielen die Tonisten im Plan des Thunderheads? Und was entdecken Faraday und Munira auf dem blinden Fleck? Statt diese Fragen zügig zu beantworten, kommen zu den treibenden Rätseln immer neue hinzu. Denn der Thunderhead scheint plötzlich auf den abgelegenen, neu entdeckten Atollen ein geheimes Bauprojekt zu planen, Limbus-Agenten auf der ganzen Welt starten eine letzte große Reise mit ungewissem Ziel und harmlose, intonierende Tonisten werden zu einer gefährlichen, explosiven Randgruppe... Wohin soll das führen, wenn die Scythe immer mehr außer Kontrolle geraten, der Thunderhead sich nicht einmischen darf und die wichtigsten Führer der Rebellion eingefroren auf dem Meeresgrund liegen...?


"Umwälzung", sagte Jerico nüchtern. "Berge entstehen durch Umwälzungen. Ich bin sicher, das sieht am Anfang nicht schön aus. (...) In jeder Katastrophe liegt eine neue Möglichkeit", erklärte Jeri. "Ein Schiff geht unter, und mir beginnt es in den Fingern zu jucken, denn in dem Wrack liegen Schätze verborgen. Denk daran, was ich auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Dich!"
"Und vierhunderttausend Scythe-Diamanten."


Bis auf 100 Seiten vor dem Ende liest sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" eher wie der dritte Teil einer Quadrologie, als wie das Finale - so viele Themen kommen hier mit dazu, sodass meine Fragen immer mehr, statt weniger wurden. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die in "Scythe - Die Hüter des Todes" das Geschehen untermauert haben und die Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads im zweiten Teil, werden hier ersetzt durch Auszüge aus der religiösen Schrift, "Ein Testament des Toll", Selbstgespräche mit Iterationen des Thunderheads und Auszüge aus Schreiben, Reden und Stellungnahmen der führenden Scythe in verschiedenen Regionen der Welt. Auch durch diese drei verschiedenen eingebundenen Inhalte kommen mehr neue Rätsel ins Spiel, als dass sie gelöst würden. Shustermans gemächlicher Wiedereinstieg in die Geschichte und die nur langsame Aufdeckung der offenen Geheimnisse sorgt deshalb natürlich für ordentlich Spannung und ist ein Garant für ständiges Weiterlesen-Wollen. Leider ist dies aber auch einer meiner größten Kritikpunkte: viele kleine Einzelszenen, lose Puzzlestücke und komplexe Handlungsstränge sorgen zwar dafür, dass es bis zum Ende undurchschaubar bleibt, was Shusterman mit seiner Geschichte vor hat, dadurch steuert die Geschichte im Mittelteil aber etwas ziellos durch internationale Gewässer und es fehlt Bekanntes, an dem wir uns festhalten können.


"Er trat einen Schritt zurück, betrachtete Rowan von oben bis unten und taxierte ihn wie ein verblasstes Gemälde, das seinen Reiz verloren hatte. "Du hättest mein erster Unterscythe werden können"; sagte Goddard, "der Erbe des Welt-Scythetums. Und es besteht kein Zweifel, dass es nur noch ein einziges Welt-Scythetum geben wird, wenn ich fertig bin. Das wäre deine Zukunft gewesen."
"Wenn ich nur mein Gewissen ignoriert hätte."
Goddard schüttelte mitleidig den Kopf. "Gewissen ist nur ein Werkzeug wie viele andere. wenn du es nicht richtig beherrschst, beherrscht es dich - und wie ich dein Gewissen einschätze, hat es dir den Verstand geraubt."


Schon im zweiten Teil der Trilogie rückte der Fokus stark von unseren beiden Hauptfiguren ab, um zwei weiteren Handlungsträgern die Bühne zu überlassen: Greyson Tolliver und dem Thunderhead, welche abermals eine tragende Rolle übernehmen und mich mit ihrer seltsam innigen, körperlosen Verbindung (Liebe?) zueinander, berührt haben. Hier geraten Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia noch einmal mehr in den Hintergrund und bilden nur noch eine Art roten Faden für die Betrachtung des globalen Geschehens. Zwischen all den Reisen, großen Events, Zeitsprüngen, Bergungsaktionen und dem ein oder anderen Kampf, bei dem auch die Action nicht zu kurz kommt, gehen die beiden Figuren, die einmal Kernstück der Geschichte war, leider etwas zu sehr unter. Wer also hier eine weitere Vertiefung ihrer Charakterzeichnung oder gar eine amouröse Entwicklung erwartet, wird wohl enttäuscht werden.


"Im Laufe der Jahre hatte er Millionen Menschen dabei zugesehen, wie sie in den Armen eines oder einer anderen schliefen. Der Thunderhead hatte keine Arme, mit denen er jemanden hätte umfangen können. Trotzdem spürte er Greysons Herzschlag und seine exakte Körpertemperatur, als wäre er direkt neben ihm. Das zu verlieren hätte ihm unermesslichen Kummer bereitet. Nacht für Nacht überwachte er Greyson stumm in jeder ihm möglichen Weise. Denn das kam führ ihn einer Umarmung am nächsten."


Dafür rücken Faraday und Munira etwas mehr in den Fokus des Geschehens und zwei neue Figuren - Jerico, aus Madagaskar stammender Kapitän eines Bergungsschiffs, der unter der Sonne weiblich und unter den Wolken männlich ist und Loriana, vormalige Nimbusagentin und heimliche Leiterin der Thunderhead-Mission im "Land Nod". Vor allem Jerico und das mit ihm/ihr aufkommende Thema des Geschlechterdualismus und der impliziten Kritik am binären Geschlechtersystem hat mich sehr fasziniert. Die beiden konnten aber leider -wie alle anderen kunstvollen Weiterführungen der Story- nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne Citra und Rowan im Vordergrund der Geschichte etwas Essentielles fehlt. Demnach habe ich diesen dritten Teil als weniger emotional und berührend empfunden. Natürlich spürt man die Spannung weiterhin, man fiebert aber nicht mehr so mit und ist eher ein distanzierter Beobachter der Geschehnisse. So habe ich mit Faszination zwar und einer ordentlichen Portion Demut vor dem Talent des Autors die Geschichte verfolgt, mich aber nicht mehr emotional reingehängt, wie zuvor.


"Du bist eine schreckliche Person", sagte der Thunderhead. "Du bist eine wundervolle Person."
"Na, was denn jetzt?", wollte Greyson wissen.
Und die Antwort, die er leise, ganz leise bekam, war keine Antwort, sondern eine Frage. "Warum verstehst du nicht, dass die Antwort -beides- lautet?"


Neal Shusterman stellt hier das Große und Ganze seines Settings, die weltpolitische Wendung, die Entwicklungen innerhalb des Scythetums aber auch den Vormarsch der Tonisten und das Aufkommen von extremistischen Zischersekten in den Vordergrund. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat und es im zweiten Teil um die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads und Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums ging, wird Shusterman hier nochmals politischer und weitet seinen Blick auf die ganze Welt aus. Auch in seinem großen Finale lässt es sich der Autor nicht nehmen, viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit anzubringen. Dadurch kommen natürlich einerseits wieder viele neue spannende Ideen zur Sprache und die Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie wird nochmals komplexer und vielschichtiger. Auf der anderen Seite holt der Autor etwas weiter aus, als in diesem Finale nötig gewesen wäre, lässt sich viel Zeit zu Beginn und macht seinen Reihenabschluss somit ein bisschen schwerfälliger als erwartet.


"Sie war nicht ausgebildet für und vorbereitet auf die Verantwortung, Leben zu beenden. Sie hatte jetzt größerem Respekt vor den seltsam gewandten Geistern, denn man musst ein außergewöhnlicher Mensch sein, um diese Verantwortung täglich zu übernehmen. Entweder ein Mensch, der gar kein Gewissen hatte, oder einer, dessen Gewissen so tief und standhaft war, dass er seine Mitte auch im Angesichts der Verloschenen wahren konnte."


Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Geschichte in wenigen Tagen durchzusuchten und gespannt auf die Lösung zu warten, die der Autor für dieses komplexe und wohl ausgeklügelte Durcheinander bereithalten würden. Des Weiteren war ich natürlich auch nach wie vor tief beeindruckt von Shustermans Schreibstil, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet. Die vielen enthaltenen Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte trotz ihrer "Andersartigkeit" zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zwischen den 608 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.


"Es gab ein Problem, wenn man sich aufmachte, die Welt zu verändern: Man war niemals der Einzige. Bei einem endlosen Tauziehen mit mächtigen Gegnern - die nicht nur in die entgegengesetzte, sondern einfach in alle Richtungen zogen - konnte man sich vielleicht ab und zu vorwärtsbewegen, manchmal musste man aber auch ein paar Schritte zur Seite gehen. Wäre es besser gewesen, es gar nicht erst zu probieren? Das wusste er nicht."


Das eigentliche Ende ist dann in erster Linie explosiv, hochspannend ... und viel zu schnell vorbei. "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" ließ sich wie gesagt sehr lange Zeit, die nach dem Ende von Band 2 vorhandene Spannung Stück für Stück weiter auszubauen und zum Finale hin zu steigern. Ich hatte schon während dem Lesen Vorbehalte, ob all die offenen Fäden in den noch verbleibenden Seiten wirklich alle zu Ende geführt werden können - und ich hatte Recht: es wurde hier so lange und akribisch auf das Ende hingearbeitet, dass dieses dann sehr schnell vorbeizieht. Die Spannung, die sich über alle Teile aufgebaut hat, entweicht hier auf wenigen Seiten explosionsartig und hinterlässt Ohrenklingeln und eine Menge weiterer Anknüpfungspunkte. Hier hätte ich mir ein etwas kürzerer Mittelteil und dafür einen ausführlicheren Showdown gewünscht, der sich für Kernentwicklungen mehr Zeit nimmt.


"Menschen sind wie Gefäße", hatte Jeri zu ihr gesagt. "Sie nehmen das auf, was in sie hineingeschüttet wird."


Achtung Spoiler: Zum Beispiel die Entstehung von Cirrus Primary aus den Iterationen des Thunderheads kam mir sehr plötzlich vor. Wir erleben zuerst eine sehr langsame Evolution der Thunderhead-Nachkommen und der entscheidende Schritt findet dann komplett im Dunkeln statt und schließt und aus. Auch einen genaueren Blick hinter Goddards Fassade hätte ich mir von diesem Finale gewünscht. Wie findet er die Atolle? Warum will er sie zerstören? Was treibt ihn wirklich an? Ist es nur Machtgier? Da er hier eine so große Rolle spielt, hätte ich mir ein wenig mehr Zeit für seine Beweggründe erhofft. Ein weiterer Punkt, welcher direkt mit Goddard zusammenhängt und mich nicht ganz abholen konnte, war sein Tod. Ayn Rand beginnt ja schon im zweiten Teil, leicht abtrünnig zu werden und über ihre Gefolgschaft nachzudenken. Der Gipfel ihrer schleichenden Entwicklung - ihr Mord an Goddard - kam für mich aber viel zu sehr aus dem Nichts, um mich zu überzeugen. Ein weiteres loses Ende stellt für mich das Testament des Tolls, dessen Deutungen, Referenzen zur Handlung und Parallelen zur Bibel dar. In welcher zeitlichen Relation das Dokument zur Handlung steht, ob es vielleicht auch in der neuen Tonistenkolonie entstanden ist, oder ob es sich um ein historisch überliefertes Dokument handelt, das die Handlung vorhersagt, blieb mir leider zu offen, als dass ich eine wirkliche Bereicherung darin gesehen hätte. So wurde ich durch diese Abschnitte in erster Linie verwirrt und hätte mir noch mal einen klareren Bezug zur Haupthandlung gewünscht. Der letzte große Punkt, der das Ende ein wenig unbefriedigend macht, ist die sehr offene Haltung der Zukunft unserer geliebten Protagonisten gegenüber. Was aus Citra, Rowan, Greyson, Jerico, Faraday und all den anderen wird, ist hier nur kurz angeschnitten und überlässt vieles der Fantasie.


"Du bist ein entscheidender Schritt zu etwas Größerem. Ein goldener Schritt. Ich werde mit sintflutartigem Regen um dich trauern, und diese Überschwemmung wird neues Leben hervorbringen. Alles dank dir. Ich will glauben, dass du Teil dieses neuen Lebens sein wirst. Das tröstet mich. Vielleicht tröstet es dich auch."
"Ich habe Angst."
"Das ist nicht schlimm. Sein eigenes Ende zu fürchten ist Teil des Lebens. So weiß ich, dass wir tatsächlich wahrhaft lebendig sind."
[Iteration #9000349, gelöscht]


Was sollt Ihr aus meiner ellenlangen Rezension nun mitnehmen? Diese Geschichte enthält gleichzeitig so viele kunstvolle Weiterführungen, kreative Ideen und geniale Wendungen, dass man sie für immer lieben muss, vernachlässigt aber durch den abermals veränderten Fokus die beiden Hauptprotagonisten auf schändliche Art und Weise, weshalb ich zwischen 3,5 und 5 Sternen jede Bewertung gerechtfertigt sehe. Lässt man meine Erwartungen und die Vergleiche zu den ersten Teilen und anderen Werken des Autors außeracht, würde ich hier sofort die Höchstwertung geben. Da mir aber nach langem Nachdenken einiges gefehlt hat, was ich gerne gelesen hätte, gibt es nur 4,5 Sterne.


Zum Abschluss...
... noch mein Lieblingszitat, das wohl auch Antwort auf die Frage gibt, ob Neal Shusterman hier nun eine Dystopie oder eine Utopie geschrieben hat:

"Was ist los mit uns, Munira?", fragte Faraday. "Was ist los mit uns, dass wir uns dermaßen hochgesteckte Ziele suchen und dann das Fundament in Stücke reißen? Warum müssen wir immer das Streben nach unseren eigenen Träumen sabotieren?"
"Weil wir fehlerhafte Wesen sind", sagte Munira. "Wie sollten wir in eine perfekte Welt passen?"





Fazit:


Dieses Finale tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen und bleibt deshalb hinter meinen Erwartungen zurück. Trotz des etwas zu offenen und schnellen Endes, des recht gemächlichen Einstiegs und der in den Hintergrund geratenen Protagonisten ist "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" so ein vielschichtiger, runder und hochspannender Abschluss der Scythe-Trilogie, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet, dass es zu meinen Jahreshighlights zählt.

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Veröffentlicht am 26.10.2020

Ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt.

The Grace Year
0

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf ...

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch eine Empfehlung auf Bookstagram (Danke @theawyler, du hast mir ein Jahreshighlight beschert) und ganz in meinem Missionstrieb gefangen muss ich meine Begeisterung jetzt weitertragen. Denn "The Grace Year" vereint sowohl schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf als auch die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...


"Deshalb schicken sie uns her."
"Damit ihr euch von eurer Magie befreit"; sagt er.
"Nein", flüstere ich, während ich in den Schlaf weggleite. "Um unseren Willen zu brechen."


Das Cover ist mit dem weißen Grund und den zarten Dornranken weitaus lieblicher als die Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Auch wenn also nur die ausgestreckte, lavendelfarbene Hand mit dem Blutstropfen und der roten Blume einen dezenten Hinweis geben, bin ich verliebt in die wunderschöne und ans Originalcover angelehnte Gestaltung. Die Ranken und Blumen sind Motive, die sich auch innerhalb der Buchdeckel fortsetzen und Titelseiten, Abschnitte und Vorwort zieren. Besonders ist außerdem, dass die Geschichte in fünf große Abschnitte "Herbst", "Winter", "Frühling", "Sommer" und "Rückkehr" eingeteilt ist, ansonsten aber statt aus Kapiteln aus einer Aneinanderreihung kürzerer Absätze besteht. Zu Beginn war ich davon ein wenig irritiert, mit zunehmendem Handlungsverlauf wird jedoch klarer, warum Kim Liggett diese Aufteilungsform gewählt hat: da für die Mädchen bald jede andere Form der zeitlichen Einteilung abseits der offensichtlichen Jahreszeiten keine Rolle mehr spielt und die Zeit während des Gnadenjahres gnadenlos verrinnt...


"Das ist das Problem, wenn du das Licht hereinlässt - nachdem es dir wieder genommen wird, ist es noch viel dunkler als zuvor."


Während der 416 Seiten begleiten wir die 16jährige Tierney James durch ihr Gnadenjahr - eine rätselhafte Zeitspanne im Leben eines jeden Mädchens in Garner County, während jener ihnen in der Wildnis ihre Magie ausgetrieben werden soll. Tierney sieht ihrem Gnadenjahr sowohl mit Angst als auch mit Trotz entgegen. Angst, weil keiner der Mädchen so genau weiß, was eigentlich passiert und warum immer wieder Mädchen nicht oder versehrt aus der zwölfmonatigen Verbannung zurückkehren, und Trotz, weil sie in der angeblichen Magie der Mädchen ein Unterdrückungsinstrument der Männer sieht. Als sie dann jedoch zusammen mit den anderen Mädchen auf der Insel ankommt, auf der sie ein Jahr verbringen soll, wird sie immer unsicherer, was diese Einschätzung anbelangt. Denn nicht die blutrünstigen Wilderer, die die Mädchen aus dem Lager locken, um ihre magischen Körperteile zu verkaufen, sind die größte Gefahr - weitaus gefährlicher geht es innerhalb der Mauern des Lagers zu...


"Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich gefühlt habe.
Sollen sie es Magie nennen.
Ich nenne es Wahnsinn.
Eins ist auf jeden Fall sicher.
Hier gibt es keine Gnade."


Der Einstieg in die Geschichte fällt zwar leicht, weckt jedoch schon die ersten Ressentiments. Denn was Kim Liggett hier mit wenigen Worten beschreibt ist ein frauenverachtendes Patriarchat erster Güte, in dem Mädchen bei der Geburt das Siegel ihres Vaters in die Fußsohle gebrannt wird, sie durch ein Band in ihren immer zu einem Zopf gebundenen Haaren ihren Status (Kind, Gnadenjahrmädchen, Ehefrau) zeigen müssen und die kaum mehr Rechte besitzen als Haus-/ oder Arbeitstiere. Die Autorin zeichnet dabei jedoch kein großflächiges Gesellschaftsporträt, sondern fokussiert sich einzig und allein auf die Kleinstadt Garner County. Hintergrundinformationen zum weiteren Setting, also umliegenden Städten oder einen größeren Rahmen der Geschichte, erhalten wir kaum und blicken auch nicht weiter über den Tellerrand der kleinen Gemeinde als in die Außenbezirke. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn im engen Raum spielt sich eine so brutale, intensive und fesselnde Geschichte ab, dass jeder Blick nach außen nur Zeit stehlen würde.


"Ich dachte, wenn sie uns aufschneiden könnten, fänden sie wahrscheinlich ein riesiges Labyrinth aus Schlössern und Riegel, Dämmen und zugemauerten Einbahnstraßen. Ein Herz mit so hohen Mauern darum, dass ihm nach und nach der Sauerstoff wegblieb, während es an unseren eigenen Geheimnissen erstickte."


Nachdem uns ein grober Überblick über die gesellschaftlichen Strukturen und das Leben Tierneys im County gegeben wurde, geht es auch schon ins Gnadenjahr. Dadurch dass wir genau wie unsere Protagonistin keinerlei Ahnung haben, was auf uns zukommt, steigt die Spannung bei jedem Schritt raus aus der gewohnten Umgebung weiter an und wir fragen uns, was sich hinter diesem wohlgehüteten Mythos verbirgt. Als die Mädchen dann in ihrem Lager ankommen, ist die Ernüchterung erstmal groß: sich einfach nur ein Jahr lang selbst versorgen - das müsste doch zu schaffen sein. Doch dann beginnen die Mädchen ihre Magie zu entdecken - oder ihren Wahnsinn... Und dann.... wird es krass. Die Autorin spielt geschickt mit ihren Figuren und auch dem Leser, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, was hinter allem steckt. Immer wieder werden wir gezielt auf eine falsche Fährte geleitet und muss Theorien immer wieder verwerfen, weil man nicht mehr genau weiß, was nun Traum und Realität ist.


"Der Winter, der wie ein Löwe hereingebrochen war, verabschiedet sich wie ein Lamm. Der Schnee ist unter einer hellen, sanften Sonne geschmolzen. Die Vögel singen und der Duft nach frischem Grün erfüllt die Luft. Bald haben wir Vollmond. Jede Nacht beobachte ich durch die Dachluke, wie der Mond zunimmt, und es erscheint mir wie ein Spiegelbild meiner Gefühle für Ryker. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, kommt es mir vor, als öffnete sich mein Brustkorb ganz weit, um mehr Luft zu bekommen. Es schmerzt, aber trotzdem will ich dieses Gefühl nicht loslassen."


Spätestens jetzt entwickelt sich "The Grace Year" zu einem wahren Pageturner. Die atmosphärisch-dichte Erzählweise und die Vermischung von Magie und Wahnsinn, Realität und Rausch, Gewalt und Liebe sorgen für fast überkochende Spannung. Da es hier auch immer wieder brutal und blutig zugeht, ist die Geschichte definitiv nicht für zarte Gemüter empfehlenswert. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, verbannt, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Wer es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann (mindestens "Panem"-Stil, eher etwas deftiger), sollte eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch kein eindeutiges Jugendbuch, auch wenn die Protagonistin mit ihren 16 Jahren etwas jünger ist, als die Zielgruppe. Denn auch die psychologische Seite der Geschichte ist dank des emotionsgeladenen, feinfühligen Schreibstil der Autorin ziemlich heftig, weshalb ich die Geschichte einige Male beiseitelegen musste. Dafür trifft sie aber auch die zwischenmenschlichen Nuancen der Gruppendynamik zwischen den Mädchen im Lager und die Entwicklung der einzelnen Beziehungen sehr gut und zeichnet demnach nicht nur eine dystopische Gesellschaft, sondern liefert zeitgleich auch eine Charakterstudie einer Generation Mädchen ab.


"Als ich dich gesehen habe ... auf dem Eis ... da schienst du so..."
"Hilflos", flüstere ich, angewidert von dem Gedanken, dass es das war, was mich gerettet hat.
"Nein", antwortet er, und seine Augen funkeln im Feuerschein.
"Entschlossen. Als du die Axt ins Eis schlugst, ... das war das Mutigste, was ich je gesehen habe."


Dadurch dass Kim Liggett mehrere Zeitsprünge einbaut, fließen die einzelnen Szenen ineinander, die Gefühle werden eine undefinierbare Suppe aus Schmerz und Sehnsucht und Traum und Realität verschwimmen immer mehr. Auch wenn das ein Stilmittel ist, um die Befindlichkeiten der Mädchen auszudrücken, macht es das etwas schwer, am Ball zu bleiben und Vieles verändert sich innerhalb weniger Seiten. Eine wichtige Konstante ist dabei die Protagonistin Tierney, an deren Seite wir immer bleiben, da sie aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählt und die sich in dem Jahr der Erzählung von einem Mädchen zu einer Frau entwickelt. Unter den widrigsten Bedingungen lernt sie, richtig hinzusehen, erfährt wahre Güte und erkennt, dass aus Leid manchmal auch ein Band entstehen kann, anstatt eines Bruchs.


"Was wären wir schon ohne all das?" Ich blicke zum Baum der Bestrafung hinüber. "Wir verletzen einander, weil es dir einzige Möglichkeit ist, unsere Wut zu zeigen. Wenn wir keine Wahl haben, dann schlagen die Flammen in unserem Inneren höher. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten die Welt bis auf die Grundmauern niederbrennen mit unserem Zorn - aber auch mit unserer Liebe und allem, was dazwischenliegt."


Gut gefallen an ihr hat mir, dass sie keine typische Dystopie-Heldin ist. Sie ist zwar stark, mutig, rebellisch und einfallsreich, hat aber keine großen Ambitionen, die Welt zu verändern. "The Grace Year" ist nämlich keine der altbekannten "Auserwählte-rebelliert-und-verändert-Welt-Geschichte", die in diesem Genre den Markt überschwemmen. Stattdessen hat Kim Liggett den Zeitpunkt ihrer Geschichte ein bisschen früher angesetzt. Von einer Rebellion kann hier noch lange keine Rede sein, hier wird erst der fruchtbare Boden bereitet, auf dem die ersten kritischen Gedanken im verborgenen keimen können. Dabei nutzt sie auch subtile Symbolik, wie zum Beispiel die "Sprache der Blumen", bei der vor allem eine besondere Blume eine wichtige Rolle spielt... Die Idee, die langsame Herleitung einer Veränderung in den Fokus zu nehmen ist deutlich unspektakulärer als eine große Rebellion darzustellen, aber dafür auch reichlich gewitzter und unverbrauchter. Und ganz im Ernst: noch mehr Action, Kampf und Leid hätte ich wohl sowieso nicht mehr ertragen können.


"Nur Mond und Sterne sind unsere Zeugen, als er zu mir kommt. Wir pressen unsere Handflächen aneinander, verschränken unsere Finger und atmen im Gleichtakt. Genau hier gehöre ich hin. Ohne Wenn und Aber. Und als sich unsere Lippen treffen, verschwindet mit einem Mal die Welt. Als wäre es Magie."


Kritisieren könnte man am Mittelteil, dass hier auch eine zarte Liebesgeschichte aufkommt, die aber nur im Hintergrund einen schönen Kontrast zu all den düsteren Seiten der Geschichte bildet. Die dargestellte Liebesbeziehung unterstützt jedoch nur die Emanzipation der Protagonistin und könnte als solche nicht vollwertig alleinstehen. Ich denke, dass die Autorin Tierneys aufblühende Liebe dazu genutzt hat, um als Teil ihrer Rebellion aber auch ihres Selbstvertrauensgewinns zu dienen und als solches funktioniert es auch wunderbar. Als Liebesgeschichte an sich ist dieser Teil der Geschichte aber zu knapp und flach für meinen Geschmack. Dafür wird aber viel Platz für klar feministisch geprägte Sichtweisen und Botschaften gelassen, die sich jedoch nicht nur "gegen Männer" richten (wie das feministischer Literatur oftmals vorgeworfen wird), sondern auch gegen festgefahrene Systeme allgemein und vor allem auch gegen die Grausamkeiten, die Frauen sich gegenseitig antun können. Die Geschichte erzählt also nicht nur von einem leisen Widerstand gegen das gezielte Kleinhalten von Frauen und einem blutigen Überlebenskampf, sondern verbreitet auch die Botschaft von Zusammenhalt und Güte.


"Als du weggingst... dachte ich... Es ist, als wärst du ... von den Toten auferstanden."
"Vielleicht bin ich das ja", murmele ich und ziehe ihre Decke hoch.
"Dann erzähl mir vom Himmel ... wie ist es da oben?", fragt sie, während ihr die Augen endgültig zufallen.
"Der Himmel"; antworte ich beim letzten Flackern der Kerzenflamme leise, "ist ein Junge in einem Baumhaus mit harter Schale und weichem Kern."


Das eigentliche Ende wartet dann mit allerlei Wendungen und Offenbarungen auf, die ich so niemals erwartet hätte. Was sich Kim Liggett hier überlegt hat, ist gewagt, mutig und geht in eine ganz andere Richtung als erwartet oder erhofft. Auch wenn grundlegende Fragen beantwortet werden, hat die Geschichte einen beinahe schmerzhaften Interpretationsspielraum, der es dem Leser ermöglicht, vom Schlimmsten auszugehen, oder das Beste auszumalen.


"Meine Augen sind weit offen und ich sehe jetzt alles."




Fazit:


"The Grace Year" ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt. Die Geschichte vereint schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf, die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...

PS: Auch wenn ich für dieses intensive Leseerlebnis gerne 5 Sterne geben würde, ist die Liebesgeschichte für die Höchstwertung zu leblos und es werden zu wenige Hintergründe des Settings präsentiert.

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  • Handlung
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Veröffentlicht am 26.10.2020

Ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt.

The Grace Year
0

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf ...

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch eine Empfehlung auf Bookstagram (Danke @theawyler, du hast mir ein Jahreshighlight beschert) und ganz in meinem Missionstrieb gefangen muss ich meine Begeisterung jetzt weitertragen. Denn "The Grace Year" vereint sowohl schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf als auch die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...


"Deshalb schicken sie uns her."
"Damit ihr euch von eurer Magie befreit"; sagt er.
"Nein", flüstere ich, während ich in den Schlaf weggleite. "Um unseren Willen zu brechen."


Das Cover ist mit dem weißen Grund und den zarten Dornranken weitaus lieblicher als die Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Auch wenn also nur die ausgestreckte, lavendelfarbene Hand mit dem Blutstropfen und der roten Blume einen dezenten Hinweis geben, bin ich verliebt in die wunderschöne und ans Originalcover angelehnte Gestaltung. Die Ranken und Blumen sind Motive, die sich auch innerhalb der Buchdeckel fortsetzen und Titelseiten, Abschnitte und Vorwort zieren. Besonders ist außerdem, dass die Geschichte in fünf große Abschnitte "Herbst", "Winter", "Frühling", "Sommer" und "Rückkehr" eingeteilt ist, ansonsten aber statt aus Kapiteln aus einer Aneinanderreihung kürzerer Absätze besteht. Zu Beginn war ich davon ein wenig irritiert, mit zunehmendem Handlungsverlauf wird jedoch klarer, warum Kim Liggett diese Aufteilungsform gewählt hat: da für die Mädchen bald jede andere Form der zeitlichen Einteilung abseits der offensichtlichen Jahreszeiten keine Rolle mehr spielt und die Zeit während des Gnadenjahres gnadenlos verrinnt...


"Das ist das Problem, wenn du das Licht hereinlässt - nachdem es dir wieder genommen wird, ist es noch viel dunkler als zuvor."


Während der 416 Seiten begleiten wir die 16jährige Tierney James durch ihr Gnadenjahr - eine rätselhafte Zeitspanne im Leben eines jeden Mädchens in Garner County, während jener ihnen in der Wildnis ihre Magie ausgetrieben werden soll. Tierney sieht ihrem Gnadenjahr sowohl mit Angst als auch mit Trotz entgegen. Angst, weil keiner der Mädchen so genau weiß, was eigentlich passiert und warum immer wieder Mädchen nicht oder versehrt aus der zwölfmonatigen Verbannung zurückkehren, und Trotz, weil sie in der angeblichen Magie der Mädchen ein Unterdrückungsinstrument der Männer sieht. Als sie dann jedoch zusammen mit den anderen Mädchen auf der Insel ankommt, auf der sie ein Jahr verbringen soll, wird sie immer unsicherer, was diese Einschätzung anbelangt. Denn nicht die blutrünstigen Wilderer, die die Mädchen aus dem Lager locken, um ihre magischen Körperteile zu verkaufen, sind die größte Gefahr - weitaus gefährlicher geht es innerhalb der Mauern des Lagers zu...


"Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich gefühlt habe.
Sollen sie es Magie nennen.
Ich nenne es Wahnsinn.
Eins ist auf jeden Fall sicher.
Hier gibt es keine Gnade."


Der Einstieg in die Geschichte fällt zwar leicht, weckt jedoch schon die ersten Ressentiments. Denn was Kim Liggett hier mit wenigen Worten beschreibt ist ein frauenverachtendes Patriarchat erster Güte, in dem Mädchen bei der Geburt das Siegel ihres Vaters in die Fußsohle gebrannt wird, sie durch ein Band in ihren immer zu einem Zopf gebundenen Haaren ihren Status (Kind, Gnadenjahrmädchen, Ehefrau) zeigen müssen und die kaum mehr Rechte besitzen als Haus-/ oder Arbeitstiere. Die Autorin zeichnet dabei jedoch kein großflächiges Gesellschaftsporträt, sondern fokussiert sich einzig und allein auf die Kleinstadt Garner County. Hintergrundinformationen zum weiteren Setting, also umliegenden Städten oder einen größeren Rahmen der Geschichte, erhalten wir kaum und blicken auch nicht weiter über den Tellerrand der kleinen Gemeinde als in die Außenbezirke. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn im engen Raum spielt sich eine so brutale, intensive und fesselnde Geschichte ab, dass jeder Blick nach außen nur Zeit stehlen würde.


"Ich dachte, wenn sie uns aufschneiden könnten, fänden sie wahrscheinlich ein riesiges Labyrinth aus Schlössern und Riegel, Dämmen und zugemauerten Einbahnstraßen. Ein Herz mit so hohen Mauern darum, dass ihm nach und nach der Sauerstoff wegblieb, während es an unseren eigenen Geheimnissen erstickte."


Nachdem uns ein grober Überblick über die gesellschaftlichen Strukturen und das Leben Tierneys im County gegeben wurde, geht es auch schon ins Gnadenjahr. Dadurch dass wir genau wie unsere Protagonistin keinerlei Ahnung haben, was auf uns zukommt, steigt die Spannung bei jedem Schritt raus aus der gewohnten Umgebung weiter an und wir fragen uns, was sich hinter diesem wohlgehüteten Mythos verbirgt. Als die Mädchen dann in ihrem Lager ankommen, ist die Ernüchterung erstmal groß: sich einfach nur ein Jahr lang selbst versorgen - das müsste doch zu schaffen sein. Doch dann beginnen die Mädchen ihre Magie zu entdecken - oder ihren Wahnsinn... Und dann.... wird es krass. Die Autorin spielt geschickt mit ihren Figuren und auch dem Leser, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, was hinter allem steckt. Immer wieder werden wir gezielt auf eine falsche Fährte geleitet und muss Theorien immer wieder verwerfen, weil man nicht mehr genau weiß, was nun Traum und Realität ist.


"Der Winter, der wie ein Löwe hereingebrochen war, verabschiedet sich wie ein Lamm. Der Schnee ist unter einer hellen, sanften Sonne geschmolzen. Die Vögel singen und der Duft nach frischem Grün erfüllt die Luft. Bald haben wir Vollmond. Jede Nacht beobachte ich durch die Dachluke, wie der Mond zunimmt, und es erscheint mir wie ein Spiegelbild meiner Gefühle für Ryker. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, kommt es mir vor, als öffnete sich mein Brustkorb ganz weit, um mehr Luft zu bekommen. Es schmerzt, aber trotzdem will ich dieses Gefühl nicht loslassen."


Spätestens jetzt entwickelt sich "The Grace Year" zu einem wahren Pageturner. Die atmosphärisch-dichte Erzählweise und die Vermischung von Magie und Wahnsinn, Realität und Rausch, Gewalt und Liebe sorgen für fast überkochende Spannung. Da es hier auch immer wieder brutal und blutig zugeht, ist die Geschichte definitiv nicht für zarte Gemüter empfehlenswert. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, verbannt, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Wer es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann (mindestens "Panem"-Stil, eher etwas deftiger), sollte eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch kein eindeutiges Jugendbuch, auch wenn die Protagonistin mit ihren 16 Jahren etwas jünger ist, als die Zielgruppe. Denn auch die psychologische Seite der Geschichte ist dank des emotionsgeladenen, feinfühligen Schreibstil der Autorin ziemlich heftig, weshalb ich die Geschichte einige Male beiseitelegen musste. Dafür trifft sie aber auch die zwischenmenschlichen Nuancen der Gruppendynamik zwischen den Mädchen im Lager und die Entwicklung der einzelnen Beziehungen sehr gut und zeichnet demnach nicht nur eine dystopische Gesellschaft, sondern liefert zeitgleich auch eine Charakterstudie einer Generation Mädchen ab.


"Als ich dich gesehen habe ... auf dem Eis ... da schienst du so..."
"Hilflos", flüstere ich, angewidert von dem Gedanken, dass es das war, was mich gerettet hat.
"Nein", antwortet er, und seine Augen funkeln im Feuerschein.
"Entschlossen. Als du die Axt ins Eis schlugst, ... das war das Mutigste, was ich je gesehen habe."


Dadurch dass Kim Liggett mehrere Zeitsprünge einbaut, fließen die einzelnen Szenen ineinander, die Gefühle werden eine undefinierbare Suppe aus Schmerz und Sehnsucht und Traum und Realität verschwimmen immer mehr. Auch wenn das ein Stilmittel ist, um die Befindlichkeiten der Mädchen auszudrücken, macht es das etwas schwer, am Ball zu bleiben und Vieles verändert sich innerhalb weniger Seiten. Eine wichtige Konstante ist dabei die Protagonistin Tierney, an deren Seite wir immer bleiben, da sie aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählt und die sich in dem Jahr der Erzählung von einem Mädchen zu einer Frau entwickelt. Unter den widrigsten Bedingungen lernt sie, richtig hinzusehen, erfährt wahre Güte und erkennt, dass aus Leid manchmal auch ein Band entstehen kann, anstatt eines Bruchs.


"Was wären wir schon ohne all das?" Ich blicke zum Baum der Bestrafung hinüber. "Wir verletzen einander, weil es dir einzige Möglichkeit ist, unsere Wut zu zeigen. Wenn wir keine Wahl haben, dann schlagen die Flammen in unserem Inneren höher. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten die Welt bis auf die Grundmauern niederbrennen mit unserem Zorn - aber auch mit unserer Liebe und allem, was dazwischenliegt."


Gut gefallen an ihr hat mir, dass sie keine typische Dystopie-Heldin ist. Sie ist zwar stark, mutig, rebellisch und einfallsreich, hat aber keine großen Ambitionen, die Welt zu verändern. "The Grace Year" ist nämlich keine der altbekannten "Auserwählte-rebelliert-und-verändert-Welt-Geschichte", die in diesem Genre den Markt überschwemmen. Stattdessen hat Kim Liggett den Zeitpunkt ihrer Geschichte ein bisschen früher angesetzt. Von einer Rebellion kann hier noch lange keine Rede sein, hier wird erst der fruchtbare Boden bereitet, auf dem die ersten kritischen Gedanken im verborgenen keimen können. Dabei nutzt sie auch subtile Symbolik, wie zum Beispiel die "Sprache der Blumen", bei der vor allem eine besondere Blume eine wichtige Rolle spielt... Die Idee, die langsame Herleitung einer Veränderung in den Fokus zu nehmen ist deutlich unspektakulärer als eine große Rebellion darzustellen, aber dafür auch reichlich gewitzter und unverbrauchter. Und ganz im Ernst: noch mehr Action, Kampf und Leid hätte ich wohl sowieso nicht mehr ertragen können.


"Nur Mond und Sterne sind unsere Zeugen, als er zu mir kommt. Wir pressen unsere Handflächen aneinander, verschränken unsere Finger und atmen im Gleichtakt. Genau hier gehöre ich hin. Ohne Wenn und Aber. Und als sich unsere Lippen treffen, verschwindet mit einem Mal die Welt. Als wäre es Magie."


Kritisieren könnte man am Mittelteil, dass hier auch eine zarte Liebesgeschichte aufkommt, die aber nur im Hintergrund einen schönen Kontrast zu all den düsteren Seiten der Geschichte bildet. Die dargestellte Liebesbeziehung unterstützt jedoch nur die Emanzipation der Protagonistin und könnte als solche nicht vollwertig alleinstehen. Ich denke, dass die Autorin Tierneys aufblühende Liebe dazu genutzt hat, um als Teil ihrer Rebellion aber auch ihres Selbstvertrauensgewinns zu dienen und als solches funktioniert es auch wunderbar. Als Liebesgeschichte an sich ist dieser Teil der Geschichte aber zu knapp und flach für meinen Geschmack. Dafür wird aber viel Platz für klar feministisch geprägte Sichtweisen und Botschaften gelassen, die sich jedoch nicht nur "gegen Männer" richten (wie das feministischer Literatur oftmals vorgeworfen wird), sondern auch gegen festgefahrene Systeme allgemein und vor allem auch gegen die Grausamkeiten, die Frauen sich gegenseitig antun können. Die Geschichte erzählt also nicht nur von einem leisen Widerstand gegen das gezielte Kleinhalten von Frauen und einem blutigen Überlebenskampf, sondern verbreitet auch die Botschaft von Zusammenhalt und Güte.


"Als du weggingst... dachte ich... Es ist, als wärst du ... von den Toten auferstanden."
"Vielleicht bin ich das ja", murmele ich und ziehe ihre Decke hoch.
"Dann erzähl mir vom Himmel ... wie ist es da oben?", fragt sie, während ihr die Augen endgültig zufallen.
"Der Himmel"; antworte ich beim letzten Flackern der Kerzenflamme leise, "ist ein Junge in einem Baumhaus mit harter Schale und weichem Kern."


Das eigentliche Ende wartet dann mit allerlei Wendungen und Offenbarungen auf, die ich so niemals erwartet hätte. Was sich Kim Liggett hier überlegt hat, ist gewagt, mutig und geht in eine ganz andere Richtung als erwartet oder erhofft. Auch wenn grundlegende Fragen beantwortet werden, hat die Geschichte einen beinahe schmerzhaften Interpretationsspielraum, der es dem Leser ermöglicht, vom Schlimmsten auszugehen, oder das Beste auszumalen.


"Meine Augen sind weit offen und ich sehe jetzt alles."




Fazit:


"The Grace Year" ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt. Die Geschichte vereint schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf, die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...

PS: Auch wenn ich für dieses intensive Leseerlebnis gerne 5 Sterne geben würde, ist die Liebesgeschichte für die Höchstwertung zu leblos und es werden zu wenige Hintergründe des Settings präsentiert.

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Veröffentlicht am 14.10.2020

Einfach nur EPISCH!

Crescent City – Wenn das Dunkel erwacht
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Wer schon längere Zeit meinen Blog verfolgt wird nicht überrascht sein zu hören, dass ich dem Erscheinungstermin von "Crescent City" seit der Ankündigung letztes Jahr begeistert entgegengefiebert habe. ...

Wer schon längere Zeit meinen Blog verfolgt wird nicht überrascht sein zu hören, dass ich dem Erscheinungstermin von "Crescent City" seit der Ankündigung letztes Jahr begeistert entgegengefiebert habe. Da der deutsche Verlag mit der Übersetzung wahnsinnig Gas gegeben hat, stand schon seit Mitte September meinem Versuch zu überprüfen, ob die Geschichte wirklich den Hype der englischen Community verdient, nichts mehr im Weg ... außer meinen eigenen Ansprüchen. Wie bei allen langersehnten Neuerscheinungen hatte ich als langjähriger Sarah-J.-Maas-Fan ein wenig Angst, von diesem Genreausflug enttäuscht zu werden. Doch wieder einmal waren diese Sorgen unbegründet: "Crescent City" ist komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und wieder einmal einfach nur EPISCH!


"Hunt schaltete sein Handy aus und trat dann durch die Tür hinaus ins Freie. Er war wie ein Schandfleck im Licht, ein Schatten vor der Sonne. Mit einem einzigen kräftigen Schlag seiner Schwingen stieg er in die Luft. Und schaute nicht mehr zurück."


Schon bei der Gestaltung könnte ich stundenlang ins Schwärmen kommen. Dass das detailgetreue Cover mit den vielen liebevoll gestalteten Einzelheiten, den inhaltliche abgestimmten Spielereien, den kontrastreichen Farben und dem fantasievollen Motiv ein Hingucker ist, muss ich denke ich nicht genauer erklären. Positiv überrascht haben mich aber der kunstvolle Buchschnitt, der auch nach dem Lesen immer noch farbenfroh und knitterfrei mit dem Hauptmotiv verzückt, die aufwändig illustrierte Karte, der goldene Sichelmond unter dem Schutzumschlag und die episch-düstere Ausgestaltung der Buchdeckelinnenseiten. Dass bei meiner limitierten Ausgabe außerdem noch ein passendes Tattoo mit der Aufschrift "Through Love All Is Possible" mitgeliefert wurde, setzt dem stimmigen Gesamtkonzept natürlich nochmal ein Sahnehäubchen auf. Dass das Buch trotz der knapp 1000 Seiten und der gebundenen Ausgabe recht dünn ist, wird durch die recht kleine Schrift und das dünne Bibel-Seiten-Papier gewährleistet. Warum die englische Ausgabe trotzdem nur etwa die Hälfte des Umfangs aufweist, ist und bleibt mir ein Rätsel...


"Du kannst es. Wir stehen das zusammen durch."
Es durchstehen - zusammen. Dieses chaotische Leben. Diese chaotische Welt. Bryce schluchzte, aber dieses Mal nicht nur vor Schmerz."


Inhaltlich aufgeteilt ist die Geschichte in vier Teile "Die Senke", "Der Graben", "Der Canyon" und "Die Schlucht", sowie in 97 Kapitel inklusive eines kurzen Epilogs, die dieser langen und komplexen Story eine Struktur verschaffen. Zuerst erhalten wir einen kurzen Einblick in Bryce´ Leben bevor der allesverändernde Überfall auf ihre Wohnung, den wir leider schon durch den Klapptext gespoilert bekommen, alles durcheinanderwirbelt. Diese fast 120 Seiten starke Einleitung ist zugegebenermaßen sehr anstrengend zu lesen, da die Leser hier permanent durch etliche neuen Namen, Orte, Andeutungen, Erklärungen und Personen gefordert werden. Man muss kopftechnisch anwesend sein, mitdenken, fast schon Notizen machen, um mitzukommen, da sich dieser Einstieg in tonnenweisen scheinbar unwichtigen Details verliert. Später wird jedoch belohnt, wer genau gelesen hat. Denn wer zu Beginn noch dachte, Sarah J. Maas sei so begeistert von ihrem Setting gewesen, dass sie es mit dem Worldbuilding etwas übertrieben hat, wird im Laufe der Geschichte bald merken, dass alles Teil eines abgekarteten Verwirrspiels ist und all die kleinen versteckten Details am Ende ihr Comeback im Showdown erhalten.


"Uns hatte er gesagt. Eine Einheit. Ein Team. Ein Zwei-Personen-Rudel. Seine Schwingen bewegten sich leicht in der Brise, die vom Istros heraufwehte. "Wir werden den finden, der hinter dieser ganzen Sache steckt, Bryce. Das verspreche ich dir." Und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm."


Nach einem Zeitsprung von fast zwei Jahren bildet sich dann aus dem Anfangs-Wirr-Warr eine spritzige, spannende Buddy-Ermittlungs-Crime-Story heraus und die Geschichte wird nun aus verschiedenen Perspektiven an verschiedenen Orten erzählt. Neben der Protagonistin Bryce erzählen nun auch der gefürchtete Vollstrecker-Engel Hunt, der nur der "Umbra Mortis", der Todesschatten, genannt wird, und Bryce´ Bruder, der Fae-Prinz Ruhn. Die personale Erzählperspektive macht es möglich, viel vor dem Leser zu verbergen und doch einen Einblick in die Gefühle und Gedanken der Figuren zu erhaschen. Denn trotz des sehr ereignisreichen Mittelteils, in dem das ungleiche Ermittler-Duo Bryce und Hunt durch fast alle Bezirke von Crescent City zieht, verschiedenen Spuren nachgeht und die ein oder andere unliebsame Begegnung mit einem Dämon hat, nehmen die Beziehung, die Gefühle und vor allem die Entwicklung der beiden Hauptprotagonistin einen großen und wichtigen Part ein. Im dritten Teil zieht Sarah J Maas das Erzähltempo dann nochmal ordentlich an. Die Geschehnisse ins Crescent City spitzen sich zu und auch Hunt und Bryce kommen sich unweigerlich näher, bevor im letzten Abschnitt in einem chaotischen, epischen Durcheinander die Welt gerettet werden muss.


"Warum sammelt sie uns überhaupt?", fragte die Koboldin leise. "Bin ich nicht auch eine Person?" Sie zeiget auf das Tattoo an ihrem Handgelenk. "Warum muss das sein?"


"Weil wir in einer Republik leben, die beschlossen hat, dass jede Bedrohung ihrer Ordnung bestraft werden muss, und zwar so drastisch, dass es andere davon abhält, sich ebenfalls aufzulehnen."
So viel zum inhaltlichen Aufbau, der erstmal solide und logisch wirkt. Das eigentliche Genie der Geschichte entfaltete sich im ausgeklügelten Verwirrspiel der Autorin: wie sie den Leser immer wieder auf falsche Fährten lockt und dann überrascht und ein komplett neues Bild zeichnet, ist wirklich genial! Hier spielt Maas geradezu mit falschen Annahmen und tänzelt auf einem schmalen Grat zwischen Verschwiegenheit, Geheimnissen, Lügen und Täuschungen. Würde ich die Geschichte mit meinem jetzigen Wissen nochmals lesen, würden mir viele subtile Andeutungen und wohl platzierte Ausführungen zu später wichtigen Themen auffallen, die ich angesichts der Komplexität der Handlung beim ersten Lesen komplett übersehen habe. So kommen viele Wendungen zwar sehr überraschend, sind aber nach kurzem Nachdenken immer schlüssig und nachzuvollziehen - was die wirkliche Kunst bei Plot-Twists ist.


"Ein Leben. Das waren Fotos von jemandem mit einem Leben, noch dazu mit einem erfüllten. Eine Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte, ein Zuhause zu haben und jemanden, dem es nicht egal war, ob man lebte oder starb, jemanden, der einem ein Lächeln ins Gesicht zauberte, wenn man nur den Raum betrat. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Mit niemandem."


Das gilt jedoch nicht nur für die Handlung, sondern auch für die Protagonisten. Gerade von Bryce hat man zuerst ein völlig falsches Bild, nämlich das eines verzogenen, macht- und respektlosen Partygirls, welches sie selbst vor der Welt noch zu kultivieren scheint und das sich erst im zweiten Drittel der Geschichte langsam aufzulösen beginnt. Dadurch wirkt die Halb-Fae zu Beginn erstmal etwas unsympathisch, was der spätere Eindruck ihrer starken, sturen und sarkastischen Persönlichkeit aber wieder wett macht. Auch der gefallene Engel Hunt (eigentlich Orion) Athalar, der als Auftragsmörder für den Gouverneur Micah arbeitet und deshalb als "Todesschatten" gefürchtet wird, entpuppt sich als anders als zu Beginn erwartet. Dieser "Ich bin ein egomaner Idiot, aber ihr werdet mich in 100 Seiten trotzdem lieben, weil ich dann meinen weichen Kern zeige"-Move wird ja in so vielen Geschichten gebracht, um vermeintliche Bad-Boy-Klischees zu umgehen, sodass er selbst schon wieder zum Klischee geworden ist. Wir kennen sie ja alle: dominante, starke, sexy Protagonisten (ob CEOs, Prinzen, Engel, Vampire oder Fae spielt dabei keine Rolle), mit großem Ego, insgeheim gebrochenen Herzen und starken Eifersuchtsproblemen. Auch Sarah J. Maas wurde in der Vergangenheit oft für ihre dominanten Alpha-Love-Interests kritisiert. Mit Hunt und Bryce findet sie jedoch einen Weg, genau dieses Stereotyp zu parodieren und offen anzusprechen, in dem sich Bryce über das "Alpha-Arschloch-Gehabe" der Männer in ihrem Umfeld ärgert. Dadurch kommt es nicht nur zu unfassbar lustigen Dialogen, sie problematisiert auch indirekt diese Art der Figurendarstellung, auf die wir LeserInnen immer wieder hereinfallen, auf sehr unterhaltsame Art und Weise. Kleine Kostprobe gefällig?


"Ist es nicht furchtbar ermüdend, die ganze Zeit ein Alpha-Arschloch zu sein? Habt ihr Typen vielleicht eine Art Regelbuch dafür? Oder vielleicht geheime Selbsthilfegruppen?"
"Ein was?"
"Ein Alpha-Arschloch. Dominant-aggressiv." Sie deutet mit der Hand auf seinen nackten Oberkörper. "Du weißt schon: Männer wie du, die sich bei der kleinsten Provokation das Hemd vom Leim reißen. Die auf zwanzig verschiedene Arten einen Mord begehen könnten. Bei denen die Frauen sich überschlagen, um sie anzumachen. Und wenn ihr dann tatsächlich endlich eine vögelt, schaltet ihr total auf den Meine-Gefährtin-Modus: Ihr lasst keinen Mann auch nur in ihre Nähe, entscheidet für sie, was und wann sie zu essen hat, was sie tragen soll, wann sie sich mit ihren Freundinnen essen darf."
"Wovon zum Teufel redest du?"
"Eure Lieblingshobbys sind: vor euch hinbrüten, kämpfen und rumbrüllen. Ihr habt die Kunst perfektioniert, auf dreißig verschiedene Arten zu fauchen und zu knurren. Ihr habt eine Clique scharf aussehender Freunde um euch herum. Und sobald einer davon eine Frau zu seiner Gefährtin macht, fallen auch die anderen um wie Dominosteine. Und die Götter mögen euch beistehen, wenn ihr alle den ersten Nachwuchs bekommt..."


Neben der spannenden Machart mit den vielen unvorhergesehenen Wendungen und Entwicklungen sowie den dynamischen Protagonisten lebt die Geschichte auch von den bekannten Stärken der Autorin. Die erste: Worldbuilding. Manche Fantasy-Welten werden einmal aufgebaut und dann spielt sich die Handlung in diesem statischen Bühnenbild ab, doch nicht bei Sarah J. Maas: Ständig verändert sich der Fokus, der Blickwinkel, der Handlungsort der Geschichte, es werden neue Dinge aufgenommen, bestehende ändern sich - eine stetige Entwicklung, die die Geschichte so perfekt und schlüssig erweitert, dass aus dem roten Fanden, ein rotes Band wird. Das ist eine Fähigkeit, für die ich Sarah J. Maas immer bewundern werde: ihre zusammenhängende Darstellung der Welt, die immer komplexer, verschachtelter und geheimnisvoller wird, mit jedem Charakter und Handlungsstrang, der dazukommt. Hier kreiert sie eine spritzige Mischung aus Dystopie, Krimi und Fantasy-Epos und erzählt von einer modernen Welt, die von einer eigentlich unmöglichen Kombination an Fantasy-Wesen bevölkert wird. Denn statt sich für eine Spezies zu entscheiden, mischt sie hier Engel, Fae, Meereswesen, Hexen, Kobolde, Gestaltwandler, Chimären, Sensenmänner, Vampire, Werwölfe, Geister und Co - fehlen nur noch Feen, Zwerge und Riesen und dann hätte sie alles abgedeckt, was das Fantasy-Genre in den letzten Jahrhunderten erfunden hat. Besonders erstaunlich ist, dass diese verrückte Fantasy-Steampunk-Kombination tatsächlich funktioniert und sie nie das Wesentliche aus den Augen verliert oder die Story überlädt. Sie pickt sich einzelne interessante Aspekte gekonnt heraus, welche dann weitergesponnen und vernetzt werden, bis ein umwerfendes, vielseitiges Gesamtergebnis entsteht!


"Bisher war mir das nicht klar", murmelte sie. "Aber du und ich ... wir sind Spiegel." (...)
"Ist das etwas Schlechtes?", fragte er.
Ein mattes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. "Nein. Nein, es ist nichts Schlechtes."
"Du hast kein Problem damit, dass der Umbra Mortis dein emotionaler Zwilling ist?"
Doch ihre Miene wurde wieder ernst. "So nennt man dich zwar, aber das bist du nicht."
"Und wer bin ich?"
"Eine Nervensäge." Ihr Lächeln war strahlender als die untergehende Sonne über dem Fluss. Er lachte, aber sie fügte hinzu: "Du bist mein Freund."


Hier wären wir dann bei der zweiten bekannten Stärke der Autorin angelangt: ihrem außergewöhnlichen Schreibstil. Auch wenn sie hier durchaus modernen schreibt, als in ihren bisherigen Fantasy-Reihen und ich mich erst an die derbe Ausdrucksweise mit den vielen Flüchen und Beleidigungen gewöhnen musste, kann auch der neue Erzählton nichts an ihrem unfassbaren Talent ändern. Wie für all ihre Bücher gibt es ein Wort, das ihr erstaunliches Talent, Worte in Sätzen so zu platzieren, dass sie der Geschichte alleine durch den Schreibstil ein imposantes Auftreten verleihen, super beschreibt: EPISCH. Durch ihre teils sehr außergewöhnliche Wahl der Worte und ihre intensiven Szenenbeschreibungen, fühlt man sich oft, als würde man einem Film zusehen, der vor den eigenen Augen abläuft - Ein wunderbarer Film voller Action, Gefühle und Hintergrund und mit genialen Schauspielern natürlich


"Ist der Engel da?", fragte Juniper verschmitzt.
"Er ist auf ein Bier mit seinen Killer-Kumpels."
"Sie heißen Triarier, Bryce."


Kurz bevor ich zum Ende komme (ja ich weiß, diese Rezension wird lang, aber ich habe auch viel zu sagen😊), muss ich meine Begeisterung noch mal relativieren, bevor sie zu einseitig wird. Ja, die Geschichte ist definitiv ein Jahreshighlight, konnte mich aber alles in allem nicht ganz so überzeugen wie Maas´ andere beiden Reihen (wobei auch deren Auftaktbände noch Verbesserungspotential hatten). Dafür war der Anfang wie oben schon erläutert zu lasch und die Liebesgeschichte zu sexualisiert. Zwar mochte ich die Entwicklung und die Annäherung von Bryce und Hunt sehr, der Sprung von körperlicher Anziehungskraft zu großer Liebe ging mir aber ein bisschen zu flott und außerdem im allgemeinen Handlungsgeschehen unter. Das Ende entschädigt dann jedoch wieder für diese zwei kleinen Mängel. Hier reiht sich eine 180-Grad-Wendung an die nächste und wir bekommen nicht ein, sondern gleich zwei große Showdowns epischen Ausmaßes vorgesetzt. Was hier passiert habe ich sowas von nicht kommen sehen. Trotz dass ich tausend Theorien während der Ermittlungen entwickelt habe, tappte ich komplett im Dunkeln. Und alles, was ich ersinnen konnte, ist lange nicht so spektakulär und durchdacht wie das, was uns Maas als Erklärung vorsetzt.


"Hunt hielt nur Bryce´ Blick. Ich sehe dich, Quinlan, gab er ihr stillschweigend zu verstehen. Und mir gefällt alles, was ich sehe.
Gleichfalls, schien ihr Lächeln anzudeuten."


Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein Buch so unter Strom gesetzt hat. Emotionen sind die eine Sache - Spannung und krasse Dramatik die andere. Die letzten Seiten waren so außergewöhnlich mitreißend, überraschend, spannend, actionreich, richtungsändernd und eindrucksvoll, sodass ich es wahrscheinlich nie vergessen werde. Alleine für dieses Finale sollte dieser Reihenauftakt von allen Fantasy-Liebhabern der Welt gelesen werden! Eine Wendung jagt die nächste, man hat eigentlich durchgängig Gänsehaut, Tränenausbrüche und unkontrollierte Zuckungen, sodass ich bestimmt die Gehirnströme einer Epileptikerin hatte, als die letzten Seiten durch mein Hirn jagten. An einigen Stellen konnte ich auch tatsächlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Spätestens ab dort waren alle objektiven Kritikpunkte vergessen und ich konnte dem actionreichen, dramatischen und unglaublich tragischen Schluss nur gebannt folgen. Das wirkliche Ende ist dann süß, abgeschlossen aber mit genügend offenen Stellen für eine Fortsetzung! Ich bin der Autorin so dankbar, dass sie nicht auf die Idee gekommen ist, ihre Geschichte zu einem früheren Punkt zu unterbrechen und uns mit einem heftigen Cliffhanger zurückzulassen (da gab es einige Stellen, die sich brutal aber bestens dafür angeboten hätten). Nach so einem Cut ein ganzes Jahr (oder sogar länger - Titel und Veröffentlichungstermin von Band 2 sind noch unbekannt) auf die Fortsetzung zu warten hätte ich wohl nicht verwunden...


"Ich hab Angst", flüsterte sie.
Erneut nahm Danika ihre Hand. "Genau darum geht es doch, Bryce. Darum geht es im Leben: zu leben, zu lieben, im Wissen, dass morgen schon alles vorbei sein kann. Dadurch wird jeder Moment so viel kostbarer."




Fazit:

"Crescent City" ist komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und wieder einmal einfach nur EPISCH! Zwar braucht man einen langen Atem, um in die Geschichte einzusteigen, die gutdurchdachte Verwirrungstaktik der Autorin, die in einem spektakulären und wendungsreichen Showdown mündet, ganz zu schweigen von den dynamischen Protagonisten und den bekannten Stärken der Autorin wie Schreibstil und Worldbuilding, entschädigen aber großzügig für kleinere Mängel.

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