Ein moderner Boccaccio
Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?In einer globalen Pandemie, während der man an fast nichts anderes mehr denken kann, ist es schwer, nicht über eben diese Pandemie zu schreiben. Wie sie uns verändert. Wie sie unsere Erfahrungen prägt, ...
In einer globalen Pandemie, während der man an fast nichts anderes mehr denken kann, ist es schwer, nicht über eben diese Pandemie zu schreiben. Wie sie uns verändert. Wie sie unsere Erfahrungen prägt, so wie andere Pandemien vor uns das Leben anderer Menschen geprägt haben. Aber vielleicht braucht man darüber auch nicht zu schweigen! "Wie hat ihnen das Anthropozän bisher gefallen?" ist ein Kind seiner Zeit - und noch so viel mehr.
Auch wenn ich normalerweise nicht der Typ für Sachbücher bin, hat mich John Green mit seinem neuen Buch wieder einmal komplett in seinen Bann gezogen, sodass ich bis zur letzten Seite jedes Wort verschlungen habe. Erzählt wird von großen und kleinen Emotionen, von den unterschiedlichsten Dingen, die unser Leben ausmachen und am Ende die verschiedensten Phänomene auf einer Skala von einem bis fünf Sternen bewertet. Das Konzept ist simpel und doch erfrischend neu, weil ich mich nicht daran erinnern kann, je ein derartiges Buch gelesen zu haben. Es ist ein buntes Durcheinander und ergibt am Ende doch ein Mosaik; ermöglicht einen Blick auf uns Menschen aus den unterschiedlichsten Perspektiven und stimmt nicht nur nachdenklich, sondern auch hoffnungsvoll.
Greens Erzählstil ist mir bereits aus seinen anderen Büchern bekannt und wird von mir sehr geschätzt. Ruhig und unterhaltsam führt er seine Leser durch die unterschiedlichsten Themen und lässt dabei seine Persönlichkeit durchscheinen. Dadurch, dass es sich um seine privaten Bewertungen der verschiedensten Phänomene handelt, erhält man immer wieder einen Einblick in sein Leben, seine Gedanken und seine Welt, was das Buch unglaublich sympathisch macht.
Von Duftstickern über Nachrichtensendern bis hin zur größten Farbkugel der Welt deckt "Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen" eine faszinierende Bandbreite an Themen ab und doch kommt immer wieder eines durch, dass keine eigene Bewertung erhält und doch wie die Basslinie zu allem dazugehört: Unsere aktuelle Situation in der Pandemie. Meist ist sie nur durch einen Nebensatz oder eine Erinnerung an frühere Zeiten präsent und doch wirkt sie wie eine klare Brille, ohne die sich die Themen nicht betrachten lassen. Wer von so etwas nichts wissen will, sollte also lieber die Finger von diesem Buch lassen - und vielleicht ist es auch diese Brille, die es Lesern nach dieser Pandemie (die womöglich sogar erst in vielen Jahren auf dieses Buch stoßen und sich nicht mehr an diese Zeit erinnern können) schwer machen wird, Green zu verstehen. (Wobei das gut auch bei anderen Sachen der Fall sein kann, denn auch die hier beschriebenen Themen werden sich ändern.) "Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen" ist vieles, aber zeitlos ist es nicht.
Durch seine Vielfalt und die es umgebende Situation erinnert mich das Buch ein wenig an Boccaccios Decamerone. Es tat gut, ein Buch zu lesen, dass die Welt durch eine ähnliche Brille sieht, wie man selbst. "Like a bridge over troubled water" wie Simon & Garfunkel singen und vielleicht ist es ja auch das: Vielleicht hilft uns Greens Perspektive, wenn die Welt wieder zur 'Normalität' zurückkehrt, anders auf die Dinge zu blicken und die Themen, die wir schätzen von den 1-Stern-Phänomenen zu unterscheiden.
"Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?" war für mich wie ein unsichtbares Pflaster, hat mich getröstet und hoffnungsvoll gestimmt, in einer Zeit, in der die Welt (mal wieder) zu enden scheint und es vermutlich doch nicht tun wird, sodass das Buch weniger eine Abschlussbeurteilung als vielmehr ein Aufbruch zu neuen Ufern sein wird. Ich gebe "Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?" deshalb fünf Sterne.