Profilbild von Caillean

Caillean

Lesejury Star
offline

Caillean ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Caillean über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 31.12.2020

Fast auf der Intensivstation...

Eingefroren am Nordpol
0

Was bin ich nur für ein Weichei! Dieser Gedanke kam mir oft beim Lesen dieses Buches. Insbesondere, nachdem ich kürzlich von einem Hundespaziergang durchgefroren zurückkam, das Buch in die Hand nahm und ...

Was bin ich nur für ein Weichei! Dieser Gedanke kam mir oft beim Lesen dieses Buches. Insbesondere, nachdem ich kürzlich von einem Hundespaziergang durchgefroren zurückkam, das Buch in die Hand nahm und dort von „angenehmen“ -8 °C las. Bei mir waren 0 °C gewesen… Naja, Polarforscher ticken eben anders, dachte ich mir. Aber losgelassen hat mich das Thema nicht.

 

Denn wenn man darüber nachdenkt, mit welchem Elan und welchem Enthusiasmus die Besatzung der Polarstern ihre Expedition durchgeführt hat trotz aller Widrigkeiten (Polarnacht mit 24h Dunkelheit pro Tag, Temperaturen bis -42 Grad)… es ist einfach nur bewundernswert. Um möglichst viele Klimadaten aus der arktischen Zone sammeln zu können, dockte die Polarstern an einer großen, möglichst stabilen Scholle an und ließ sich im Arktiseis einfrieren – den ganzen arktischen Winter lang, bis das Eis das Schiff wieder freigab. Nur so konnte man Feldforschung bzw. in diesem Fall Eisforschung betreiben, die wirklich sinnvolle neue Daten erhebt und die unsere Wissenschaftler weiterbringt in der Frage, von welchen Faktoren das Klima der Arktisregion besonders abhängt, wie es sich entwickelt und leider auch in der Frage, wann mit dem großen Sterben der Arktisregion zu rechnen ist. Eins kann man jetzt schon sagen: sie ist schon fast auf der Intensivstation.

 

Markus Rex, der Expeditionsleiter von MOSAiC, wie diese Forschungsreise offiziell hieß, beschreibt eindrücklich und auch für wissenschaftliche Laien verständlich, wie ein Jahr „Eiszeit“ von statten ging. Von den immensen Vorbereitungen über den Alltag auf der Polarstern und der Scholle bis zu den interessanten, aber auch gefährlichen Eisbärbegegnungen nimmt er den Leser mit in diese rauhe, aber äußerst fragile Welt.

 

An einer Stelle seines Berichts war ich sehr bestürzt und wirklich traurig – für mich der Punkt, ab dem ich angefangen habe, darüber nachzudenken, was ich selbst im Kleinen für den Klimaschutz tun kann. Gegen Ende der Expedition erreichte die Polarstern für einige Messungen den Nordpol. Wow, dachte ich, der Nordpol, und hatte sofort das Bild einer undurchdringlichen Eiswüste mit Sturm und riesigen Schneefeldern vor Augen. Der Bericht des Forschers war ernüchternd, wenn nicht gar erschütternd: der Nordpol war durchzogen von Wasserrinnen, viel Eis war geschmolzen und trieb nur bruchstückweise im ansonsten offenen Wasser. Wenn das nicht höchst alarmierend ist, weiß ich auch nicht. Spätestens dieser Bericht hat mich aufgerüttelt. Schon jetzt gibt es im Sommer keine feste Eisdecke mehr am Pol. Auch das Wintereis verschwindet langsam und in wenigen Jahrzehnten wird der Pol wohl zumindest im Sommer komplett eisfrei sein. Was das für unsere Erde und das Wetter bedeutet, kann noch niemand voraussagen. Nur eins ist sicher: entspannter wird es nicht.

 

Deshalb möchte ich dieses Buch ganz vielen Menschen ans Herz legen. Es ist nicht hochwissenschaftlich geschrieben, sondern wirklich ein Leseabenteuer (mit wissenschaftlichen Anteilen, zugegeben). Aber um das Bewusstsein für unseren Planeten zu schärfen, ist es ein wahrer Schatz. Ich garantiere euch, ihr werdet die Welt anders sehen nach der Lektüre dieses Buchs. Ihr werdet vielleicht ein wenig sensibler sein für das Wohl unserer Erde – und dieses Gefühl sollte möglichst viele Menschen erreichen. Deshalb: unbedingt lesen!

 

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.12.2020

Erlebte Geschichte

Der Wintergarten
0

Im wahrsten Sinne des Wortes erlebte Geschichte erzählt Jan Konst in seinem Buch "Der Wintergarten" und berichtet in diesem Sachbuch von mehr als einem Jahrhundert deutscher Historie am Beispiel seiner ...

Im wahrsten Sinne des Wortes erlebte Geschichte erzählt Jan Konst in seinem Buch "Der Wintergarten" und berichtet in diesem Sachbuch von mehr als einem Jahrhundert deutscher Historie am Beispiel seiner Schwiegerfamilie.

Von 1870 bis in die 1990er Jahre - die Zeit nach der Wende - reicht das Spektrum, das er abdeckt. Anhand der vorhandenen Zeugnisse aus dem privaten Familienarchiv dokumentiert er, wie sich die Verhältnisse in diesen spannenden und von tiefen Umbrüchen gezeichneten 120 Jahren geändert haben - und wie jede Generation ihre ganz eigenen Herausforderungen zu meistern hat. Ergänzt wird die Darstellung von vielen Fotos aus dem Familienalbum. Besonders erwähnen muss ich hier den "Donnerbalken", über den ich trotz des ersten Hintergrundes sehr schmunzeln musste☺

Dass das Buch hauptsächlich die Region um Meißen und Dresden als Schauplatz hat, war für mich persönlich besonders interessant, da ich selbst in dieser Region wohne. Ich habe unheimlich viel über die Geschichte der Region und ihrer Menschen erfahren.

Dieses Buch ist eine wahre Schatzkiste für alle, die sich für das ganz normale Leben der Menschen im letzten Jahrhundert interessieren! Unbedingt lesen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.11.2020

Wird mit jeder Seite spannender!

Ohne Schuld
1

Mit dem 3. Teil der Krimi-Reihe um die englische Polizistin Kate Linville ist Charlotte Link ein echtes Highlight gelungen! Sie verknüpft viele lose Fäden zu einem meisterhaften Plot, der in sich stimmig ...

Mit dem 3. Teil der Krimi-Reihe um die englische Polizistin Kate Linville ist Charlotte Link ein echtes Highlight gelungen! Sie verknüpft viele lose Fäden zu einem meisterhaften Plot, der in sich stimmig ist und sich dem Lesepublikum nur langsam offenbart. Genauso wie die Ermittler tappen wir lange Zeit im Dunkeln, stellen selbst Überlegungen an und vermuten Verknüpfungen. Dennoch wird es kaum jemand schaffen, die wirklichen Zusammenhänge vorauszuahnen (behaupte ich zumindest) 😉

Zunächst stellt sich der Fall so dar, dass es mehrere (vermutlich zusammenhanglose) Ereignisse gibt. Eine Frau wird in einem Zug von einem Mitreisenden zunächst durch Blicke belästigt. Als sie sich dem entziehen will, zieht er eine Pistole und eröffnet das Feuer auf sie. Zum Glück ist Polizistin Kate Linville im gleichen Zug unterwegs und kann sich mit der Frau auf der Zugtoilette verschanzen.

An einem anderen Ort stürzt eine junge Lehrerin schwer mit dem Fahrrad, weil ein Draht über den Weg gespannt ist. Anschließend wird auf sie geschossen, doch der Schuss geht ins Leere. Im Krankenhaus dann die erschreckende Erkenntnis: die junge Frau ist vom Hals abwärts gelähmt.

Erst ganz langsam eröffnet sich ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen. Ans Licht kommen Tragödien, die schon fast vergessen schienen. Aber es gibt Leute, die vergessen nie…

Kate Linvilles Gegenpart in der Krimi-Reihe ist DCI Caleb Hale, ein brillianter Ermittler, wegen dem sich Kate nach Scarborough hat versetzen lassen, um in seiner Einheit mitzuarbeiten. Doch alles kommt anders… Caleb hat bekanntermaßen ein Alkoholproblem, das er mehr schlecht als recht im Griff hat. Als ihm bei einer fehlgegangenen Geiselbefreiung (mit Todesfolge) Alkohol im Blut nachgewiesen werden kann, wird er mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert. Ausgerechnet sein langjähriger Kollege, der dem Vorgesetzten Calebs Alkoholproblem deutlich gemacht hatte, wird zum Leiter der Einheit ernannt. Eine Konstellation, die für alle Beteiligten eine Herausforderung darstellt.

Charlotte Links Roman ist vielschichtig, dicht erzählt und vernetzt viele Ebenen. Von den persönlichen Belangen der Ermittler (jedoch nicht in zu großem Umfang) über die aktuellen Ereignisse in den Fällen bis zu den sich langsam aufrollenden Geschehnissen der Vergangenheit ist alles dabei. Dabei legt sie geschickt einige falsche Fährten und lässt ihre Hauptfiguren diesen auch prompt folgen. Man hat als Leser aber nie den Eindruck, dass die Protagonistsen sich „verrennen“. Sie haben einfach keine andere Wahl als nach jedem Strohhalm zu greifen in einer Ermittlung, die – wie das wohl auch im „echten Leben“ häufig der Fall ist – nicht vorankommt, weil es schlicht zu wenig Ansatzpunkte gibt. Dabei schafft es die Autorin – und das ist die eigentliche Brillianz dieses Buches – dass die Geschichte trotzdem von Seite zu Seite spannender wird. Die letzten 150 Seiten habe ich dann in einem Rutsch durchgelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie alles zusammenhängt.

Und das ist wohl das Beste, was ein/e Krimiautor/in erreichen kann: wenn die Leser atemlos weiterlesen bis zum Ende. In diesem Fall einem etwas bitteren Ende, denn ein Handlungsstrang wird bewusst offen gelassen. Es ist eine authentische Situation, denn auch im wirklichen Polizeialltag werden Fälle nicht immer zu 100 % aufgeklärt, auch wenn der Täter überführt werden kann.

Zusammenfassend kann ich nur noch einmal auf den ersten Absatz meiner Rezension verweisen: dieses Buch ist ein echtes Highlight, dessen Raffinesse sich nur langsam, aber doch mit Macht offenbart! 5 Sterne.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.11.2020

Die „heimliche Mutter“ von Elisabeth II.

Teatime mit Lilibet
0

Ich bin traurig. Und enttäuscht. Und auch ein wenig wütend. Mich hat die Geschichte von „Crawfie“, wie die Lehrerin von ihren Schützlingen Elisabeth und Margaret liebevoll genannt wurde, sehr mitgenommen. ...

Ich bin traurig. Und enttäuscht. Und auch ein wenig wütend. Mich hat die Geschichte von „Crawfie“, wie die Lehrerin von ihren Schützlingen Elisabeth und Margaret liebevoll genannt wurde, sehr mitgenommen. Und mein Bild von diversen Mitgliedern der englischen Königsfamilie ist ins Wanken geraten. Klar, spätestens seit Harry und Meghan wissen wir: das Königshaus verzeiht nicht. Wer nicht nach ihren Regeln spielt, gilt als „Verräter“ und hat Konsequenzen zu erwarten. Oder, wie Wendy Holden es auf Seite 209/210 ausdrückt:

„Mochte die Welt im Allgemeinen auch zwiespältig, facettenreich und widersprüchlich sein, so traf das auf die königliche Welt nicht zu. Dort gab es keinen Mittelweg, keine Grauschattierungen. Man gehörte entweder ganz dazu oder gar nicht. Man musste sich entscheiden.“

Eigentlich hatte ich mich für das Buch interessiert, weil ich Elisabeth II. für eine faszinierende Frau halte und weil ich ihr immer viel Sympathie entgegengebracht habe. Mittels dieses Buches noch mehr über sie zu erfahren, besonders über ihre nicht oft thematisierte Kindheit, war für mich der Hauptanreiz es zu lesen. Doch ich habe nicht nur die junge Elisabeth kennengelernt, sondern vor allem eine weitere, genau so faszinierende Frau: Marion Crawford, genannt Crawfie, die 16 Jahre lang ihre Hauslehrerin war und die spätere Königin maßgebend geprägt hat.

Marions Geschichte ist von Verzicht und schwierigen Entscheidungen geprägt. Sie kam zur Königsfamilie fast wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde und stammte aus einem völlig anderen Milieu. Auch ihre Überzeugungen deckten sich kaum mit dem Traditionalismus und der Distanziertheit der Königsfamilie. Und so war ihr Hauptanreiz, die Stelle in der hohen Adelsfamilie anzunehmen, dass sie den beiden kleinen – aus ihrer Sicht bedauernswerten - Prinzessinnen das „echte“ Leben näherbringen wollte. Sie wollte ihnen zeigen, dass sich nicht jeder morgens an einen von Dienern gedeckten Tisch setzen kann, dass die Leute mit der U-Bahn statt in der chauffeurgesteuerten Limousine durch London fahren. Sie wollte, dass aus den verwöhnten kleinen Mädchen junge bodenständige Frauen werden, denen ihre Privilegiertheit bewusst ist.

Dafür brachte sie ihm Laufe ihrer 16jährigen Tätigkeit viele Opfer. Sie verzichtete auf eigene Kinder, auf Beziehungen, ordnete sich dem strengen Protokoll unter und ertrug die Selbstverständlichkeit, mit der insbesondere Lilibets Mutter ihre Dienste in Anspruch nahm, klaglos. Dafür klammerte sie sich an die Liebe, die ihr die Mädchen fast wie einer Mutter entgegenbrachten.

„Das Gefühl, dass in gewisser Weise das Schicksal der Nation von ihr abhing, war höchst verführerisch gewesen. Doch verführerischer und mächtiger war darüber hinaus die Vorstellung, dass die Mädchen im Grunde genommen ihre Töchter waren und sie ihre Mutter.“ (S. 429)

Als die Mädchen erwachsen wurden und Lilibet sich Hals über Kopf in Philip von Griechenland verliebte (den Marion sehr unsympathisch fand), bekam die Idylle aber Risse und Marion merkte, dass ihre Tage im Palast gezählt waren. Der dann folgende sachliche, knappe Abschied – auch von seiten der Prinzessinnen, die als Teenager nicht in der Lage waren zu begreifen, welche Welt da für ihre Lehrerin zusammenstürzte – hat mich sehr traurig gemacht. Ich empfand tiefes Mitleid für Marion. Als es dann noch dazu kam, dass ein unbeteiligter Höfling für schriftliche Ausführungen über die Kindheit der Prinzessinnen ihr als langjähriger Vertrauter vorgezogen wurde, brach für Marion eine weitere Welt zusammen. Doch man bot ihr an, ihre Sicht der Dinge zu Papier zu bringen – und gaukelte ihr vor, dies werde von der Königin mitgetragen. Die Veröffentlichung von „The little princesses“, in denen Marion voller Liebe nur Positives von den Mädchen berichtete, wurde als unverzeihlicher Affront gegen das Königshaus aufgenommen. Mit der Folge, dass sie bis zu ihrem Tod 1987 einsam in ihrer Heimat Schottland lebte und nie wieder von der Königsfamilie hörte.

Dieses Buch hat ganz viele Seiten in mir berührt und mich dabei auch eine außergewöhnliche und geschichtsträchtige Zeit in Großbritannien miterleben lassen. Es lässt mich traurig und wütend zurück ob der Ungerechtigkeit, die Marion auch aus meiner Sicht widerfahren ist. Aber es bewahrt auch das Andenken einer zu Unrecht verstoßenen Frau, die Großes erreicht hat: die Frau zu formen, die seit über 60 Jahren die Königin von England ist und sie zu einer Regentin zu erziehen, die dieser Aufgabe gewachsen ist.

Das Buch ist definitiv eines meiner Jahreshighlights 2020!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.10.2020

Mitreißend erzählt – als wäre man selbst dabei!

Fräulein Gold: Scheunenkinder
0

Berlin, Herbst 1923. Die Stadt ächzt unter einer horrenden Inflationswelle, die Menschen stehen mit Koffern voller Geldscheine Schlange, um etwas Brot oder Gemüse zu ergattern. Die Ellenbogen müssen ausgefahren ...

Berlin, Herbst 1923. Die Stadt ächzt unter einer horrenden Inflationswelle, die Menschen stehen mit Koffern voller Geldscheine Schlange, um etwas Brot oder Gemüse zu ergattern. Die Ellenbogen müssen ausgefahren werden, mit Nächstenliebe kommt keiner mehr weit in diesen tristen Oktobertagen.

Auch die Hebamme Hulda Gold kämpft mit den Schwierigkeiten dieser Tage, während sie von Termin zu Termin hetzt, um ihre Schwangeren und Wöchnerinnen zu betreuen. Ihr Vater, zu dem sie ein eher schwieriges Verhältnis hat, vermittelt ihr den Kontakt zu einer streng gläubigen jüdischen Familie im Scheunenviertel. Die Schwiegertochter des Hauses steht kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes und benötigt Unterstützung. Hulda schafft es, die junge Frau von einem gesunden Jungen zu entbinden. Doch schon bei ihrem ersten Nachsorgetermin ist das Kind spurlos verschwunden und Hulda stößt auf eine Mauer des Schweigens. Doch Hulda Gold ist eine Frau mit Gerechtigkeitssinn. Und so setzt sie alles daran, das Neugeborene zu finden…

Der zweite Teil der Reihe um die Berliner Hebamme Hulda Gold lebt vor allem von der Stimmung, die Autorin Anne Stern meisterhaft einzufangen weiß. Die Sorgen und Nöte der Menschen in Berlin und insbesondere im Mikrokosmos des jüdischen Scheunenviertels werden anschaulich und bewegend geschildert. Man fühlt sich mittendrin in dieser aufreibenden Zeit und leidet, hofft und bangt mit den Charakteren.

Hulda ist eine sehr sympathische und vielschichtige Hauptfigur. Sie ist eine moderne Frau, die auf keinen Fall vom Wohlwollen eines Ehemannes abhängig sein möchte. Sie ist neugierig und steckt ihre Nase durchaus gern in Dinge, die sie vermeintlich nichts angehen – aber sie hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und versucht immer, den Menschen in ihrer Umgebung zu helfen. In diesem Fall wird sie auch mit ihrer eigenen Herkunft konfrontiert, da sie – von Seiten ihres Vaters her – Jüdin ist (auch wenn sie die Religion nicht praktiziert). Sie muss erfahren, dass mittlerweile ein jüdischer Nachname Grund genug ist, um diffamiert zu werden oder sogar körperlich angegriffen. Diese pauschale Verleumdung bestürzt sie und macht ihr Angst. Anne Stern stellt das sehr einfühlsam dar.


Der Roman ist nicht ausgelegt, eine actionreiche Kriminalgeschichte zu erzählen, wie das vielleicht anhand des Klappentextes suggeriert wird. Die Handlung kommt eher langsam in Fahrt und lebt nicht vom Erzähltempo, sondern von den Bildern, die sie im Leser heraufbeschwört. Das muss man Anne Stern lassen – sie versteht es wirklich, den Leser völlig hineinzuziehen in ihre Geschichte, egal ob gerade etwas Dramatisches passiert oder sie „nur“ eine normale Straßenszene beschreibt. Leser, die auf Action stehen, könnten daher ein wenig enttäuscht sein von der (nicht so umfangreichen) Handlung des Buches. Aber ich finde, das macht die Autorin mit ihrer Erzählweise mehr als wett. Ich liebe es, dass ich mich in ihren Büchern völlig verlieren kann und das Gefühl habe, an Huldas Seite zu stehen und alles mit eigenen Augen zu sehen. Deshalb freue ich mich auch jetzt schon auf den nächsten Teil (angekündigt für April 2021)! 4,5 Sterne für die „Scheunenkinder“!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere