Historischer Frauenroman aus interessanter Perspektive
Helene, genannt Leni, hat es als Kind nicht leicht. Sie kam mit einem Klumpfuß zur Welt und muss viel ertragen. Von einem Arzt zum anderen geht es, von einer Krankenhausbehandlung zur nächsten – kein Zuckerschlecken ...
Helene, genannt Leni, hat es als Kind nicht leicht. Sie kam mit einem Klumpfuß zur Welt und muss viel ertragen. Von einem Arzt zum anderen geht es, von einer Krankenhausbehandlung zur nächsten – kein Zuckerschlecken in den Jahren um 1910. Ihre Mutter, Inhaberin einer Konservenfabrik, stellt die Kinder immer hinter ihre Firma. So wird Leni zwar freundlich, aber nie ermutigend behandelt und spürt unterschwellig, dass man in ihr keine Hoffnung für die nächste Generation sieht. Vielmehr gehen scheinbar alle davon aus, dass sie unverheiratet bleiben und später ihre Eltern im Alter pflegen wird. Doch Leni hat ganz andere Pläne.
Als sie mit 9 Jahren wieder einmal wegen einer Operation monatelang im Krankenhaus verbringen muss, lernt sie dort Matthias kennen – den Sohn ihrer Krankenpflegerin Anne. Anne wird ihr innerhalb kürzester Zeit zum Mutterersatz und Matthias wird in den folgenden Jahren viel mehr als nur der „große Bruder“… Das Schicksal führt diese drei Menschen zusammen und was danach passiert, lässt sich immer wieder auf diese Begegnung zurückführen.
Leni hat den großen Traum, Ärztin zu werden. Schon als Heranwachsende verschlingt sie alle medizinischen Fachbücher, derer sie habhaft werden kann. Und auch während und nach dem 1. Weltkrieg hält sie an ihrem Wunsch fest, Medizin zu studieren.
Wie man in den eingestreuten Kapiteln zwischen der Familiengeschichte erfährt, hat es Leni im Jahr 1928 geschafft. Sie kehrt heim ihren Geburtsort und übernimmt dort die leerstehende Arztpraxis. Doch sie hat mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Nicht jeder ist ihrer Familie wohlgesonnen und auch, dass sie allein mit einer 5jährigen Tochter in die Arztpraxis einzieht, macht die Dorfbewohner skeptisch. Doch auch hier zeigt Leni Durchhaltevermögen…
Julie Peters beschreibt den Werdegang einer jungen Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eigentlich nichts, was man nicht schon mehrfach gelesen hätte. Doch Lenis Geschichte ist besonders, denn sie ist bestimmt von einem „Gebrechen“, das damals ein großes Stigma verursachte. Die Autorin schildert mit viel Feingefühl, wie das Kind Leni davon geprägt wird, „die Versehrte“ zu sein. Jemand, der in der weiteren Lebensplanung nicht ernst genommen wird. Jemand, der halt irgendwie mit versorgt werden muss. Wie es Leni gelingt, trotz dieser Bürde ihren Weg zu gehen, ist lesenswert und bereichert die Buchlandschaft, die mittlerweile ja ein breites Spektrum historischer Romane aus den 1920er Jahren zu bieten hat.
Dass ich dennoch einen Stern abgezogen habe, hängt eher mit meiner Erwartungshaltung zusammen – der Klappentext suggeriert, dass es hauptsächlich um Lenis Alltag als erwachsene Frau und Dorfärztin geht. Dies gerät aber durch die ausführliche Schilderung ihres bisherigen Lebens recht weit in den Hintergrund, das Buch gibt nur einen eher kleinen Einblick in ihre Anfänge als Dorfärztin im Jahr 1928. Der Fokus liegt auf ihrem Lebensweg bis dahin und wird auch in den Kapiteln, die im Jahr 1928 spielen, eher auf ihre private und emotionale Situation gelegt. Hier hätte ich mir eine etwas bessere Balance gewünscht.
Für alle, die einen historischen Frauenroman einmal aus einer etwas anderen Perspektive lesen möchten, kann ich „Die Dorfärztin“ wärmstens empfehlen. Denn gerade für Menschen mit körperlichen Einschränkungen war diese Zeit keine leichte. Auf die für August 2021 angekündigte Fortsetzung freue ich mich schon – ich hoffe, dann kann ich Helene auch noch mehr durch ihren Berufsalltag begleiten.