Der verschlungene Pfad des Erwachsenwerdens
Giovanna ist 13 als sie entdecken muss, dass die Welt keineswegs so ist, wie sie immer dachte, und dass Menschen fehlbar sind. Ausgelöst durch die Aussage ihres Vaters, Giovanna werde immer mehr wie dessen ...
Giovanna ist 13 als sie entdecken muss, dass die Welt keineswegs so ist, wie sie immer dachte, und dass Menschen fehlbar sind. Ausgelöst durch die Aussage ihres Vaters, Giovanna werde immer mehr wie dessen Schwester Vittoria, beginnt Giovannas Entwicklung von einem Kind zur jungen Erwachsenen. Um zu erfahren, was an der Sache mit Vittoria dran ist, stellt Giovanna den Kontakt zu ihr her, den die Eltern schon vor vielen Jahren abgebrochen haben. Und stellt fest, wie sehr sie diese andere, unbehütetere Welt fasziniert. Merkt, dass auch Vittorias Sicht der Dinge durchaus ihre Berechtigung hat und muss langsam aber sicher erkennen und akzeptieren, dass weder ihre Eltern, noch sie selbst, noch sonst irgendein Mensch perfekt ist und dass jeder seine persönlichen Abgründe hat.
So wendet Giovanna sich langsam aber sicher immer mehr ab von ihrer behüteten Kindheit und einem Leben zu, in dem sie lernt, unabhängig von anderen Entscheidungen zu treffen, in dem sie sich selbst einen Weg erarbeitet, den Alltag zu bestreiten. Im Mittelpunkt steht dabei der Konflikt innerhalb der Familie, alte Streitigkeiten zwischen Vater und Tante, aber auch die Beziehung der Eltern zu Eltern der besten Kindheitsfreundinnen Giovannas. Und sie lernt: bei allem, was die Erwachsenen tun, tun sie vor allem eines: Sie lügen. Sie manipulieren sowohl die Wahrheit als auch andere Menschen, um ihre Ziele zu erreichen, um möglichst gut dazustehen. Immer weiter dringt Giovanna in dieses schier endlose Geflecht aus Lügen und Halbwahrheiten ein, tauscht die oberflächliche Sicht eines unerfahren Kindes gegen die ruhige, abschätzende einer jungen Frau. Dabei dreht sich nach wie vor alles um den Auslöser ihres Wandels - die Möglichkeit, dass sie zu einer zweiten Vittoria wird, dass sie deren Aussehen annimmt, dürr und hässlich wird, und dass sie sich ihr auch innerlich immer weiter annähert. Dieser Gedanke erschreckt sie zutiefst und fasziniert sie zugleich, sodass die Beziehung zu Tante Vittoria ein Wechselspiel ist aus äußerster Ablehnung einerseits und dem sehnlichen Wunsch nach Anerkennung andererseits.
Erzählt wird in der ersten Person aus Sicht Giovannas, und mit ihr wurde der Geschichte eine wirklich interessante Protagonistin zuteil. Denn Giovanna berichtet dem Leser offen und ehrlich von ihren Gedanken, schreckt nicht davor zurück, auch ihre eigenen Ängste, ihre manchmal zweifelhaften und schlechten Entscheidungen zu offenbaren. Giovanna beschönigt dem Leser gegenüber nichts, am wenigsten sich selbst, und damit ist ihr eine Eigenschaft gegeben, die den Menschen um sie herum fehlt. Elena Ferrante legt es nicht darauf an, mit Giovanna eine sympathische Protagonistin zu schaffen, und genau darum geht es ja - Giovanna ist ehrlich, und sie steht damit permanent im absoluten Kontrast zur gesamten Welt des Erwachsenseins, die bis in ihre Grundfesten auf Lügen basiert.
Giovanna hat eine sehr interessant und vielschichtig beschriebene Persönlichkeit und es ist spannend, sie bei ihrer Entwicklung zu beobachten und sie auf dem Weg durch die Pubertät zu begleiten. Sie macht sich viele Gedanken über sich selbst, ihre Rolle im Leben, ihre Beziehungen zu Eltern, Freunden, Verwandten. Sie sammelt erste Erfahrungen darin, sich in ihrem weiterentwickelnden Körper zurechtzufinden und erlangt gleichzeitig die Fähigkeit, andere Menschen zu duchschauen und die Motive ihres Handelns zu ergründen. Denn auch über andere Menschen denkt sie sehr viel nach und lernt dadurch, sich selbst von den anderen zu unterscheiden, sich zu einem Individuum, einer eigenen Persönlichkeit zu entwickeln.
Etwas an Giovannas Art hat mich beim Lesen sehr fasziniert und so sehr gepackt, dass ich immer weiter hätte lesen können. Mitanzuschauen, wie das kleine, angepasste Mädchen beginnt, sich gegen die ihr von Eltern und Bekannten aufgezwungene Ordnung, den ihr aufgezwungenen Lebensstil überhaupt, zu erheben, um seinen eigenen Weg zu gehen, hat mir sehr gut gefallen. Vor allem auch, da dieser Weg definitv alles andere als gerade verläuft, er gleicht mehr einem verschlungenen, halb zugewucherten Pfad, den Giovanna bezwingen muss, um die Reise ins Erwachsenenleben zu bewältigen. Doch man spürt beim Lesen, wie sehr sie an dieser schwierigen Aufgabe, an Fehlern und Irrtümern wächst und nach und nach ihre Kindheit abstreift, um sich zu einer selbstbestimmten Person zu entwickeln.
Der Schreibstil Elena Ferrantes hat mir gut gefallen und einen angenehmen Lesefluss ermöglicht, und ich hatte auch nie das Gefühl, dass ich mich zum Weiterlesen motivieren muss. Eher im Gegenteil, ich hatte sehr angenehme Lesestunden und fand es schade, als ich gemerkt habe, dass sich das Buch schon dem Ende zuneigt. Alles in allem bin ich begeistert von diesem Buch und kann es nur wärmstens weiterempfehlen!