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Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein unvergleichliches Meisterwerk

1Q84 (Buch 1, 2)
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Bei dieser Rezension sei gewarnt: Vorsicht, Überschwänglichkeit (denn ich bin verliebt in 1Q84).

Das hier hat nichts mit dem einfachen Entschwinden von Realität zu tun, auch nicht mit dem Vermischen mehrerer. ...

Bei dieser Rezension sei gewarnt: Vorsicht, Überschwänglichkeit (denn ich bin verliebt in 1Q84).

Das hier hat nichts mit dem einfachen Entschwinden von Realität zu tun, auch nicht mit dem Vermischen mehrerer. Und wenn man glaubt, der einen Realität zu entschwinden, weil man in den Sog einer anderen gerät, was sind die Informationen wert, die man in mühseliger Lebenszeit angehäuft hat?

Eine Liebesgeschichte über Zufall und Schicksal, über die vielen Facetten eines Urteils, über die Macht einzelner Wesen über andere. Ist unsere heimliche, intime und ganz eigene Realität womöglich ebenso real und offensichtlich wie die uns bekannte? Ich will keineswegs eine genaue Beschreibung der Handlung geben. So ist sie mit der wirklichen Unvorhersehbarkeit unseres Lebens vergleichbar.

Das beste Buch, welches ich seit langem, langem gelesen habe.

Ich glaube kaum, mit einer Bewertung diesem Werk je gerecht werden zu können. Genauso hoffe ich inständig, dass meine Überschwänglichkeit ihm nichts von seinem Zauber nehmen wird.
Längst ist Murakami kein Geheimtipp mehr. Ich schäme mich beinahe dafür, dass ich erst durch einen Wink meiner ehemaligen Deutschlehrerin auf ihn aufmerksam geworden bin.

Spätestens seit der Pilgerreise des farblosen Herrn Tazaki sollte eigentlich jeder den Autor kennen, von dem viele Stimmen bedauern, dass er den Literaturnobelpreis nicht bekommen hat.
1Q84 ist nicht nur, wie vorschnelle Zungen laut werden lassen, schlicht eine Hommage an Orwells 1984:

Es ist, als würde die Zukunftsvision aus der Vergangenheit seine Klauen verschränken mit der Vision einer parallelen Realität von der Vergangenheit - aus der Gegenwart. Und sogar der Sex, der meiner Meinung nach bei übermäßigem Vorhandensein in Romanen ein Risikofaktor ist, schafft es, unaufdringlich zu sein, nicht nach Aufmerksamkeit zu heischen, obwohl er durchaus präsent ist und die vorherrschende Atmosphäre in bestimmte Bahnen lenkt.

Alles greift irgendwie verworren ineinander über, verworren und doch mit so perfekter Zielgenauigkeit, dass man das Unbehagen eines Beobachteten fühlt.

Die Charaktere sind echt, davon bin ich überzeugt, es muss sie wirklich geben: Wie sonst könnte ich ihren Atem im Nacken spüren? Sie sind anwesend und ich lerne sie kennen, wie sie auch mich kennenzulernen scheinen.

Es geht eine düstere Faszination von den ersten beiden Teilen aus, und trotz vieler Wiederholungen werden die Augen nicht satt. Das Gehirn ebenso wenig. Und was sonst noch so eine Rolle spielt. Sicherlich auch die Nieren.

Die Erwartungen liegen nun verdammt hoch, was den dritten (und letzten) Teil betrifft. Vielleicht verderbe ich hierdurch auch vielen zukünftigen Lesern den Spaß am Roman. Das meinte ich eben mit der Überschwänglichkeit. So viel sei also gesagt: Dieses Buch ist echt mies, kauft es trotzdem.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Auf dass die Fernsehgeräte schmoren!

Reality-Show
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Ein weiterer Roman über die tiefen Abgründe der menschlichen Seele

Folgende Grausamkeit erweist sich als die beste Produktionsidee in der Geschichte des Fernsehens (und aller anderen Medien): Gecastete ...

Ein weiterer Roman über die tiefen Abgründe der menschlichen Seele

Folgende Grausamkeit erweist sich als die beste Produktionsidee in der Geschichte des Fernsehens (und aller anderen Medien): Gecastete Aufseher wachen auf brutalste Weise über Gefangene eines Lagers, kommandieren sie herum, entscheiden über deren Leben - oder Tod.

Helden der Show sind die ausgemergelten Gefangenen, die wissen, dass sie hier sterben werden. Umso verlockender für das Publikum, dass es per Fernbedienung täglich zwei ihrer Lieblinge für die Show opfern kann.

Nothomb wurde für ihre außergewöhnlichen Werke bereist vielfach ausgezeichnet. Unverkennbar ist ihr oft morbider Zynismus, der auch im vorliegenden Werk für die richtige Würze verantwortlich ist.

Man merkt schon, dass die Autorin privat ihre Freunde am liebsten auf dem Friedhof trifft, es blickt einfach durch. So passen ihre Pointen vollkommen natürlich ins Bild: Sie fühlt sich wohl auf dem Gebiet der bitterbösen Menschlichkeit.

Ich habe durchaus schon vernichtende Kritik zu Reality-Show gelesen, die sich hauptsächlich an den minimalistischen Schreibstil klammerten. Der führt beinahe unweigerlich dazu, dass dem Leser die Aufgabe gegeben wird, selbstständig Bruchstücke zu nutzen und besonders feinfühlig solche zu Persönlichkeiten zusammenzusetzen. Die Charaktere halte ich somit absolut nicht für flach oder seelenlos. Sie sind, was der Leser aus ihnen macht, so wie die Grausamkeit der Show mit dem Namen Konzentration ist, was das Publikum von der Show verlangt (wenn auch zum Teil unbewusst).

Zugegebenermaßen entspricht dieses Werk der Autorin, vermutlich weniger als ihre anderen Arbeiten, nicht unbedingt den Lesebedürfnissen der breiten Masse. Viele Leser sind, verständlicherweise, denkfaul. Sie wollen ein gemachtes Nest mit ausgereiften Figuren. Schließlich sind sie die Konsumenten, nicht selber die Autoren. Gerade auch weil es sich um ein seitenarmes Buch handelt, erwartet der Leser nicht wirklich, sein eigenes schöpferisches Talent nutzen zu müssen.

Nothomb hätte locker drei- bis vierhundert Seiten Reality-Show schreiben können. Wie der Titel aber schon sagt, ist die Handlung so realitätsnah, sind die Charaktere so typisch, dass nur die Zutatenliste erforderlich ist, um zu wissen, wie der Eintopf gekocht werden muss. Es ist nicht erforderlich, zu erklären, dass es sich um diese spezielle Art von Eintopf handelt, die man eigentlich zu jeder Gelegenheit servieren kann.

Wenn man meint, die Unglaubwürdigkeit dieses raffinierten Werkes beweisen zu können, muss man vor idiotischen Fernsehsendungen wie Promi-Big-Brother die Schweinsäuglein verschließen. Dazu kommt, dass sogar eine Utopia-Show geplant ist. Quasi noch eine experimentelle Schippe drauf. Man nutzt die Natur willenloser und geldhungriger Menschen, um aus ihnen Versuchskaninchen für die eigenen unglaublichen Versuche zu machen. Solange es Zuschauer gibt, gibt es auch Freiwillige, die sich erniedrigen lassen. Solange es Zuschauer gibt, ist die Art dieser Erniedrigung ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Zum Anbeißen!

Madame Mallory und der Duft von Curry
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Ein Roman, der an die Geschmacksnerven geht.

Hassan erblickt nicht nur einfach das Licht der Welt, er erschnüffelt es. Nein, nicht wie ein Hund. Auch nicht wie Grenouille, nicht einmal annähernd. Also ...

Ein Roman, der an die Geschmacksnerven geht.

Hassan erblickt nicht nur einfach das Licht der Welt, er erschnüffelt es. Nein, nicht wie ein Hund. Auch nicht wie Grenouille, nicht einmal annähernd. Also noch einmal von vorn: Als Hassan geboren wird, seine Sinne für die Welt geöffnet werden, untermalt der Duft scharfen Currys die Szene. Das prägt maßgeblich sein späteres Lebens als Koch, ist aber keineswegs der Grund für sein unglaubliches Talent (er hat es einfach): ein seltenes Gespür dafür, was wirklich schmeckt und wie man es zubereitet. Zufällig treibt das Schicksal seine Familie aus ihrer Heimat und quer durch Europa, zu einer kulinarischen Reise der Extraklasse. Haften bleibt unser Protagonist in Frankreich, wo seine Gabe sich erst entfalten kann. Dies ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Karriere.

Das Cover und die Form des Buches zum Film wirken gewissermaßen irreführend. Suggeriert wird offensichtlich eine Liebesromanze mit französisch-exotischem Touch. Das ist doch Quark. In Wirklichkeit geht es um viel mehr als das, in Wirklichkeit ist das Ganze sehr viel kreativer und auf keinen Fall derartig fad. Man kann da wirklich nur die Nase rümpfen. Das tue ich in diesem Augenblick sogar.
Mit interessanten und charmanten, oftmals eigensinnigen Charakteren bietet Madame Mallory und der Duft von Curry (auch: Madame Mallory und der kleine indische Küchenchef) so viel mehr als ein immergleicher Nicholas Sparks. Nichts gegen Nicholas Sparks.

Der Roman hätte auch heißen können: Kochen mit Buchstaben. Wobei es sich weder um Buchstabensuppe noch um Russisch Brot handeln dürfte, denn das mag ich beides nicht. Ich werde paranoid, wenn mein Essen mir Botschaften sendet. Also: Kochen mit Buchstaben. Oder: Morais - ein Künstler. Wie man ein Buch schreibt, das beim Lesen Düfte absondert. Kleingedrucktes versichert dem Leser: Garantiert ohne Furz und Käsefüße.
Aber jetzt mal im Ernst. Selten passiert es mir, dass ich bei Beschreibungen von Düften, Lebensmitteln und Gerichten - in einem Roman, wohlgemerkt - Opfer einer übermäßigen Speichelproduktion werde.

Die Atmosphäre ist dicht und überaus plastisch. Als Leser wird man auf die Reise der indischen Familie mitgenommen und sieht die Orte so deutlich vor Augen, als ob sie wie in einem Videospiel vor des Lesers Nase generiert würden. Mit Geräuschen, Menschen, Gerüchen, mit der individuellen Stofflichkeit der Szene. Also doch eher ein Videospiel mit futuristischer Umsetzung.
Die vielen Zeitraffer und Ortswechsel können jedoch auch das Gegenteil bewirken, das kommt auf den Leser an. Wer eine Vertiefung braucht, eine Art Omnipräsenz von einem gewissen Ort und bekannten Gesichtern, der wird womöglich mit der Dynamik der Handlung nicht unbedingt warm. Tatsächlich wirkt das Geschriebene eher wie eine Biografie, wobei man nicht vergessen darf, dass jedes Leben ein Abenteuer ist.

Dieses wird durchzogen von einer gehörigen Portion Familienzusammenhalt, einem kleinen bisschen Liebe und vor allem: Frankreich. Paris. Nach all den Eindrücken verschiedenster Orte hier einer, an dem die Geschichte auf ihre Art sesshaft wird. Ich halte nicht unbedingt viel von dem Mädchenfilm-Image von Paris, aber während ich mich quasi selber dort befand, liebte ich es. Einfach, weil Liebe hineingeschrieben worden ist. Während ich das hier abtippe, befinde ich mich selbstverständlich wieder außerhalb der Geschichte. Und bin auch kein Fan von Paris mehr.

Der Fokus bleibt allerdings bei Hassans Karriere. Wer schnulzige Romantik erwartet, erhofft, muss rechtzeitig die Leiter von seiner siebten Wolke wieder hinunter zur Erde finden. Oder sie löst sich unter seinem Hintern auf. Dann könnte im Grunde alles passieren. Hinge von unzähligen Faktoren ab, zum Beispiel von der eventuellen Existenz von Schonern, Helm, sonstigem Körperschutz. Außerdem ist wichtig, worauf man fällt. Und, falls die Wolke sich über einem Ozean auflöst, der Grad der von dessen schuppigen und nichtschuppigen Bewohnern ausgehenden akuten Gefahr.
Was sich kompliziert ausdrücken lässt, geht eigentlich auch einfach. Rosarote Brille ab, Horizont erweitern. Hat auch, wenn man darüber nachdenkt, einige Vorteile. Wenn man diese dann nutzt, wie eine plötzliche Lust, sich am Herd zu versuchen, können die passenden Rezepte im Anhang des Buches eine Inspirationsquelle darstellen.

Resümierend sollte man froh sein, dass dieser besondere Roman verfilmt worden ist. Welch ein Sakrileg, verschwände er im Sumpf der vergessenen Geschichten.
Wenn man ihn ausgelesen hat, fühlt man sich so satt wie nach einem üppigen Mahl. Zufrieden satt. So zufrieden, dass man die oberen Knöpfe seiner Hose öffnen und seinen irgendwie riesig gewordenen Bauch liebevoll betätscheln will. Ein tolles Buch.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Papier, das nach Erzählfreude duftet

Tanz der seligen Geister
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Irgendwann zwischen 1930 und 1950. Wann genau, ist doch egal. Im Grunde ist auch egal, wo genau (wenn man mal davon absieht, dass Hintergründe aus jener Zeit erzählungsspezifisch relevant sein könnten). ...

Irgendwann zwischen 1930 und 1950. Wann genau, ist doch egal. Im Grunde ist auch egal, wo genau (wenn man mal davon absieht, dass Hintergründe aus jener Zeit erzählungsspezifisch relevant sein könnten). Fünfzehn Erzählungen handeln davon, erwachsen zu werden und Selbstständigkeit zu erlangen, hinter die Fassaden des täglichen Lebens zu schauen. In ihrer Heimat wurde die Autorin mit dieser ersten Kurzgeschichtensammlung berühmt, erst vor wenigen Jahren kam die deutsche Übersetzung daher. Einfach so.

Stile unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, da steht das Geschlecht des Autors als Kriterium eher an einer hinteren Stelle.
Bei Alice Munro, der Literaturnobelpreisträgerin im Jahr 2013, macht es umso mehr aus. Jede Erzählung, auch wenn mal keine Frau Protagonistin ist, hat etwas umwerfend Feminines an sich. Womöglich ist es auch die grazile Feinheit, mit welcher jedes Wort an seinen optimalen Platz gerückt wurde. Oder ist es die noch lange nachhallende Stille im Anschluss an jede Handlung, beinahe wie der Vorwurf einer nachtragenden Erzählerin im Anschluss an ein klärendes Gespräch? Was das angeht, bin ich mir jedenfalls sicher: Man könnte einem eine ganz andere Geschichte vorlegen; nach wenigem Lesen weiß man genau, ob es sich um ein Munrosches Werk handelt.

Keine Action, kein Blutvergießen, kein großes Drama. Mit diesem Band hält man gewissermaßen eine Kostbarkeit in den Händen, einen Zeugen hoher, sehr, sehr hoher literarischer Kunst. Nietzsche hat mal etwas geschrieben. Also, eigentlich recht viel.
Und ich kenne den genauen Wortlaut auch längst nicht mehr.
Es ging um Schlichtes und Sensationelles, den Unterschied zwischen einem wahren Künstler und einem, der eigentlich gar nichts drauf hat - abgesehen von Zahnbelag vielleicht, aber der Witz ist veraltet und wirkungslos geworden. Ein Möchtegern braucht Sensationelles, Ungewöhnliches und vom Hocher Reißendes, denn nur dann gebührt seinem Schaffen eine Aufmerksamkeit: nur so betrachtet man überhaupt sein Werk. Ein wahrer Künstler ist aus dieser Phase bereits hinausgewachsen; ihm reicht der Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens, das Alltägliche. Daraus schafft er, was dem Möchtegern verwehrt bleibt.

Alice Munro ist so ein Möchtegern. Reingelegt. Alice Munro ist eine wahre Künstlerin. Dass sie das einmal werden würde, ist schon in diesem Debütband, dessen Erzählungen erstmals 1968 zusammen erschienen sind, klar zu erkennen.
Ich finde die Lektüre beinahe frustrierend, denn wie soll man jemals an ihre scheinbare Mühelosigkeit, ihre offene, widersprüchliche und doch vollkommen widerspruchslose Eleganz herankommen? Jede Geschichte ist federleicht und doch schwer genug, dass sie eines lauen Abends vom Himmel auf die trostlose Erde herabgeschwebt kam. So kommt es einem vor. Trotzdem hallt in ihnen das irdische Leben wider: Erwachsenwerden, Emanzipation, diffizile Verhältnisse, der eigene Stellenwert in Gesellschaft und Familie. Autobiografische Details (wie das Leben auf einer Fuchsfarm) garantieren eine ausnahmslos glaubhafte Szenerie.

Was mich als Leser jedoch am meisten faszinierte, waren gar nicht mal die Erzählungen an sich. Hauptsächlich blieb mir hinterher die Liebe zu ihnen in Erinnerung, nach der die Buchseiten förmlich gerochen haben. Als gehörten sie alle zu einer großen Familie.

Veröffentlicht am 15.09.2016

So viel Leben passt in eine winzige Schachtel

Der beste Roman des Jahres
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Über die Sinnlosigkeit aller Buchpreise.

Den diesjährigen Gewinner des Elysia-Preises, der normalerweise für Literatur vergeben wird, ernennt die wohl kompetenteste Jury überhaupt. Warum nur häufen sich ...

Über die Sinnlosigkeit aller Buchpreise.

Den diesjährigen Gewinner des Elysia-Preises, der normalerweise für Literatur vergeben wird, ernennt die wohl kompetenteste Jury überhaupt. Warum nur häufen sich die Probleme? Intrigen und Skandale, Beziehungen und Bindungen, Familiengeschichten und seltsame Zufälle erschweren die Wahl. Befinden wir uns hier in der Literaturbranche oder drehen wir Hollywood-Filme?
Die Autoren sind überzeugt von ihren Werken, bis auf Lakshmi Badanpur, deren Kochbuch es durch ein Missverständnis auf die Longlist geschafft hat. Und wessen Arbeit einfach unbeachtet blieb, der hat mit noch viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen: dem Ego eines jeden Künstlers und dem tödlichen Strudel jeglicher Form von Liebe.

Auf den ersten Blick kommt Der beste Roman des Jahres daher wie die mit Abstand eleganteste Schachtel Zigaretten weit und breit. Auch sein Inhalt gleicht einem der schädlichen Zylinder, nur eben, dass er im Grunde vollkommen gesundheitsneutral ist, es sei denn, man vergisst das Essen und Trinken oder gar Atmen beim Verzehr der süchtig machenden Lektüre.

Es handelt sich hierbei um eine unterhaltsame Satire, die mit überraschenden Wendungen, realitätsnaher und glaubhafter Komik, immer aktueller Thematik und zuletzt sogar mit einer gewissen (kriminellen) Spannung aufwartet. Dem Leser drängt sich angenehmerweise eine unbändige Lust auf, zu schreiben - so hielt auch ich selbst mitten in der nächtlichen Atmosphäre stets einen Notizblock bereit, um eventuell die Lektüre zu unterbrechen, weil mir eigene, verrückte Ideen gekommen waren. Verschiedenste Facetten des Leser- und Schreiberdaseins werden beleuchtet, teilweise liest man Texte mit den Protagonisten mit, die (bezieht sich auf Texte und Charaktere zugleich) unterschiedlicher nicht sein können - eine genüsslichere Inspiration kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Beinahe paradox ist die Liebe zum Detail, die raffinierte Handwerkskunst einer wie mit der Pinzette zurecht gerückten Geschichte, wenn man deren komprimierte Form bedenkt. Angemessene Längen, aber auch beabsichtigte Dynamik hängen gänzlich von der jeweiligen Figur ab, aus deren Perspektive der Leser die Welt gerade beobachtet. In dieser Hinsicht erinnert die spezielle Schreibweise fast Koeppens Tauben im Gras, nur in einer sofort verständlichen und bescheideneren Form, jedoch auch mit dem Fokus der Handlung auf ein öffentliches Event, welches außerdem durch die Anwesenheit aller bekannten Personen ein gewisses Chaos beherbergt. Soll heißen, dass an dieser Stelle die Tendenz zur Überforderung gegeben ist.

Der Autor beschäftigt sich mit der Frage nach dem Wesen der Literatur. Ist sie nicht schlicht und ergreifend Kunst? Sind nicht alle wirklich guten Romane Kunstwerke und somit aufgrund ihrer Einzigartigkeit unvergleichbar? Vielmehr spielt scheinbar bei der Erstellung einer Longlist alles andere eine Rolle: Politik, Geld, Macht, Sex, menschliches Versagen, Missverständnisse und nach einer äquatorlangen Kette auch irgendwann, beinahe unbedeutend: der ganz und gar eigene Geschmack.

Über dieses Werk enthusiastisch zu behaupten, es sei der beste Roman des Jahres, käme einer Beleidigung gleich, die dreister nicht ausfallen könnte. Wer solch eine Lektüre für irgendeinen Buchpreis nominieren würde, wäre entweder bodenlos frech, oder aber hätte ihre hauptsächlichen Thesen nicht annähernd verstanden.
Ich wage jedoch zu behaupten, dass ich für mich persönlich feststellen darf, in diesem Jahr nur wenig Vergleichbares gelesen zu haben.