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Veröffentlicht am 07.03.2021

Tatort Geschichte

Stay away from Gretchen
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Tom Monderath ist zufrieden mit sich und seinem Leben: als Anchorman bei einem Kölner Fernsehsender ist er beruflich sehr erfolgreich und bei der Damenwelt beliebt. Dieses angenehme Leben gerät allerdings ...

Tom Monderath ist zufrieden mit sich und seinem Leben: als Anchorman bei einem Kölner Fernsehsender ist er beruflich sehr erfolgreich und bei der Damenwelt beliebt. Dieses angenehme Leben gerät allerdings aus seinen geregelten Bahnen, als seine betagte Mutter Grete die ärztliche Diagnose Alzheimer erhält. Er fühlt sich gezwungen, sich mehr seiner Mutter zuzuwenden und sich um ihr Wohl zu kümmern. Doch nicht allein ihr unaufhaltsames Vergessen bereitet ihm zunehmend Probleme. In ihrer Wohnung findet er Hinweise auf einen Teil ihrer Vergangenheit, den sie ihm bisher beharrlich verschwiegen hat. Als Einzelkind aufgewachsen, sieht er sich plötzlich mit der völlig unerwarteten Tatsache konfrontiert, dass er eine Halbschwester hat …
Glaubhaft schildert Susanne die Gegenwart von Mutter und Sohn im Wechsel mit Gretes Vergangenheit. Die Erinnerungen Gretes an ihre eigene Kindheit in Ostpreußen, den Kriegsbeginn und die Flucht vor den vorrückenden russischen Truppen, die schließlich in Heidelberg endet, sind lebendig beschrieben, ebenso wie der harte Kampf um das Überleben in der Nachkriegszeit. Zudem lässt sie Themen wie Fraternisation, Vorurteile, Rassenkonflikte und Adoption einfließen - die gut recherchiert sind - und auch der moderne Begriff der transgenerationalen Weitergabe von Traumata klingt an. Wer sich noch genauer informieren möchte, kann sich an dem Literarturverzeichnis im Anhang orientieren.
Tom (und der Leser) erhalten eine Ahnung davon, wie sehr alles miteinander zusammenhängt, und wie schmerzhaft es oft ist, die Vergangenheit der Eltern zu erforschen. Dennoch, Abel will mit ihrem Roman der älteren Generation „Gehör verschaffen und ein Gesicht geben.“ Denn: „Geschichte, wie bitter sie auch sein mag, ist Realität, die täglich in unsererGegenwart und die in unsere Zukunft fortwirkt.“

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Veröffentlicht am 28.02.2021

Von hoher Komplexität

Otmars Söhne
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Nur 24 Stunden schildert Buwalda auf den mehr als 600 Seiten seines Romans, die dem Leser einiges an Durchhaltevermögen abverlangen. Doch schafft er es spielend, zumindest meine Aufmerksamkeit zu halten. ...

Nur 24 Stunden schildert Buwalda auf den mehr als 600 Seiten seines Romans, die dem Leser einiges an Durchhaltevermögen abverlangen. Doch schafft er es spielend, zumindest meine Aufmerksamkeit zu halten.
Er erzählt von drei Menschen, deren Leben sich berühren und die sich miteinander verflechten. Auf der unwirtlichen sibirischen Insel Sachalin muss Ludwig, der auf einer Geschäftsreise hier den CEO des Shellkonzerns, Johann Tromp, getroffen hat, seinen Heimflug in die Niederlande wegen eines Schneesturm verschieben. Ludwig, der mit seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist, ahnt: jener Tromp könnte sein leiblicher Vater sein. Während er noch zögert sich ihm zu offenbaren, begegnet er seiner ehemaligen WG-Mitbewohnerin Isabelle, die zu einem Interview mit Tromp ebenfalls auf die Insel geflogen ist. Geschickt lässt der Autor in diese Wartezeit ausführliche Rückblicke und Erinnerungen einfließen. Ludwig denkt zurück an seine Kindheit, das Leben mit Stiefvater und –geschwistern, seinen beruflichen Werdegang und seine Begegnung mit Isabelle in seiner Studentenzeit. Ebenso erfahren wir aus Isabelles Sicht von ihrer Familie und ihren Erlebnissen als investigativer Journalistin. Buwalda knüpft ein kompaktes Netz aus den Themen Familie, Identität, Loyalität, Schuld; vor allem das Thema Sexualität prägt den Roman. Dabei erzählt er so detailliert, dringt so tief in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Protagonisten ein, dass sich der Leser wie ein Voyeur vorkommt.
Raffiniert konzipiert und lebendig geschrieben, fesselt seine Erzählung dennoch. Allerdings lässt er den Leser nach dem Countdown (beginnend mit Kapitel 111) bei Kapitel 75 mit einem unerwartet offenen Ende zurück, so dass kein Zweifel bleibt, dass eine Fortsetzung geplant ist: es handelt sich um den ersten Teil der Trilogie 111.

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Veröffentlicht am 04.12.2020

Überleben

Marianengraben
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Paulas Liebe zu ihrem Bruder ist so tief wie der Marianengraben. Und ebenso tief ist ihre Verzweiflung und Trauer, als der kleine Tim bei einem Badeunfall stirbt. Schuldgefühle quälen sie: hätte sie ihn ...

Paulas Liebe zu ihrem Bruder ist so tief wie der Marianengraben. Und ebenso tief ist ihre Verzweiflung und Trauer, als der kleine Tim bei einem Badeunfall stirbt. Schuldgefühle quälen sie: hätte sie ihn retten können, wenn sie vor Ort gewesen wäre? So trifft sie nachts auf dem Friedhof Helmut, der heimlich die Urne einer Freundin ausgräbt. Indem der brummige, abweisende Alte und die junge Studentin sich Stück für Stück näher kommen und einander ihre Geschichten anvertrauen, wird auch Paulas Depression weniger und die Trauer liegt nicht mehr so tief - sie steigt aus 11000 Meter Tiefe des Marianengrabens schließlich auf 0 Meter.
Jasmin Schreiber erzählt sensibel, aber nicht sentimental und lässt die Erinnerung an den kleinen wissbegierigen Tim in rückblickenden Gesprächen wieder aufleben. Auch wenn sie über den Tod schreibt - hin und wieder blitzt leichter Humor auf. Wie lebt man weiter nach einer solchen Katastrophe? Schreibers Roman hallt noch lange nach.

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Veröffentlicht am 04.12.2020

Gänsehaut-Feeling

Das Seidenraupenzimmer
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Schon als Kinder geben sich Natsuki und ihr Cousin Yu ein Eheversprechen und schwören, zu "überleben, egal, was passiert." Beide Kinder haben es in ihren Familien schwer; sie wollen ihre Verwandten zufrieden ...

Schon als Kinder geben sich Natsuki und ihr Cousin Yu ein Eheversprechen und schwören, zu "überleben, egal, was passiert." Beide Kinder haben es in ihren Familien schwer; sie wollen ihre Verwandten zufrieden stellen, scheinen aber nie deren Ansprüchen zu genügen. Glücklich sind sie nur, wenn sie in den Ferien Zeit miteinander verbringen können. Hier im Haus der Großeltern befindet sich das geheimnisvolle Seidenraupenzimmer, in dem einst Seidenraupen gezüchtet wurden. Und wie sich diese Raupen in seidigen Kokons verpuppen, so ziehen sich auch Natsuki und Yu in eine Fantasiewelt zurück, fühlen sich als ausgesetzte Außerirdische.
Aus Natsukis Sicht schildert die Autorin Sayaka Murata bildhaft und äußerst drastisch die Vorgänge. Es ist schmerzhaft für den Leser zu sehen, wie wenig sich die Erwachsenen bemühen, ihre Kinder zu verstehen, und wie sehr sie sich dafür engagieren, sie in die „Fabrik“, wie Natsuki die Stadt und ihre Gesellschaft nennt, zu integrieren. Sogar, als beide selbst schon erwachsen sind, nehmen sie Einfluss. Jeder der beiden jungen Leute versucht sich auf eine andere Weise den Anforderungen der Umwelt zu entziehen. Natsuki tut das, indem sie den Schein einer bürgerlichen Ehe mit Tomobi zu wahren sucht, der - ebenso wie sie - nicht einfach funktionieren will, wie es von ihm erwartet wird. Zu dritt flüchten sie in das Großelternhaus und leben dort allein, nach eigenen Regeln, die sich immer abstruser und kompromissloser gestalten. Aber so einfach lässt sich die Familie nicht abschütteln...
Murata zeigt ohne zu beschönigen, wie stark in Japan Werte wie Tradition, Leistung, Anpassung hochgehalten und die Interessen des Individuums den gesellschaftlichen Erwartungen untergeordnet werden. Ein Roman, der regelrecht Gänsehaut verursacht!

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Veröffentlicht am 22.11.2020

Gegen das Vergessen

Die Schweigende
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Wer ist Peter? Imke hat keine Ahnung und ist unsicher, wie sie den Wunsch ihres sterbenden Vater erfüllen soll, jenen rätselhaften Peter zu suchen. Als sie ihre Mutter Karin um Rat fragt, weicht diese ...

Wer ist Peter? Imke hat keine Ahnung und ist unsicher, wie sie den Wunsch ihres sterbenden Vater erfüllen soll, jenen rätselhaften Peter zu suchen. Als sie ihre Mutter Karin um Rat fragt, weicht diese aus und flüchtet sich in Schweigen - so, wie sie es ihr Leben lang getan hat. Doch Imke forscht weiter und kommt einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur.
In ihrem neuen Roman führt Ellen Sandberg mit ihrer ruhigen, leichten Schreibart ihre Leser/innen an ein Thema heran, das lange im Verborgenen blieb, doch nicht vergessen wurde und in letzter Zeit wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses rückt: es dreht sich um zahlreiche Missbrauchsvorwürfe gegen kirchliche und staatliche Heimerzieher. Sandberg geht es vor allem die Moralvorstellungen und Erziehungsmethoden, wie sie bis in die 70er Jahre üblich waren, und deren oft sadistischer Ausnutzung. Vor allem in den Kinderheimen konnten sich solche „Pädagogen“ unter dem Deckmantel einer „strengen Erziehung“ austoben. Welche Konsequenzen die psychische und physische Gewalt für ihre Zöglinge (und auch deren Nachkommen) hatte, erzählt die Autorin in ihrer Familiengeschichte von Karin und ihren drei Töchtern. Lebendig und eindrücklich beschreibt sie Imkes beharrliche Suche und die Probleme, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Natürlich wird ein Roman allein nicht diesem heiklen Thema gerecht, doch er lenkt einmal mehr die Aufmerksamkeit darauf und wirkt damit dem Vergessenwerden entgegen.

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