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Veröffentlicht am 12.12.2020

Fesselnde, tiefgründige Familiengeschichte zur BLACK LIVES MATTER-Thematik

Die verschwindende Hälfte
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INHALT
Mallard, ein kleiner Ort im ländlichen Louisiana. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger ...

INHALT
Mallard, ein kleiner Ort im ländlichen Louisiana. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger zu werden scheinen. Hier werden in den 1950ern Stella und Desiree geboren, Zwillingsschwestern von ganz unterschiedlichem Wesen. Aber in einem sind sie sich einig: An diesem Ort sehen sie keine Zukunft für sich.
In New Orleans, wohin sie flüchten, trennen sich ihre Wege. Denn Stella tritt unbemerkt durch eine den weißen Amerikanern vorbehaltene Tür - und schlägt sie kurzerhand hinter sich zu. Desiree dagegen heiratet den dunkelhäutigsten Mann, den sie finden kann. Und Jahrzehnte müssen vergehen, bis zu einem unwahrscheinlichen Wiedersehen.

(Quelle: Rowohlt Buchverlag)


MEINE MEINUNG
Die US-amerikanische Autorin Brit Bennett gilt als eine der wichtigsten jungen Stimmen der US-amerikanischen Literatur und wird als würdige Nachfolgerin der Literaturnobelpreisträgerin und literarischen Grand Dame Toni Morrison gehandelt. In ihrem neuesten Roman «Die verschwindende Hälfte» erzählt sie eine bewegende, Generationen umspannende Familiengeschichte, in der die Emanzipation von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht eine tragende Rolle spielt. Hierin nimmt sich Brit Bennett zahlreicher wichtiger Themen an, die sich mit alltäglichem Rassismus, Diskriminierung und Gewalt gegen Afroamerikaner auseinandersetzen, aber sich auch eingehend mit Fragen der Besinnung auf die eigenen Wurzeln, der Identitätssuche, Lebenslügen und dem Umgang mit Transsexualität beschäftigen.
Obwohl der Roman in den USA derzeit als das Buch zur "Black-Lives-Matter"–Bewegung gilt, geht es der Autorin doch um viel mehr als nur um eine literarische Aufarbeitung von eingefahrenen Vorurteilen, alltäglicher Ausgrenzung und Gewalt gegen die afroamerikanische Bevölkerung in den USA und deren Folgen auf das Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien.
Ihren Anfang nimmt die Familiengeschichte im fiktiven Südstaatenstädtchen Mallard im ländlich geprägten Louisiana in den 1950ger Jahren und führt uns bis in die 1990ger Jahre hinein.
Im Mittelpunkt des vielschichtig angelegten Romans stehen die Zwillingsschwestern Stella und Desiree, die in Mallard in einer afroamerikanischen Community aufwuchsen, die sehr auf ihre außergewöhnliche Hellhäutigkeit bedacht war. Im Alter von 16 Jahren verschwinden die beiden über Nacht aus der Stadt sind, um die Enge und Perspektivlosigkeit hinter sich zu lassen und in New Orleans ein neues Leben zu beginnen, doch trennen sich ihre Schicksalswege schon bald. Während Stella ihre Herkunft verleugnet, sich von ihrer Vergangenheit und familiären Wurzeln abwendet, um einen reichen Weißen Mann zu heiraten und als Weiße mit ihrer weißen Tochter Kennedy unter den Privilegierten in Los Angeles zu leben, heiratet Desiree einen tiefschwarzen Mann und bekommt mit ihm eine ebenfalls sehr dunkelhäutige Tochter, Jude. Mit ihr flüchtet Desiree schließlich vor ihrem gewalttätigen Mann zurück nach Mallard.
Auf sehr faszinierende Weise beleuchtet die Autorin in unterschiedlichen Episoden die miteinander verwobenen Schicksale ihrer sehr vielschichtig angelegten Frauencharaktere, gewährt Generationen übergreifende Einblicke und wechselt immer wieder zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen. So folgen wir den verschlungenen Lebenswegen der beiden Schwestern, erhalten aufschlussreiche Einblicke in ihr Seelenleben und erfahren schließlich immer mehr über ihre Bemühungen einen Platz in der Gesellschaft und in ihren so gegensätzlichen Lebenswelten zu finden. Sehr einfühlsam und anschaulich beschreibt Bennett, welchen Preis die beiden Zwillinge für ihre folgenschweren Lebensentscheidungen zu zahlen haben. Äußerst eindrücklich fand ich die Schilderungen von Stellas aufgewühltem Innenleben, ihrer permanenten Angst vor Enttarnung ihrer Lebenslüge, dem ständigen innerlichen Abwägen, der Einsamkeit und ihrem unbedingten Willen zur Assimilation bis hin zur Selbstverleugnung. Geschickt thematisiert die Autorin in ihrer tiefgründigen Geschichte auch den allgegenwärtigen Schmerz und die innere Zerrissenheit von Zwillingen, seine „andere Hälfte“ zu verlieren.
Im Laufe der fesselnden Handlung verfolgen zudem auch das bewegende Schicksal ihrer Töchter Jude und Kennedy, die sich zufällig begegnen, und das fragile Lügengeflecht ihrer Mütter ins Wanken bringen. Ihnen gelingt es schließlich die familiären Brüche, ambivalente Denkmuster, alte Vorbehalte und Klassenunterschiede zu überwinden, um ein neues Miteinander daraus erwachsen zu lassen. Ein überaus schöner, versöhnlich stimmender Ausklang!

FAZIT
Eine bewegende, vielschichtig angelegte und mitreißend erzählte Familiengeschichte über die Emanzipation von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht sowie über das Leben als „Falsche Weiße“.
Sehr lesenswert!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.11.2020

Fesselndes Katz-und-Maus-Spiel

Baskische Tragödie
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INHALT
An den Stränden des Aquitaine werden massenhaft Pakete angespült, gefüllt mit reinstem Kokain. Ein kleines Kind probiert davon – und fällt ins Koma. Commissaire Luc Verlain ermittelt in dem Fall, ...

INHALT
An den Stränden des Aquitaine werden massenhaft Pakete angespült, gefüllt mit reinstem Kokain. Ein kleines Kind probiert davon – und fällt ins Koma. Commissaire Luc Verlain ermittelt in dem Fall, bis ihn eine geheimnisvolle Nachricht aus dem Baskenland erreicht.
Luc macht sich auf den Weg gen Süden und findet sich plötzlich auf der anderen Seite wieder. Er wird verhaftet, ausgerechnet wegen des Verdachts auf Drogenschmuggel – und wegen dringendem Mordverdacht. Wer spielt dem Commissaire böse mit? Nach seiner Flucht vor der Polizei über die spanische Grenze hat Luc keine Wahl: Er muss das Spiel eines altbekannten Psychopathen mitspielen. So beginnt in den engen Gassen San Sebastiáns und auf dem stürmischen Atlantik eine teuflische Schnitzeljagd. Um den Plan des Mannes zu durchkreuzen, der um jeden Preis Rache nehmen will, muss Luc alles auf eine Karte setzen.
(Quelle: Hoffmann & Campe Verlag )

MEINE MEINUNG
Der neue Krimi „Baskische Tragödie“ von Alexander Oetker ist bereits der 4. Band seiner beliebten, im französischen Aquitaine angesiedelten Krimireihe um den sympathischen Ermittler Luc Verlain.
Oetker ist ein sehr packender, temporeicher Krimi mit viel französischem Flair gelungen, der uns diesmal aber von der Aquitaine wegführt und uns auf eine nervenaufreibende Jagd durch Südfrankreich bis ins Baskenland mitnimmt. Die gelungene Mischung aus interessanten Einblicken in das Privatleben der lebensechten Charaktere und stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen mit historischen, kulturellen und den obligatorischen kulinarischen Ausflügen, die diesen Aquitaine-Krimis eine besondere Note, hat mich wieder gut unterhalten können, aber auch der überaus clever angelegte Kriminalfall hat mich von Beginn an fesseln können.
In seinem vierten und bisher persönlichsten Fall wird Commissaire Luc Verlain ganz unvermittelt von seiner Vergangenheit eingeholt und durch eine mysteriöse Botschaft in eine fatale Falle gelockt. Unversehens wird aus dem ermittelnden Jäger ein gnadenlos Gejagter, dem Drogenschmuggel, Entführung und Mord zur Last gelegt werden. Erst schrittweise wird klar, dass sich ein beängstigend mächtiger Drahtzieher an ihm rächen will und sich ein perfides Katz- und Mausspiel für ihn ausgedacht hat.
Oetker hat für seinen Regionalkrimi einen rasanten, wendungsreichen und recht verzwickten Plot entworfen, der sich mit seiner cleveren Schnitzeljagd hervorragend zum Mitfiebern und Miträtseln eignet. Auch wenn ich anfangs über einige Verwicklungen ungläubig den Kopf schütteln musste, so durchschaute ich langsam die Zusammenhänge, und verfolgte gebannt die Ereignisse um Luc bis zum fesselnden Finale und dramatischen Showdown. Hervorragend hat mir auch die überraschende Auflösung gefallen, die der Autor für uns bereit hält.
Mit Luc Verlain hat der Autor einen faszinierenden, tiefgründig angelegten und sympathischen Charakter geschaffen, der sehr lebensecht wirkt. Als aufrichtiger, professionell agierender Ermittler, der auch im Privatleben ein sehr umsichtiger und empathischer Mann ist, bangt man von Beginn an um sein Schicksal. Auch sein Ermittler-Team stellt eine sehr interessante Mischung aus sehr eigenwilligen, Charakteren dar, die für so manche Überraschung gut sind.
Ich bin schon sehr gespannt, in welchem fesselnden Fall Luc Verlain demnächst ermitteln wird, und freue mich schon auf eine Fortsetzung dieser sehr unterhaltsamen Krimi-Reihe!

FAZIT
Ein spannender und rasanter Krimi mit viel französischem Flair, einem Ausflug ins faszinierende Baskenland und einem sehr persönlichen Fall für Luc Verlain!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.11.2020

Ergreifende Familiengeschichte

Was uns verbindet
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INHALT
Nachdem Jaya als vielgereiste Tochter eines indischen Diplomaten Ende der 80er-Jahre den amerikanischen Banker Keith Olander in einem Londoner Pub kennenlernt, geht alles ganz schnell: Sie kaufen ...

INHALT
Nachdem Jaya als vielgereiste Tochter eines indischen Diplomaten Ende der 80er-Jahre den amerikanischen Banker Keith Olander in einem Londoner Pub kennenlernt, geht alles ganz schnell: Sie kaufen ein Haus in einem Vorort, heiraten und bekommen zwei Kinder, Karina und Prem. Alles scheint perfekt, bis an einem Nachmittag ihr Glück durch einen tragischen Unfall unwiderruflich zerstört wird…
(Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

MEINE MEINUNG
In ihrem jüngsten Roman »Was uns verbindet« erzählt die kanadische Bestsellerautorin Shilpi Somaya Gowd die ergreifende Geschichte einer Familie, die durch eine unerwartete Tragödie ihren Zusammenhalt verliert und auseinanderbricht. Es ist zugleich aber auch eine anrührende und fesselnde Coming-of-age Geschichte, die sehr zum Nachdenken anregt.
Äußerst einfühlsam und anschaulich zeigt die Autorin auf, welche einschneidenden Veränderungen ein derartiger Schicksalsschlag nach sich zieht, wie jeder einzelne mit Schmerz, Trauer und Schuldgefühlen umgeht und ganz individuell versucht mit dem schmerzvollen Verlust umzugehen. Gekonnt und voller Empathie zeichnet die Autorin das facettenreiche Portrait einer zerbrochenen Familie in einem tragischen Ausnahmezustand, lässt uns teilhaben an ihren leidvollen Erfahrungen und ihrem langen Weg zurück in den Alltag und in eine hoffnungsvolle Zukunft, die schließlich auch die Familie wieder zusammenfinden lässt.
Aus drei verschiedenen Perspektiven begleiten wir die individuelle, aufwühlende Reise von Jaya, Keith und ihrer Teenager-Tochter Karina mit all ihren Tiefen, Abgründen und Kämpfen mit ihren inneren Dämonen aber auch ihren hilfreichen Erkenntnissen auf ihrem Weg aus der schmerzvollen Lebenskrise. Zudem erleben wir in einer weiteren Perspektive die Gedanken und Einschätzungen von Prem, der aus einem fernen Ort das weitere Schicksal seiner Familie verfolgt.
Rasch ist man von der eindringlichen und aufwühlenden Geschichte gefesselt und verfolgt gebannt das beklemmende Schicksal der verschiedenen Charaktere und ihrem verzweifelten Ringen um Normalität und neuem Halt im Leben. Sehr differenziert und authentisch hat die Autorin ihre Figuren ausgearbeitet. Auch ihre schrittweise Entwicklung zeigt sie sehr glaubwürdig auf. Während Jaya völlig aus der Realität abdriftet und Trost in der Spiritualität findet, konzentriert sich Keith auf seine Karriere. Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist die junge Karina, deren Schicksal sehr berührt und zu Herzen geht. Sehr ergreifend und empathisch schildert die Autorin, die verschiedenen leidvollen Stationen in ihrem weiteren Leben, ihre schweren Schuldgefühle, Einsamkeit und ihre Suche nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Liebe und Trost, die sie auf Abwege führt und ihr weitere herbe Enttäuschungen beschert. Sehr nachdrücklich bringt die Autorin uns Karinas Kampf gegen ihre inneren Dämonen näher, konfrontiert uns mit den dunklen Abgründen ihrer instabilen Psyche und lässt uns aber schließlich auch an ihrem wachsenden Selbstvertrauen teilhaben und dem Wiederentdecken ihrer eigenen Stärke.
Die Autorin beendet ihren aufwühlenden, sehr nachdenklich stimmenden Roman mit einem bewegenden und hoffnungsvollen Ausklang.

FAZIT
Ein eindringlich geschriebener, bewegender Roman mit einer aufwühlenden Familiengeschichte. Sehr lesenswert!

  • Einzelne Kategorien
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Veröffentlicht am 15.11.2020

Unterhaltsame Fortsetzung und kenntnisreiches Sittengemälde

Fräulein Gold: Scheunenkinder
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INHALT
1923: Die Berliner Hebamme Hulda Gold wird zu einer Geburt ins Scheunenviertel nach Mitte gerufen. Obwohl die jüdische Familie dort nach ihren ganz eigenen, strengen Regeln lebt, gewinnt Hulda ...

INHALT
1923: Die Berliner Hebamme Hulda Gold wird zu einer Geburt ins Scheunenviertel nach Mitte gerufen. Obwohl die jüdische Familie dort nach ihren ganz eigenen, strengen Regeln lebt, gewinnt Hulda das Vertrauen der jungen Mutter. Und als das Neugeborene nach wenigen Tagen verschwindet, wird sie unvermittelt in die rätselhafte Suche nach ihm verstrickt. Wie kann ein Kind in dieser engen Gemeinschaft einfach so verlorengehen? Je hartnäckiger Hulda den Spuren folgt, desto stärker stößt sie auf Widerstand, denn die Bewohner des Viertels haben ihre gut gehüteten Geheimnisse.
Bald zeigt sich, dass die Berliner Polizei zur gleichen Zeit nach Kinderhändlern fahndet, und Hulda ahnt einen Zusammenhang. Kann Kommissar Karl North ihr helfen, das Neugeborene zu finden? Doch dann entlädt sich im Scheunenviertel der Judenhass in einem Pogrom, und Hulda selbst gerät in höchste Gefahr.
(Quelle: Rowohlt)
MEINE MEINUNG
Nach dem gelungenen Auftakt der großartigen historischen Roman-Trilogie rund um die Berliner Hebamme Hulda Gold hat die deutsche Autorin Anne Stern mit „Fräulein Gold-Scheunenkinder“ einen nicht weniger faszinierenden zweiten Teil vorgelegt. Diese spannende und lehrreiche historische Saga, die vor der schillernd ambivalenten Kulisse der 1920er Jahre in Berlin angesiedelt ist, hat mich wieder von Beginn an in ihren Bann gezogen.
Auch wenn es diesmal keinen richtigen Kriminalfall gibt, bei dem Hulda und ihr Freund Kommissar Karl North gemeinsam ermitteln, konnte mich die Autorin mit dem hervorragend recherchierten, zeitgeschichtlichen Hintergrund und ihrer dichten Milieuzeichnung sehr fesseln. Sehr facettenreich kreist die Geschichte um die Thematik Verschwinden und Vergessen und so ist es auch an Hulda sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und ihren jüdischen Wurzeln auseinanderzusetzen.
Die unterhaltsame wie fesselnde Geschichte um die aufgeweckte, selbstbewusste Hauptfigur Hulda Gold, deren Arbeit als Hebamme sie diesmal ins ärmliche Berliner Scheunenviertel führt, hat mir erneut sehr gut gefallen. Das spurlose Verschwinden des von ihr entbundenen Neugeborenen lässt Hulda keine Ruhe und so beginnt sie, eigene Nachforschungen anzustellen. Die streng geheimen Ermittlungen ihres Freunds Kommissar North scheinen sich um skrupellose Kindermakler zu drehen, denen das Verschwinden und die Ermordung zahlreicher Kinder zur Last gelegt wird.
Dank des lebendigen, sehr bildhaften Schreibstils fällt es nicht schwer, in die historische Vergangenheit des für Deutschland sehr dunklen Jahres 1923 einzutauchen. Gekonnt entführt uns Stern in die damalige Hauptstadt der Weimarer Republik Berlin, die sich gerade auf dem Höhepunkt der Inflation in einer gewaltigen Krise befindet. Allgegenwärtig sind die Auswirkungen des gnadenlosen Wertverfalls des Gelds sichtbar, eine aufgeheizte Stimmung herrscht in der Bevölkerung angesichts der Wucherpreise, Mangelversorgung, der immer weiter um sich greifenden Not, bitterer Armut und beständigem Hunger nicht nur bei den armen Leuten.
Stern vermittelt insgesamt ein sehr stimmiges, authentisches und recht düsteres Bild der damaligen Zeit. Atmosphärisch dicht portraitiert Stern das bedrückende Alltagsleben in all seinen Facetten, lässt uns hautnah am Schicksal der Bevölkerung teilhaben und gibt uns darüber hinaus erschreckende Einblicke in die um sich greifende radikale Stimmung, die als Sündenbock die Juden verantwortlich macht. So haben wir unmittelbar Anteil an einem historisch verbürgten Ereignis, das sich im November 1923 im Scheunenviertel ereignete - dem gewalttätigen Pogrom gegen die Ost-Juden dieses Elendsviertels, angezettelt von der rechten Völkischen, unterstützt von Teilen der Polizei sowie von der damaligen Pressen bagatellisiert und verfälscht dargestellt. Sehr eingehend hat Stern auch die chaotischen Zustände im damaligen Berliner Scheunenviertel recherchiert und äußerst lebendig und anschaulich mit ihrer Handlung verwoben. In ihrem ausführlichen Nachwort geht die Autorin auf die bewegte Geschichte des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Scheunenviertels ein. Faszinierend ist insbesondere das bunte Gemisch der unterschiedlichsten, nebeneinander lebenden Kulturen, unter anderem war das Scheunenviertel auch ein Refugium der Ost-Juden, und einzigartig ihr ausgeprägter Gemeinschaftssinn.
Huldas Ermittlungen führen uns zu den abgründigen Seiten der Gesellschaft, dorthin wo Elend, Armut, Prostitution, Alkoholismus und Verbrechen allgegenwärtig sind. Nach einigen unvorhersehbaren Wendungen kommt die Auflösung des Falls fast schon etwas zu unspektakulär daher.
Die Geschichte lebt neben der lebendig eingefangenen, zeitgeschichtlichen Kulisse vor allem von seinen vielschichtig angelegten Figuren. Die verschiedenen Charaktere sind allesamt detailliert und liebevoll ausgearbeitet, so dass sie sehr lebensnah wirken. Hervorragend gefallen hat mir vor allem die sympathische, clevere und selbstbewusste Hulda, die als ledige, berufstätige Hebamme und mit ihren fortschrittlichen Einstellungen ihrer Zeit weit voraus ist. Sie ist eine sehr mitfühlende, hilfsbereite Frau, die sich nicht nur für ihre Freunde einsetzt, sich durchzusetzen weiß und aber sich auch so manches Mal in Schwierigkeiten bringt.
Ihr Freund Kommissar Karl North bleibt weiterhin eine recht rätselhafte und unnahbare Figur. Ein schwieriger Charakter, der oft mit seiner Herkunft und Vergangenheit hadert, aber durchaus sympathisch mit seine Ecken und Kanten ist. Die Beziehung zwischen den beiden hat sich zwar intensiviert, doch gleichen ihre Begegnungen einer emotionalen Achterbahnfahrt mit ungewissem Ausgang. Auch die vielen Nebenfiguren angefangen von Huldas guten Freund Bert, dem liebenswerten Zeitungsverkäufer vom Winterfeldtplatz in Schöneberg über Huldas neugierige, aber erstaunlich patente Vermieterin bis hin zur faszinierenden Apothekerin Jette Langhans – sie alle sind sehr warmherzig und facettenreich ausgearbeitet sind, so dass man sie bald in sein Herz schließt und sich schon auf ein baldiges Wiedersehen freut.
FAZIT
Eine gelungene Fortsetzung der neuen Hebammen-Saga mit einer historisch fundiertem Hintergrund, atmosphärisch dichtem Berliner Lokalkolorit und lebendigen, sympathischen Charakteren!
Eine fesselnde Zeitreise ins Berlin der 1920ger Jahre und lehrreiche Geschichtsstunde!

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Veröffentlicht am 14.11.2020

Fesselnder, tiefgründiger Krimi

Helvetia 1949
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INHALT

Chur im Visier des Bösen
Chur 1949: Während der Festlichkeiten des Eidgenössischen Schützenfestes wird der Stadtpräsident erschossen aufgefunden. Neben ihm liegt die Leiche der besten Schützin ...

INHALT

Chur im Visier des Bösen
Chur 1949: Während der Festlichkeiten des Eidgenössischen Schützenfestes wird der Stadtpräsident erschossen aufgefunden. Neben ihm liegt die Leiche der besten Schützin der Schweiz. Alles deutet darauf hin, dass sie die Täterin ist, die sich danach selbst gerichtet hat. Doch die Spur führt Landjäger Caminada in die Schlucht am Stadtrand, ins ominöse Quartier Täli, für dessen Bewohner andere Gesetze zu gelten scheinen. Zwischen Altstoffhändlern, Gastarbeitern und Trödlern entdeckt er in einem verruchten Tanzlokal Hinweise, die ihn erschaudern lassen. Dann wird eine weitere Tote im Bergwald der Schlucht gefunden ...

(Quelle: Emons)

MEINE MEINUNG

Der zeitgeschichtliche Kriminalroman „Helvetia“ vom Schweizer Autoren Philipp Gurt ist bereits der zweite Band der Krimi-Reihe rund um die interessante Hauptfigur Landjäger Walter Caminada und seinen jungen Kollegen Erkennungsfunktionär Marugg. Erneut ist Gurt ein äußerst fesselnder Krimi gelungen, der nicht nur durch die spannenden Ermittlungen sondern auch durch die starken Charaktere zu überzeugen vermag.

Angesiedelt ist die packende Handlung, in der es gleich um mehrere aufsehenerregende und rätselhafte Kapitalverbrechen geht, in der Bündner Metropole Chur während des Eidgenössischen Schützenfestes im Jahre 1949.

Schon der Auftakt mit dem schockierenden Prolog, in dem der Leser hautnah Zeuge des kaltblütigen und dramatischen Mordes an einer jungen Frau wird, lässt rasch Spannung aufkommen. Der sehr bildhafte und lebendige Schreibstil des Autors liest sich sehr angenehm. Aufgrund der vielen Schwyzerdütschen Ausdrücke und Redewendungen und der oftmals im Dialekt geführten Dialoge dauerte es anfangs etwas, mich in die Geschichte hineinzufinden, dann wurde ich aber vollkommen von dem besonderen Charme der Sprache und dem authentischen Flair gefangengenommen.

Gekonnt lässt der Autor den Leser ins Graubünden der Nachkriegszeit eintauchen und sorgt mit seinen bildhaften Beschreibungen für ein interessantes Lokalkolorit. Sehr eindrucksvoll portraitiert er die Stadt Chur an der Plessur mit den verschiedenen Schauplätzen und seinem Quartier Täli, in dem ganz eigene Gesetzmäßigkeiten herrschen. Der hervorragend eingefangene Zeitgeist und das interessante Gesellschaftsportrait sind anschaulich in die Handlung eingebunden, so dass man ein stimmiges, authentisches Bild der damaligen Zustände vor Augen hat. Insbesondere die lebendigen und sehr stimmigen Schilderungen zur mühseligen Ermittlungsarbeit der Landfeldjäger und die Anfänge der kriminaltechnischen Ermittlungen und der damals noch sehr rückständigen Ausstattung der Polizei, bei der Einsatzfahrzeuge, Telefone oder Schreibmaschinen noch nicht verbreitet waren, konnten mich begeistern. Kaum zu glauben, dass Fingerabdrücke damals erst als Beweismittel zugelassen wurden und ihnen mit großer Skepsis begegnet wurde.

Trotz der zunächst recht ruhig verlaufenden Kriminal-Ermittlungen gelingt es Gurt hervorragend, einen subtilen Spannungsbogen aufzubauen, der zum Ende hin immer mehr gespannt wird. Der Autor hält einige überraschende Wendungen und unvorhersehbare Verwicklungen für uns bereit, so dass man gebannt der Aufklärung der Mordfälle entgegensieht.

Philipp Gurt versteht es, seine Hauptfiguren Caminada und Marugg sehr facettenreich, individuell und lebensnah zu zeichnen. Auch ohne den Vorgängerband zu kennen, wird man recht schnell mit den Charakteren vertraut. Mit den Hintergrundgeschichten und ihrer faszinierenden Persönlichkeit mit so manchen Ecken und Kanten wirken sie sehr authentisch und lebendig, so dass man sehr schnell ein Bild von ihnen vor Augen hat. Auch die übrigen Nabenfiguren sind entsprechend ihrer Rollen sehr glaubwürdig und interessant angelegt. Insbesondere die zwielichtigen Figuren konnten mich mit ihrer sehr differenzierten Ausarbeitung überzeugen. Ein absolutes Highlight ist für mich die ambivalente und tiefgründige Figur des Diakon Anselmo Veranzze, dessen tragischer Lebensweg mich sehr berührt hat. Sein religiöser Fanatismus, seine zunehmende geistige Umnachtung – das alles geht unter die Haut und ist unglaublich eindringlich geschildert.

Ich würde mich sehr freuen, wenn es bald einen neuen spannenden Fall für Landjäger Caminada und seinen Kollegen Marugg im Chur der Nachkriegszeit gäbe.


FAZIT
Ein tiefgründiger, überaus spannender Kriminalroman vor dem fesselnden zeitgeschichtlichen Hintergrund der Churer Nachkriegszeit - mit einem fesselnden Fall, stimmig eingefangenem Lokalkolorit und überzeugenden Charakteren!

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