Faszinierende Lebensgeschichte
Fast hellMEINE MEINUNG
Nach seinem opulenten Roman „Die Leben der Elena Silber“ hat der mehrfach ausgezeichnete Journalist, langjährige Spiegel-Reporter und Schriftsteller Alexander Osang mit seinem neuesten Buch ...
MEINE MEINUNG
Nach seinem opulenten Roman „Die Leben der Elena Silber“ hat der mehrfach ausgezeichnete Journalist, langjährige Spiegel-Reporter und Schriftsteller Alexander Osang mit seinem neuesten Buch „Fast hell“ einen faszinierenden und sehr persönlichen Roman vorgelegt.
Ursprünglich geplant als eine Geschichte für ein Sonderheft des Spiegels im Jahr 2019 über „ die seltsame, verkorkste ostdeutsche Seele“, in deren Mittelpunkt das Portrait von Uwe als Prototyp eines rätselhaften Ostdeutschen stehen sollte, wurde diese schließlich doch nicht veröffentlicht.
„Uwes Leben klingt wie ein Broadway-Musical.“
Den Faktencheckern des Spiegel erschien Uwes zu spektakulär klingendem Leben und seine abenteuerlichen Anekdoten doch unglaubwürdig und mit zu vielen Leerstellen behaftet – und so wurde aus Osangs New Yorker Bekanntschaft schließlich eine Romanfigur und ein faszinierender Protagonist mit so manchen Widersprüchlichkeiten und Geheimnissen.
Das gesammelte Recherchematerial hat Osang zu einer fesselnden Mischung aus Reisebericht, Memoir und autobiografischen Geschichte verwoben.
Seinen Ausgang nimmt die Geschichte mit einer gemeinsamen Schiffsreise von Uwe und seiner 80-jährigen Mutter über die Ostsee nach St. Petersburg 30 Jahre nach dem Mauerfall, begleitet werden sie von dem damals in Tel Aviv lebenden Journalisten Osang, der Uwe interviert und sich unfassbar spannende Episoden aus dessen bewegter, schillernden Biographie in mehreren alkoholgetränkten Nächten erzählen lässt. Dieser homosexuelle, charismatische und weltgewandte Mann ist ein wahrhaftiger Weltbürger aus dem Osten, lehrt in New York ostdeutsche Kulturgeschichte, kennt Gott und die Welt, spricht etliche Sprachen fließend und scheint aber überall auf der Welt schon gewesen zu sein. Gebannt lauscht man den unglaublichen Erlebnisse und überraschenden Verwicklungen, die Uwe zum Besten gibt, meint hautnah dabei zu sein und doch beschleicht einen das ungute Gefühl, diesen Menschen mit seinen tollen Geschichten nicht recht fassen zu können.
Etwas sprunghaft und keineswegs chronologisch erzählt Osang über Uwes eindrucksvolle Lebensgeschichte und präsentiert uns ganz nebenbei die eigenen Erinnerungen an seine Schulzeit und Jugend in der DDR und seine ungezügelte Zeit nach der Wende. Sehr einfühlsam stellt der Autor die Lebensgeschichten der beiden einander gegenüber, verwebt sie gekonnt miteinander und lässt ihre aufschlussreichen Einblicke in die Vergangenheit immer mehr ineinanderfließen. So erhalten wir schließlich ein höchst faszinierendes Doppelportrait der beiden ostdeutschen Freunde, in dem auch ihre Beziehung zu ihren Familien, ihr Verhältnis zum Staat und die unvermeidliche Stasi-Vergangenheit nicht ausgespart werden. Zunehmend wird die Fahrt über die Ostsee für Osang zu einer Reise in die eigene Vergangenheit und zu sich selbst. Ähnlich wie Osang hat es Uwe aus der beklemmenden Enge der DDR in die Freiheit und in die weite Welt gezogen, stets aber auch auf der Flucht vor den eigenen Dämonen, angetrieben von der Angst vor Anpassung und Stillstand. Geschickt spürt Osang der Frage nach, wie stark ein Charakter von den Erfahrungen der Geschichte geprägt wird. Zugleich beleuchtet der Autor die Hintergründe für seine permanente Getriebenheit, hinterfragt seine Erwartungen und einstmals gesetzten Ziele und deckt dabei auch seine unlösbaren inneren Widersprüche auf. Nach und nach wird deutlich, wie trügerisch die eigenen Erinnerungen an die zurückliegenden 30 Jahre und persönlichen Erlebnisse in jener Zeit sind, und sie unbewusst zu einer Art persönlich eingefärbter Erzählung eines jeden einzelnen werden. Schrittweise werden eventuelle Erinnerungslücken oder auch gewissen Schwachstellen im Leben durch individuell angepasste Erzählungen ausgefüllt und Prioritäten gesetzt, so dass wir schließlich unsere eigenen Biografien erfinden und faszinierende, aber nicht belegbare Legenden erzählen.
Äußerst gelungen ist der grandiose Epilog des Romans, der die Geschichte über Uwe nochmals in einen anderen Kontext rückt und uns die Entstehung dieser „absurden, aber wahren Novelle“ erklärt, die noch lange nachklingt und sehr zum Nachdenken anregt – über das Leben, prägende Veränderungen, Wahrheiten, unser lückenhaftes Gedächtnis und unsere ganz eigenen Erinnerungen!
FAZIT
Eine fesselnde Mischung aus Reisebericht, Memoir und autobiografischen Geschichte und ein wundervoll erzählter, melancholischer und nachdenklich stimmender Roman, der noch lange nachhallt!