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Veröffentlicht am 23.12.2020

Rückblick und Veränderung vor dem Hintergrund einer Odyssee durch die Wildnis.

Cloris
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Wir lernen in diesem lesenswerten Abenteuerroman die kinderlose 72-jährige Texanerin Cloris Waldrip kennen, die im August 1986 einen Flugzeugabsturz im Norden der USA überlebt hat und unerwartet und unbeabsichtigt ...

Wir lernen in diesem lesenswerten Abenteuerroman die kinderlose 72-jährige Texanerin Cloris Waldrip kennen, die im August 1986 einen Flugzeugabsturz im Norden der USA überlebt hat und unerwartet und unbeabsichtigt in der öden, einsamen, trost- und gnadenlosen Wildnis der Bitterroot Mountains gelandet ist.

Ihr Ehemann, mit dem Cloris diesen Privatflug über die Bitterroot Mountains in Montana unternommen hat, und der Pilot der kleinen Propellermaschine haben leider nicht überlebt.

Obwohl eine Rettung unwahrscheinlich ist, scheint es, als wäre die zähe, widerstandsfähige, beharrliche, hartnäckige und manchmal wunderliche alte Dame, die nicht viel mehr als eine kleine Bibel, einen Stiefel ihres Mannes, Hausschlüssel, Taschentücher und Karamellbonbons dabei hat, nicht schutzlos und allein.

Und das scheint nicht nur so, denn ein Mann mit Kapuze wacht im Verborgenen über sie, während sie sich tapfer durch’s Dickicht schlägt und die etwas eigentümliche und ruppige Rangerin Debra Lewis glaubt daran, das Flugzeug und die Vermisste zu finden.
Die Enddreißigerin Debra ist trotz der hoffnungs- und ausweglos erscheinenden Situation zuversichtlich und macht sich mit ein paar skurrilen Freunden und Bekannten, darunter der exzentrische, alleinerziehende Vater Steven Bloor, auf die Suche.
Wahrscheinlich stellt dieses mutige Unterfangen auch eine überraschende und willkommene Abwechslung im Leben der in einer abgelegenen Hütte alleinlebenden Rangerin Debra dar, die von ihrem Mann übel betrogen wurde und Frust und Kummer in Rotwein zu ertränken versucht.

„Cloris“ wird ungeschönt und detailliert erzählt und ist eine mitreißende, spannende, oft komische und teilweise makabre und brutale Lektüre mit tollen Landschaftsbeschreibungen und zwei außergewöhnlichen und beachtlichen Frauen, deren Charaktere vielschichtig und glaubhaft gezeichnet sind.

Es macht Spaß, den beiden sonderbaren Frauen und den anderen schrägen Figuren zu folgen.
Nur eine, die einen Flugzeugabsturz überlebt und nur eine, die an deren Überleben glaubt.
Viele Menschen suchen eine Frau. Alle sind zudem auch auf der Suche nach sich selbst.
Alle haben ihre Macken, Sorgen und Nöte.

Ich empfehle diesen berührenden, unterhaltsamen und lebensklugen Debutroman von dem Texaner Rye Curtis sehr gerne weiter!

Er war kurzweilig und hat mir großes Lesevergnügen bereitet, auch wenn so Manches überzeichnet und bizarr und der Schluss etwas unrealistisch scheint.
Mir gefiel das, denn hinter diesem Schein kann man eine beeindruckende Tiefe entdecken und befindet sich eine komplexe Welt voller Abgründe, Ambivalenzen, Beschädigungen, Nöte, Probleme, Unregelmäßigkeiten und Brüche.

Es kommt auf die Lesart an und ist wie immer eine Geschmacksache. Und meinen Geschmack hat Rye Curtis getroffen.

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Veröffentlicht am 21.12.2020

Ein Familienroman der Extraklasse!

Scherbentanz
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Wir lernen in diesem Roman die nach außen hin erfolgreiche und durchaus präsentable Unternehmerfamilie Solm kennen, die vom dominanten Vater Gebhard gelenkt und geführt wird.

Wenn man jedoch einen Blick ...

Wir lernen in diesem Roman die nach außen hin erfolgreiche und durchaus präsentable Unternehmerfamilie Solm kennen, die vom dominanten Vater Gebhard gelenkt und geführt wird.

Wenn man jedoch einen Blick hinter die ansehnlichen Kulissen wirft, ahnt man sehr schnell, dass da nicht alles Gold ist, was glänzt. Da wird geschwiegen, tabuisiert, verheimlicht und gelogen.
Viele Geheimnisse werden unter dem Deckmäntelchen der Harmonie, des Schönen und des Guten verborgen gehalten.
Beim genauen Hinschauen erkennt man eine zerrüttete Familie mit einer komplizierten Geschichte.

Der 33-jährige flippige, unkonventionelle und leider nicht besonders erfolgreiche Modedesigner Jesko, gelernter Schneider, hat das alles längst satt. Er hat sich von dem einengenden Korsett befreit und geht andere und eigene Wege.
Die unterschiedlichen Haltungen und Einstellungen von Vater und Sohn machen ein einvernehmliches Zusammenleben kaum möglich.
Jeskos Angewohnheit, Röcke zu tragen, könnte man durchaus als äußeres Zeichen seiner Rebellion interpretieren.

Tja, und nun braucht Jesko einen Knochenmarkspender, denn er ist an Leukämie erkrankt.
Seine leibliche, psychisch kranke und geistig verwirrte Mutter Käthe käme dafür in Betracht, aber diese Möglichkeit lehnt Jesko aus gutem Grund ab.
Nicht umsonst hat er bereits vor vielen Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen.

Im weiteren Verlauf lernen wir Jesko und seine etwas besondere Familie und deren Geheimnisse und jahrelang tabuisierten Geschichten und Verhältnisse bis in die Großelterngeneration hinein kennen.

Der 1963 in Göttingen geborene Chris Kraus hat mit „Scherbentanz“ einen besonderen, äußerst tiefgründigen, ernsthaften und tragischen Roman entwickelt, der aber nicht schwer und belastend, sondern gut lesbar, erfrischend, lebendig und unterhaltsam daherkommt.
Der Autor schreibt bildhaft und pointiert, einfühlsam, berührend und oft zynisch und würzt das Ganze mit einer guten Prise Humor.

Er hat mit „Scherbentanz“ eine ganz außergewöhnliche und brillante, teils bitterböse, aber auch humorvolle Familiengeschichte geschrieben, in der er die Vielschichtigkeit und Konflikthaftigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen ganz hervorragend herausgearbeitet hat.

Ich empfehle diesen flott erzählten Generationenroman mit dem abgeklärt wirkenden und zynisch-ironisch kommentierenden Ich-Erzähler Jesko, einem nachdenklichen jungen Mann, der sich zwischen sarkastischem, bösem und liebevollem Auftreten bewegt, sehr gerne weiter!

„Scherbentanz“ ist ein tragikomischer Pageturner der Extraklasse. Ich habe so ein Buch ehrlich gesagt noch nie gelesen. Chapeau!

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Veröffentlicht am 20.12.2020

Poetisch, anspruchsvoll und unterhaltsam!

Die Geschichte einer afrikanischen Farm
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Olive Schreiner war eine südafrikanische Schriftstellerin, die sich für Unterdrückte einsetzte und als eine frühe Vertreterin der Frauenbewegung und als Pazifistin gilt.
Sie wurde 1855 geboren und starb ...

Olive Schreiner war eine südafrikanische Schriftstellerin, die sich für Unterdrückte einsetzte und als eine frühe Vertreterin der Frauenbewegung und als Pazifistin gilt.
Sie wurde 1855 geboren und starb 1920.

Mit 28 Jahren erschien ihr erster, autobiographisch geprägter Roman, den sie allerdings unter dem männlichen Pseudonym Ralph Iron veröffentlichte.
Schon kurz darauf erschien auch die erste deutsche Übersetzung und dieses Jahr wurde er vom Manesse Verlag neu aufgelegt.

„Eine afrikanische Farm“ ist ein Roman, der die Themen Sexualität und Schwangerschaft vor der Ehe, Macht von Kirche und Religion gegenüber Frauen und weibliche Emanzipation, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung behandelt.

Auf der Handlungsebene geht es um die junge, unverheiratete, kluge, schöne und widerspenstige Lyndall, die zusammen mit ihrer gutmütigen, friedfertigen und bodenständigen Cousine Em, der Tochter der Farmerin Tant’ Sannie und mit Waldo, dem religions- bzw. gotteskritischen Sohn des bibeltreuen Farmverwalters Otto, auf Sannies Farm aufwächst.

Es geht um das gemeinsames Aufwachsen von Lyndall, Em und Waldo und um deren Leben vor dem Hintergrund eines kolonialen Farmlebens inmitten der Karoo-Wüste, einer endlosen afrikanischen Steppenlandschaft.

Während die unbescholtene, angepasste und treuherzige Em auf der Farm bleibt, geht die wissensdurstige Lyn auf ein Mädchenpensionat und kehrt auch der ruhige und introvertierte Waldo der Farm den Rücken.
Lyndall sträubt sich dagegen, konservative Rollenklischees zu übernehmen und will auch als sie schwanger wird nicht heiraten.
Sie schwört auf Bildung, Gleichberechtigung und Freiheit.

Eine solch‘ willensstarke, rebellische und unangepasste Heldin wie Lyndall, die nicht wenige Konventionen und Normen hinterfragt und über den Haufen wirft, wird heute bewundert.
Beim Erscheinen des Romans 1883 löste sie Erstaunen, Aufsehen und wahrscheinlich auch Unmut aus.
Noch ein zweiter Punkt zog große Aufmerksamkeit auf sich: es ist dies die Beschreibung und die subtile Kritik an den heuchlerischen Weißen, die einerseits Glauben und Frömmigkeit predigen und andererseits vor Gewalt und Unterdrückung nicht Halt machen.
Skandalträchtige Inhalte am Ende des 19. Jahrhunderts!

Ich empfehle diesen poetischen, anspruchsvollen und interessanten Roman sehr gerne weiter. Er hat mich gut unterhalten und meinen Horizont erweitert.
Genauso, wie es meiner Meinung nach sein soll.





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Veröffentlicht am 18.12.2020

Originell, ergreifend und außergewöhnlich!

Feenstaub
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Cornelia Travnicek erzählt in „Feenstaub“ die ergreifende Geschichte dreier Strassenkinder in einer Großstadt, auf einer Insel in einem Fluß, in einem namenlosen Land.
Die Namen der drei Jungen lassen ...

Cornelia Travnicek erzählt in „Feenstaub“ die ergreifende Geschichte dreier Strassenkinder in einer Großstadt, auf einer Insel in einem Fluß, in einem namenlosen Land.
Die Namen der drei Jungen lassen mich vermuten, dass es sich um Rumänien handelt.
Oder es sind Roma- oder Sinti-Kinder, die im Ausland unter schlimmsten Bedingungen aufwachsen.

Petru, Cheta und Magare sind keine wirklichen Freunde, sondern eher Leidensgenossen, die durch ähnlich schwere Schicksale miteinander verbunden sind.
Sie sind heimatlos, vermissen ihre Eltern und sind einsam und traurig. Ihre Not hat sie zu Krakadzil geführt, dessen Schatzkiste sie füllen müssen, indem sie als Taschendiebe durch die Straßen und Gassen ziehen. Sie befolgen Befehle, werden ausgebeutet und wehe, wenn sie ihren fordernden und brutalen Herrn nicht zufriedenstellen.
Ein Lichtblick in ihrem düsteren Alltag ist der Feenstaub, den sie von Krakadzil bekommen, wenn sie ihre Sache gut gemacht haben.

Eines Tages lernt der Protagonist Petru, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird und der mit der Zeit skeptisch wird, zu hinterfragen und zu rebellieren beginnt, Marja kennen. Er erfährt, was Freundschaft und Familie ist.

Und dann müssen die drei heimatlosen Taschendiebe einen Neuling ausbilden...

„Feenstaub“ hat, wie der Titel schon erwarten lässt, etwas Märchenhaft-Träumerisches und Abenteuerliches, aber auch etwas Knallhartes, Derbes, Grobes und Grausames.
Die Gnadenlosigkeit und Bedrohlichkeit dieser knallharten und grausamen Realität kommt dabei besonders deutlich zum Vorschein, weil sie so poetisch, feinfühlig, zart und bildhaft geschildert wird.
Durch diese Polarität wird das Schreckliche noch deutlicher und klarer.

Die Lektüre ist ein intensives und fesselndes Leseerlebnis.
Erst am Ende wird einem das Ausmaß und die Bedeutung des Gelesenen wirklich bewusst und erkennt man den Realitäts- und Gegenwartsbezug.
Wir lesen hier von Menschenhandel, Kindern, die zu Kleinkriminellen gemacht werden, Ausbeutung, Gewalt und Gefügig machen durch Drogen.

Die Autorin hat hier ein faszinierendes und originelles Werk geschaffen, wobei sie brisante politische und gesellschaftskritische Themen in eine märchenhafte und poetische Sprache einbettet. Aber ein Märchen ist dieser Roman bei weitem nicht.

Ich bin begeistert!

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Veröffentlicht am 14.12.2020

Bäume, ihre Bedeutung und die heilsame Kraft, die von ihnen ausgeht...

In der Fremde sprechen die Bäume arabisch
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Mit Aufklappen des Buches befinden wir uns im Jahr 2002 in einem Asylantenwohnheim in der Schweiz.
Gleich in der ersten Szene lernen wir den verblüfften und skeptischen irakischen Flüchtling Usama Al ...

Mit Aufklappen des Buches befinden wir uns im Jahr 2002 in einem Asylantenwohnheim in der Schweiz.
Gleich in der ersten Szene lernen wir den verblüfften und skeptischen irakischen Flüchtling Usama Al Shahmani kennen, der wegen der Diktatur und dem religiösen Terror aus seiner Heimatstadt Bagdad geflohen ist und mitten im Asylverfahren steckt.

Warum der Literaturwissenschaftler Usama, der sowohl Autor als auch Ich-Erzähler dieser autobiographischen Geschichte ist, so verwundert reagiert?

Weil er erstmals mit dem Zeitvertreib des Wanderns konfrontiert wird, einer Betätigung, die angeblich Freude bereitet, in der Schweiz üblich und alltäglich ist und für die es in seiner Sprache nicht einmal ein Wort gibt.

Die Sache geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wird neugierig und probiert es aus.
In einem Wald, umgeben von Bäumen, erinnert er sich an seine liebevolle Großmutter, an eine selbstbewusste Professorin, denkt er an Wurzeln und Herkunft und macht er eine überwältigende Erfahrung von Zugehörigkeit, Liebe, Heimat und Freiheit.

Im weiteren Verlauf erleben wir mit, dass es alles andere als einfach ist, auf sich allein gestellt in einem fremden fernen Land ein neues Leben aufzubauen.
Die Enge der Unterkunft, die zermürbende Arbeitssuche, die Sprache, die Formalitäten, die Sehnsucht nach der Heimat. All‘ das muss erst einmal verdaut werden.

Trost, Kraft, Zuversicht und ein Gefühl von Sicherheit findet er in der Natur... im Wald, bei Bäumen und auf Wanderungen

Usama findet eine provisorische Stelle als Hilfsarbeiter bei einem alleinstehenden älteren, freundlichen und großzügigen Herrn, dem er im Garten und bei alltäglichen Aufgaben zur Hand geht, er gibt einigen Schweizern Arabischunterricht und trägt Werbeflyer für einen unzuverlässigen Pizzeriabetreiber aus, der ihn letztlich nur ausnutzt.
Arbeitsbewilligung und Festanstellung lassen aber auf sich warten.

Mit seinem jüngeren Bruder Ali, der in Bagdad lebt, steht er in recht regelmäßigem Kontakt. Trotz des Bürgerkriegs und entgegen dem Rat seiner Familie weigert Ali sich vehement, diese Stadt voller tödlicher Gefahren zu verlassen und in den sichereren Süden zu den Eltern zu gehen. Wenn überhaupt, dann solle Usama ihm helfen, nach Beirut zu fliehen.
Aber wie und woher soll Usama die zweitausend Dollar für die Flucht aufbringen?

Eines Tages im April 2006 passiert das fast gleichermaßen Erwartete wie Unfassbare und Schreckliche:
Ali verschwindet spurlos...


Es ist interessant, spannend und kurzweilig, Usama abwechselnd in seinem neuen, oft schwierigen und manchmal freudigen Alltag in der Schweiz zu begleiten, von manch’ herzerwärmender oder auch leidvollen Erfahrung zu lesen und seinen wehmütigen wie freudvollen Erinnerungen und Gedanken zu lauschen, durch die man nicht nur sein Innenleben, sondern auch seine Familie und seine Heimat, den Irak, besser kennen lernt.

Wenn er von der imaginären Mauer zwischen sich und den Anderen spricht und darin Fenster und Lücken erkennt, freut man sich mit ihm über diese vielversprechende Entwicklung.
Es ist so gut nachvollziehbar, dass er am Fluß Aare Ruhe und bei den Bäumen Hoffnung findet.

Durch die Gespräche mit seinem eher skeptischen, kritischen und konservativen Freund Bilal, der ebenfalls als Flüchtling im Asylantenwohnheim untergekommen ist und durch die Unterhaltungen mit dem 70-jährigen Witwer, dem er ab und zu zur Hand geht und mit dem er sich anfreundet, werden viele interessante und positive wie negative Aspekte der Flucht, des Alten und des Neuen beleuchtet. Usama selbst ist dabei immer sehr offen, aufgeschlossen, neugierig und optimistisch.
Aus Briefen von seinem Bruder Ali erfährt man von den damaligen schlimmen Zuständen in Bagdad.

Besonders interessant sind auch die Gegenüberstellungen von bestimmten Gewohnheiten, die im Irak auf die eine und im Westen auf die andere Weise gelebt werden.

Dass sogar Telefongespräche üblicherweise anders verlaufen, hätte ich nicht unbedingt vermutet und über die unterschiedliche Altpapierverwertung habe ich mir vor der Lektüre noch keine Gedanken gemacht.
Aber hier, in diesem schmalen Bändchen befasst man sich damit, erfährt man davon und das finde ich bereichernd.

Es sind nicht nur die großen und häufig schon bekannten Andersartigkeiten, von denen man erfährt, sondern eben auch von diesen kleinen, feinen, alltäglichen aber eben auch bedeutungsvollen Dingen.
Wie interessant ist es beispielsweise, zu lesen, dass viele irakische Mütter die Nabelschnur ihrer neugeborenen Söhne an den Ast einer Fichte, dem Baum der Rückkehr, hängen, damit sie nie für immer Fernbleiben.

Es ist hochinteressant, etwas von dieser so fremden arabischen Kultur zu erfahren und sich offen und neugierig auf sie einzulassen und es ist erschütternd und beklemmend, von den Gräueltaten des Saddam-Regimes und den Schrecken des Bürgerkriegs im Irak zu lesen.

Usama Al Shahmani schreibt en passant über die Position der Frau und die Bedeutung von Granatapfelbäumen. Er geht ganz nebenbei auf unterschiedliche Gewohnheiten und Gepflogenheiten ein und streift Sitten und Bräuche, Legenden, Sagen, Überlieferungen und abergläubische Überzeugungen.

Ich habe beispielsweise noch nie davon gehört, dass die Frau das letzte Wort im Haus haben wird, wenn sie in der Hochzeitsnacht ihren Fuß mit etwas Druck auf den rechten Fuß ihres Bräutigams legt.

Der Autor erzählt feinfühlig, poetisch, berührend und voller Respekt und Menschlichkeit.
Trotz aller Ernsthaftigkeit der Thematik und Härte seiner Erlebnisse sind neben einer gewissen Melancholie, Sehnsucht und Wehmut seine zuversichtliche, offene, tolerante und menschenliebende Haltung und positive Lebenseinstellung durchgehend spürbar.

Usama Al Shahmani erzählt diese persönliche Geschichte flüssig, leichtfüßig und lebendig und würzt sie ab und zu mit amüsanten Anekdoten und häufig mit wunderschönen Formulierungen, Bildern, Vergleichen und Metaphern.

Er vermittelt die jeweilige Atmosphäre und die verschiedenen Stimmungen sehr deutlich, so dass man das Hoffnungsvolle und Optimistische, das Nachdenkliche, Wehmütige, Melancholische, Beklemmende oder Ernüchternde hautnah miterlebt.

Ich kann nicht umhin, zwei wunderschöne bildhafte Formulierungen zu zitieren:
„Manche Tage sind fad und langweilig. Sie ähneln einem Essen, das in Eile zubereitet wird, und egal, wie viel Gewürze man hinzu gibt, es ist nicht mehr zu retten.“ (S. 157)

„Aber nicht selten war meine Mutter orientierungslos wie jemand, der in einen finsteren Raum kommt und die ganze Nacht damit verbringt, den Lichtschalter zu suchen, den es gar nicht gibt.“ (S. 179)

Jetzt „muss“ ich Euch noch eine herzerwärmende Anekdote zum Schmunzeln verraten:
Die Großmutter des Erzählers setzte sich Ende der Siebzigerjahre mit einem Kopftuch vor den laufenden nagelneuen Fernseher. Als seine Tante die Großmutter fragte, wieso sie das tue, meinte diese, vor fremden Männern müsse sie als Muslimin ein Kopftuch tragen. (S. 174)

Und zu guter Letzt noch ein wunderschönes arabisches Sprichwort, das der Erzähler auf Seite 183 zitiert:
„Wer Honig gewinnen will, muss mit Bienenstichen rechnen.“

In diesem Sinne 😉:
Wer ein intensives und außergewöhnliches Lesevergnügen mit einem berührenden, beruhigenden und versöhnlichen Ende erleben möchte, der muss „In der Fremde sprechen die Bäume Arabisch“ von Usama Al Shahmani lesen.

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