Zwei Frauen und zwei Lebensträume
Miss Bensons ReiseManchmal kann eine Krise einen Befreiungsschlag auslösen. So jedenfalls in Rachel Joyce´s Frauenroma "Miss Bensons Reise". Denn Margery Benson, die Protagonistin dieses liebenswerten Romans über die Freundschaft ...
Manchmal kann eine Krise einen Befreiungsschlag auslösen. So jedenfalls in Rachel Joyce´s Frauenroma "Miss Bensons Reise". Denn Margery Benson, die Protagonistin dieses liebenswerten Romans über die Freundschaft zweier sehr ungleicher Frauen, ist in ihrem Lebenregelrecht eingefroren wie ein Käfer oder Schmetterling hinter Glas: Die Endvierzigerin unterrichtet seit 20 Jahren Hauswirtschaft an einer Mädchenschule. Es ist das Jahr 1950 und eine unverheiratete Frau in diesem Alter wird als "alte Jungfer" eher verspottet oder bedauert - von selbstbewusstem Single-Leben war damals noch nicht die Rede. Als Benson eine wenig schmeichelhafte Karikatur von sich findet, die im Klassenraum herumgereicht wird, ist sie so verstört, dass sie nicht nur aprupt aus der Schule flieht, sondern auch noch das Steifelpaar einer Kollegin mitgehen lässt. Den Job kann sie nun vergessen, nicht, dass er sie jemals ausgefüllt hat.
Ausgerechnet an diesem Tiefpunkt erinnert sich Margery Benson an ihren Lebenstraum - den goldenen Käfer von Neukaledonien zu finden, den ihr Vater ihr in einem Buch gezeigt hat - vor seinem Selbstmord, der das kleine Mädchen und seine Mutter schwer traumatisierte. Margery Benson hatte eine einsame Kindheit, erfuhr weder Freundschaft und Liebe und wuchs in einem Wertesystem der britischen oberen Mittelklasse auf, in dem Emotion mit Schwäche gleichgesetzt wurden.
Doch zu dem Zeitpunkt, als sie nichts mehr zu verlieren hat, erinnert sich Margery an den goldenen Käfer, an viele Jahre, die sie im Britischen Museum in der Abteilung für Entomologie verbracht hatte. Nun will sie sich endlich aufmachen ans andere Ende der Welt - weder tropenerfahren noch outdoortauglich, eine übergewichtige Frau mittleren Alters, die bislang nicht einmal von ihren Schülerinnen ernst genommen worden war. Da es auf einer Forschungsexpedition einiges zu schleppen gibt, will sie einen Assistenten oder eine Assistentin anheuern, doch als die auserwählte Kandidatin abspringt, muss sie kurzerhand eine bereits aussortierte Bewerberin anheuern, die es wegen ihrer abenteuerlichen Rechtschreibung nicht einmal zum Bewerbungsgespräch geschafft hat - tatsächlich findet die erste Begegnung der beiden Frauen unmittelbar vor der Abreise auf dem Bahnsteig statt.
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein: Die hausbackene, wenig lebenserfahrene Margery Benson und die kleine, aber um so auffälligere Enid Pretty, ein Marilyn Monroe-Verschnitt, die sich zwar als Männermagnet in unaufhörlicher Plapperlaune entpuppt, von Käfern und Forschungsexpeditionen aber keinerlei Ahnung hat. Doch auch sie hat, wie der Leser früher als Margery erfahren soll, gute Gründe, alle Brücken hinter sich abzubrechen.
Es dauert, bis die beiden Frauen miteinander warm werden, doch nach Seekrankheit und Visaproblemen, buchstäblich am Ende der Welt im Dschungel, wächst zwischen den beiden Frauen eine Freundschaft. So sehr die jeweils andere nerven kann - sie brauchen einander, geben sich gegenseitig Stärke und Mut, überwinden gemeinsam Widerstände und Gefahren. Gerade die Szenen der Reise im Dschungel, immer auf der Suche nach dem goldenen Käfer und einmal buchstäblich im Auge des Zyklons, sind voller Naturschilderungen, die Farben, Gerüche und Geräusche des Dschungels vor dem inneren Auge entstehen lassen.
Mitunter erinnert Miss Bensons Reise an Wohlfühl-Lebenshilfe-Romane, in denen es darum geht, dass jeder sich neu erfinden kann und schon alles gut wird, über den Wert von Freundschaft dass man niemanden nach dem Äußeren oder ersten Eindruck beurteilen sollte. Zugleich ist Miss Bensons Reise ein Abenteuerroman mit mitunter fantastisch anmutenden Elementen - dass jemand ohne Pass und Visum eine transatlantische Reise antreten und erst in Australien, dann in einer französischen Kolonie einreisen kann, entspricht jedenfalls eher Wunschdenken als Wirklichkeit. Und auch dramatische Wendungen sind inbegriffen. Das Ende dieser Reise ist unerwartet und macht nicht wirklich froh. Dennoch kommt auf den fast 500 Seiten keine Langeweile auf - Käferkunde inbegriffen.