Absolut nicht für heutige Kinder - eher historisch interessant
„Bubi und Mädi sind Zwillinge. Wißt ihr, was das ist?“ So beginnt das erste Kapitel des ersten Bandes von insgesamt fünf Bänden.
Ausnahmsweise nehme ich hier einen Teil meines Fazits vorweg:
Dem 1923 ...
„Bubi und Mädi sind Zwillinge. Wißt ihr, was das ist?“ So beginnt das erste Kapitel des ersten Bandes von insgesamt fünf Bänden.
Ausnahmsweise nehme ich hier einen Teil meines Fazits vorweg:
Dem 1923 veröffentlichten Buch merkt man das Alter an. Die Rollenbilder wirken doch arg traditionell – wenn auch nicht gleich zu Beginn des Buches. Zur damaligen Zeit dürften sich nicht wirklich sehr viele jüngere Kinder in dem Lebensstil der Protagonisten wiedergefunden haben – aber vermutlich doch jene, deren Eltern sich den Erwerb von Büchern leisten konnten: Das Milieu ist das gehobene Bildungsbürgertum, es gibt ein Kindermädchen, eine Köchin.
Bubi und Mädi sind Zwillinge und einander innig zugetan. Die Kleinen wachsen wohlbehütet auf im Berlin zwischen den beiden Weltkriegen, wo Vater Paul Winter als Professor an der Sternwarte beschäftigt ist. Die Namen für die Kleinen sind der Herkunft der Mutter aus Süddeutschland geschuldet als „Allgemeinbegriff“ für einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen; eigentlich heißen die beiden Herbert und Suse und werden am ersten November fünf Jahre alt werden.
Die Eltern der Mutter „Fränzl“ leben in Freiburg. Auch Opapa ist Professor, die „große Omama“ wird im Verlauf der Geschichte mit allen den fünfzigsten Geburtstag feiern. Des Vaters Mutter ist wohl Witwe, die „kleine Omama“ wohnt in Berlin mit Hund Prinz. Beide Berliner Haushalte haben Telefone! Zum Haushalt der Familie gehören noch Kinderfrau „Frau Annchen“, die mit beiden Kindern in einem Raum schläft, und Köchin Fräulein Minna (für die Kleinen „Minnachen“). Das Buch begleitet die Kleinkinder durch Sommertage voller Spiele und häufigem Unfug, sogar eine große Reise mit einigen persönlichen Reifungserlebnissen werden sie unternehmen.
Uff. Vorweg, bei uns wurden fast alle Bücher meiner Mutter und ihrer Mutter aufgehoben, und fielen so zwingend irgendwann auch in die Hände meiner Büchersucht. Dazu gehörte auch die „Nesthäkchen“-Reihe von Else Ury, die auch Autorin dieser unbekannteren Reihe war – wenn ich mich richtig erinnere, bekam ich die Zwillinge-Bände selbst, als sie vermutlich in den späten Siebzigern/frühen Achtzigern als Sonderausgabe unserer lokalen Zeitung im Angebot waren. Die meisten Ury-Romane gehören wie beispielsweise auch „Der Trotzkopf“ von Emmy von Rhoden oder die „Pucki“-Reihe von Magda Trott zu den „Backfisch-Romanen“ mit einem sehr traditionellen Mädchen- und Familienbild und begleiten häufig die erwünschte Reifung von durchaus eigenständigen, ambitionierten, auch trotzigen jungen Mädchen in die gesellschaftlichen Normen der Zeit, meist in Ehe mündend unter Aufgabe eigener Ambitionen.
Insofern: ich würde dieses Buch keinem heutigen Kind schenken; es ist eher historisch interessant. Dazu später.
Positiv fällt zu Beginn gar kein Klischee auf: Bubi und Mädi tragen identische Spielkittel, haben die gleichen Kurzhaarfrisuren und spielen gemeinsam. Bubi wünscht sich gar das Schleifchen, das Mädi gelegentlich ins Haar gebunden wird, und spielt gerne mit ihrem Puppenwagen – wenn auch in wilder Fahrt. Mädi hingegen mag Bubis Schaukelpferd „Braunchen“ lieber als ihre Puppen oder deren Wagen, und beide Kinder sind recht wehrhaft gegenüber anderen in der Sandkiste.
Was mich eher nervt, ist die extrem Kleinkind-hafte Sprache: „Mutti sagt, wir sind gansch gleich alt, darum sind wir Schwillinge.“ (Mädi) oder oder „Ich war son groß, wie Mädi noch so klein war, darum muß ich doch viel mehr alt sein.“ (Bubi) – diese wird bis zum Ende durchgehalten und dürfte selbst-lesenden Kinder schlicht nicht mehr genügen. Dazu werden auch die Spielzeuge oder Tiere als Handelnde gesehen, so dass sich die Puppen häufig über die Vernachlässigung durch Mädi beschweren oder Bubi eine Traumreise durch das Fernrohr des Vaters unternimmt. Dazu passt auch die direkte Ansprache durch die Autorin wie im ersten Satz – allenthalben eher für Kinder im Vorschulalter zum Vorlesen. Früher.
Wenn man das genannte ignoriert und weiterliest, kommt man aber über weitere Stolpersteine: ich habe aufgehört zu zählen, wie oft der 4-jährige Bubi nicht weint, weil ein Mann das halt nicht tut. Und dass Mädi die schüchternere von beiden ist, passt sicher auch ins Bild. Wer Kleinkinder kennt, wird sich auch wundern, dass der gleichaltrige Junge der sprachgewandtere von beiden ist; aber natürlich kann das in Einzelfällen sein. Ein Besserwisser, der seine Schwester oft belehrt, und dafür nie getadelt wird, ist er allemal. Die Rute steckt hinter dem Spiegel – und wird auch benutzt, für beide; sicherlich entsprechend der damaligen Gepflogenheiten – und durchaus von der Autorin als erzieherische Warnung an die kleinen Leser formuliert (z.B. „Aber Bubi bekommt vom Vater mit einem anderen Stöckchen Hiebe. Der läuft in seinem Leben nicht wieder davon!“). Insgesamt scheint gerade auch der Vater eher liebevoll-amüsiert auf den Unfug der Kleinen zu reagieren.
Womit ich mich dann komplett schwertue, sind die Begebenheiten auf der Reise in den Schwarzwald. Bei einem einzigen Ausflug im Schwarzwald kommt es zur Begegnung mit den Geschistern „Hansl“ und „Gretl“ (aber ja doch). Gretls Vorbild im fürsorglichen Umgang mit ihrer Puppe sowie die Verachtung von Hansl dafür, dass Bubi doch tatsächlich mit Puppen spielt, sorgen dafür, dass die Kinder bei ihrer Rückkehr brav rollenkonform werden. Und heute regen sich manche Menschen über Bücher auf mit Trans-Kindern oder Kindern mit zwei Vätern…Immerhin, der Stil ist durchgängig angenehm mit viel Humor und Witz.
Else Ury wurde 1877 in eine wohlhabende Familie geboren. In der wilhelmischen Zeit und in der Weimarer Republik gelang es ihr, mit ihren Büchern eine hohe Bekanntheit und einen eigenen Wohlstand zu erwerben, zu einer Zeit, in der es in ihrer Heimat Berlin noch nicht einmal ein einziges Mädchengymnasium gab. Ungeachtet der zu dieser Zeit für eine Frau ungewöhnlichen Verfolgung eigener Talente und Interessen und des Einkommens aus eigener Kraft blieb in ihrem Werk das Frauenbild erhalten, dessen höchste Erfüllung die Ehe und Mutterschaft sind. Der Band „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ (Erster Weltkrieg) war gar wegen des Patriotismus und der Verharmlosung des Krieges nach 1945 auf dem Index der Alliierten. Insgesamt propagierte Urys Werk eine Haltung, die auch nach der Machtergreifung Hitlers viele Anhänger in Deutschland fand. Else Ury wurde am 13. Januar 1943 in Auschwitz ermordet. Sie war Jüdin.
Meine Sternebewertung ist als "neutral" zu verstehen. Ein Buch seiner Zeit, damals sicher eher teils fortschrittlich (der liebevolle Vater), aber definitiv kein heutiges Kinderbuch.