„…immer ist im Zuhören die Frage enthalten: Was soll man verstehen, was will man verstehen, und was wird man nie verstehen, will es aber bestätigt bekommen.“
Gehen, ging, gegangen„…immer ist im Zuhören die Frage enthalten: Was soll man verstehen, was will man verstehen, und was wird man nie verstehen, will es aber bestätigt bekommen.“
Ich wollte das Buch unbedingt toll finden ...
„…immer ist im Zuhören die Frage enthalten: Was soll man verstehen, was will man verstehen, und was wird man nie verstehen, will es aber bestätigt bekommen.“
Ich wollte das Buch unbedingt toll finden angesichts des wichtigen aktuellen Themas – doch leider gelang mir das immer nur im steten Wechsel mit ziemlichem Genervtsein. Worum es geht? Rentner Richard redet mit Flüchtlingen, so der Grundplot dieses Buches. Man könnte noch ergänzen: und verlässt seine Komfortzone oder und erweitert seinen Horizont, aber das liegt vielleicht schon im Auge des Betrachters bzw. Lesers.
Ohne Leserunde hätte ich wohl nicht durchgehalten, ich war zwischen Gegensätzen auf der Skala zerrissen. Da ist zum einen die Sprache, oft wunderbar treffend: S. 174 „Sich vom Wünschen zu verabschieden, ist am Alter wahrscheinlich das, was man am schwersten lernt.“ oder „…immer ist im Zuhören die Frage enthalten: Was soll man verstehen, was will man verstehen, und was wird man nie verstehen, will es aber bestätigt bekommen.“ S. 95 (ich hoffe dabei nicht, dass DAS mein Problem ist?!). Auf der anderen Seite sind da verschachtelte Sätze und das Stilmittel der häufigen Wiederholungen, die teils schlicht nerven, hier zu „Freude“: „Die Freude an dem, was am richtigen Platz ist, was nicht verlorengeht, was auf die richtige Weise gehandhabt wird und nicht verschwendet, die Freude an dem, was gelingt, ohne ein anderes am Gelingen zu hindern, ist, so sieht er das, in Wahrheit die Freude an einer Ordnung, die nicht von ihm errichtet, sondern von ihm nur gefunden werden muss, die außer ihm liegt, und ihn gerade deshalb verbindet mit dem, was wächst, fliegt oder gleitet, ihn dafür zwar von manchen Menschen entfernt, aber das ist ihm gleich.“ S. 25
Und dann ist da, viel wichtiger, das Thema, zum einen Flüchtlinge, zum anderen aber wohl auch das Altern, die Auseinandersetzung mit der DDR/deren Ende und, etwas diffuser vielleicht, so etwas wie Ziele, Lebensgrundsätze. Die Leserunde rettete mir hier ein wenig den Zusammenhang, alles sind Wendepunkte, dennoch: Mir gerät das Ganze zu überladen – schon sprachlich, dann in der Ausweitung des Haupt-Themas um weitere, zuletzt beim eigentlichen Thema selbst. Ja, natürlich ist das Thema Flucht manifest, relevant und drängend, wobei Erpenbeck ihr Buch bereits VOR der Kulmination 2015 geschrieben hatte. Aber VOR ALLEM durch die Ereignisse seit 2015 finde ich ihr Buch schlicht zu wenig, zu theoretisch: sie erzählt brilliant-einfühlsam von Kriegsflüchtlingen – aber nichts an „Widerhaken“ sonst in der Geschichte: keine Einwände bei Richards Freunden (von einem idiotischen Spruch abgesehen), nur lauter sympathische Flüchtlinge (von einem eher angedeuteten Ereignis abgesehen), selbst die Behörden sind vielleicht teils hilflos, aber ebenfalls irgendwie farblos nett (abgesehen von Überforderungen, Bürokratie). Realistisch?
Die Erzählung selbst stellt die nacherzählten Flucht- und Heimatgeschichten dar, den Kampf im Behördendschungel in Deutschland. Das hat Stärken, so wenn Richard den Bezug sieht zwischen griechischer Mythologie und der Historie Libyens, oder bei der grandiosen Gegenüberstellung von Richards Einkaufszettel mit einer Art Wunschzettel der Flüchtlinge je nach Herkunftsland. Und dann liefert Autorin Erpenbeck Fakten, die man eher in einem Sachbuch erwarten würde, einer der Presserezensenten spricht hier von einem „Tatsachenroman“ (FAZ 27.08.2015). Für mich ist der Bruch zum Rest zu stark.
Woran soll ich mich da als Leser reiben? Es wird reichlich viel erklärt, fast vorgegeben durch die Autorin – da bleibt wenig, dass ich mir selbst zusammen-lesen kann (Gegenbeispiel eines aktuellen Jugendbuchs, "The Hate U Give", ein schwarzer Teenager wird von einem Polizisten in den USA erschossen: hier wird der Leser durch verschiedene Phasen geschoben von rein der Sicht seiner Jugendfreundin als unbeteiligter Zeugin, über seine Drogendeals – war er selbst mitschuldig? – bis hin dazu, was denn das bitte rechtfertigen dürfe).
Wie auch hier die Flüchtlinge, fühlte sich wohl schon jeder genervt von deutschen Verwaltungen, jedoch fehlen mir im Buch Ideen für Alternativen zu den bemängelten Behördenprozessen. Es gibt „nur“ Opfer von Kriegshandlungen als Flüchtlinge, keine Frauen, keine alleinreisenden Jugendlichen, keine Opfer sexueller Gewalt – niemanden, der kriminell ist oder radikal auf beiden Seiten. Natürlich werden gerade die letzteren beiden gerne instrumentalisiert, doch wiederum ist mir insgesamt die Darstellung da zu wenig. Und: ALLES wird nicht in einem Buch erfassbar sein, aber doch vielleicht "mehr".
Für mich erfasst "Exit West" das Thema besser, demnächst auch in deutscher Übersetzung
https://www.lesejury.de/mohsin-hamid/buecher/exit-west/9783832198688?tab=reviews&s=1&o=0#review_51217