1938 London. Rowan und ihre jüngere Schwester Thea sind eng miteinander verbunden und auf einmal Vollwaisen. Ihre Mutter haben sie durch einen tragischen Bootsunfall verloren und nun ist auch ihr Vater gestorben. Rowan ist seit einigen Jahren mit Patrick verheiratet, doch die Liebe hat sich in Lethargie gewandelt, was Rowan unzufrieden und resignierend werden lässt. Bis sie auf Simon trifft… Währenddessen hofft Thea auf ein Studium, wenn sie die Schule beendet hat. Doch nachdem der Vater ihnen nichts hinterlassen hat, fehlen ihr die Mittel dafür. Während der Beerdigung bemerkt Thea eine unbekannte Frau, die sich als Freundin ihres Vaters ausgibt und dann plötzlich wie vom Erdboden verschwunden ist. Thea fragt sich, in welcher Beziehung diese Frau zu ihrem Vater stand. Aber auch ein altes Familiengeheimnis um den Bootsunfall, bei dem ihre Mutter starb, lässt Thea nicht los. Sie möchte unbedingt Antworten von Rowan…
Judith Lennox hat mit „Meine ferne Schwester“ einen sehr unterhaltsamen und gefühlvollen historischen Roman vorgelegt, der nicht nur mit unterschiedlichen Lebensgeschichten angefüllt ist, sondern auch so manches Geheimnis in sich birgt. Mit flüssigem, atmosphärisch-dichtem und gefühlvollem Erzählstil lädt die Autorin den Leser ein, sich ins vergangene Jahrhundert zu begeben, um dort über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt die Schwestern Rowan, Thea und die geheimnisvolle Fremde näher kennenzulernen und ihren Werdegang zu beobachten. Schon die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg offenbart, wie unterschiedlich die beiden Schwestern gestrickt sind, die sich recht nahe stehen, jedoch in völlig verschiedenen Welten unterwegs zu sein scheinen. Während Rowan durch Ehefesseln sich der Begegnung der wahren Liebe beraubt sieht und von einem Abenteuer ins nächste treibt, ist Thea schon in ihrem jungen Alter viel ernsthafter, disziplinierter und zielgerichteter, was ihre Zukunft angeht. Der Kriegsausbruch macht ihre Anstrengungen zwar zunichte, doch lässt sie ihre Träume nicht aus den Augen. Die mysteriöse Unbekannte stellt für den Leser eine besondere Überraschung dar, die so erst einmal nicht vorhersehbar ist. Der historische Hintergrund wurde von der Autorin perfekt mit ihrer Handlung verknüpft und spiegelt den damaligen gesellschaftlichen und politischen Zeitgeist authentisch wieder. Die gesamte Geschichte bewegt sich zwar in ruhigem Fahrwasser, doch die unterschiedlichen Persönlichkeiten und deren Entwicklung wiegen das gut auf, da es der Autorin gelingt, dem Leser die Emotionen ihrer Charaktere am Puls der Zeit sehr greifbar zu machen.
Die Charaktere sind gut ausgestaltet, ihre menschlichen Eigenheiten lassen sie lebendig und glaubwürdig wirken. Der Leser heftet sich an ihre Fersen und teilt mit ihnen ein ereignisreiches Jahrzehnt, das jede von ihnen prägt und ihre Wesenszüge formt. Rowan wirkt als Mitzwanzigerin schon wie eine illusionslose Frau, die sich selbst bemitleidet und sich als Ablenkung eine Affäre nach der anderen gönnt. Sie steckt in einem Korsett, das sie aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Normen nicht einfach so abstreifen kann. Der Schalter in ihrem Kopf legt sich mit Kriegsausbruch um, erst dann erkennt sie, dass sie nicht ganz so nutzlos ist und einiges bewirken kann. Thea ist ihrer Schwester weit voraus, obwohl sie jünger ist. Sie ist fokussiert, weiß genau, was sie will und arbeitet hart für ihre Ziele, wenn diese sich auch dann in Rauch auflösen. Doch sie verliert nicht den Mut und krempelt die Ärmel hoch, um nach vorne zu sehen. Sie wächst einem sofort ans Herz, weil sie pragmatisch und in sich gefestigt wirkt.
„Meine ferne Schwester“ ist ein eher leiser Roman mit großer Wirkung. Die Autorin versteht sich auf Charakterstudien und vermittelt diese eingebettet in historischem Umfeld sehr authentisch und für den Leser durchweg miterlebbar.