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Veröffentlicht am 23.01.2021

Ebenso spannend wie bewegend

Der Bruch
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Der Polar Verlag eröffnet sein Programm 2021 gleich mit einem Knaller, Doug Johnstones „Der Bruch“ (in gewohnter Qualität übersetzt von Jürgen Bürger), einem Autor, der regelmäßig auf der Shortlist für ...

Der Polar Verlag eröffnet sein Programm 2021 gleich mit einem Knaller, Doug Johnstones „Der Bruch“ (in gewohnter Qualität übersetzt von Jürgen Bürger), einem Autor, der regelmäßig auf der Shortlist für den McIlvanney Prize for Scottish Crime Book of the Year vertreten ist, mit diesem Titel 2019. Zurecht, wie man nach dem Lesen dieses Kriminalromans feststellen wird, der gleichzeitig eine beeindruckende und sehr bedrückende Milieustudie ist. Aber vor allem ist es eine Geschichte von Familienbeziehungen und dem Überleben unter schwierigen Verhältnissen.

Tyler lebt mit seiner Familie in Greendyke, sozialer Brennpunkt vor den Toren Edinburghs. Zwei Hochhäuser, umgeben von Brachland voller Schutt und Gerümpel. Ein Drecksloch. Das Neubaugebiet Greenacres in Sichtweite, Wohnprojekt für die Mittelklasse. Nichts für Tylers Familie. Tyler wirkt eigentümlich fehl am Platz, er ist derjenige, dem die Sympathien des Lesers/der Leserin gelten. Die Mutter ständig zugedröhnt von Drogen und Alkohol, unfähig, den Alltag zu bewältigen. Das erledigt Tyler, der sich außerdem voller Hingabe um seine kleine Schwester Bean kümmert. Für sie hat er eine Vision, möchte, dass sie einmal ein besseres Leben hat.

Seine beiden Halbgeschwister, Barry und Kelly, sind Kleinkriminelle, immer auf der Suche nach der guten Gelegenheit für einen Bruch. Tyler muss sie bei ihren Aktivitäten unterstützen, das stellt er nicht infrage. Er ist klein und schmal für sein Alter, hat die perfekte Größe, um sich durch schmale Öffnungen hindurch zu schlängeln. Üblicherweise klappt das, doch dann wählen sie das falsche Objekt aus. Das Haus gehört einem mächtigen Boss von Edinburghs Unterwelt, dessen Frau ihnen in die Quere kommt. Barry geht mit dem Messer auf sie los, verletzt sie schwer und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, aus der es kein Entkommen gibt.

Tyler ist einer dieser Jugendlichen, die durchs Raster fallen, in schwierige Verhältnisse hineingeboren werden, denen sie nicht entkommen können. Die zwar eine Ahnung davon haben, was sein könnte, denen aber letztendlich nicht nur die Kraft sondern auch die Unterstützung dafür fehlt, einen Neuanfang zu wagen.

Johnstone zeigt uns das Leben jenseits der Royal Mile und Edinburgh Castle. Zwingt uns dazu hinzuschauen. Stellenweise fast unerträglich beschönigt er nichts, sondern konfrontiert uns mit dessen knallharter Realität.

Bemerkenswert ist aber vor allem dieses Maß an Empathie, mit der er Tyler und dessen Lebensumstände, dessen Schicksal beschreibt. Sein Dilemma, nach dem missglückten Raubüberfall zu entscheiden, was richtig oder falsch ist. Ob die Loyalität gegenüber der Familie wichtiger ist als das Benennen des Schuldigen, um so größeres Unheil von seiner Familie abzuwenden.

Eine Story, die ebenso spannend wie bewegend ist, eindringlich und voller Emotionen geschrieben. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 18.01.2021

Historisch, politisch und spannend - für mich mit Abstand das bisher beste Buch der Shardlake-Reihe.

Die Gräber der Verdammten
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C. J. Sansoms Reihe um Matthew Shardlake, den buckligen Anwalt, der seinen Geschäften im England der Tudorzeit nachgeht, verfolge ich seit Beginn mit Interesse und zunehmender Begeisterung, zeichnen sich ...

C. J. Sansoms Reihe um Matthew Shardlake, den buckligen Anwalt, der seinen Geschäften im England der Tudorzeit nachgeht, verfolge ich seit Beginn mit Interesse und zunehmender Begeisterung, zeichnen sich diese Kriminalromane doch durch historische Akkuratesse und lebendige, stimmungsvolle Beschreibungen aus, die in spannende Handlungen eingebettet sind.

Im nunmehr siebten Band „Die Gräber der Verdammten“ befinden wir uns im Jahr 1549. Heinrich VIII. ist tot, sein Nachfolger, der elfjähriger Edward VI. wird in Regierungsgeschäften von dem ehrgeizigen Herzog von Somerset vertreten. Das Land versinkt im Chaos. Engländer kämpfen seit Jahren gegen Schotten („Rough Wooing“, 1543 – 1551), Protestanten gegen Katholiken, die Wirtschaft bricht zusammen. Das Geld verliert täglich an Wert, die Menschen hungern. Wer Schafe hat, kann sich freuen, denn der Export von Wolle boomt. Profiteure sind die meist adligen Großgrundbesitzer, die ihre Weideflächen dadurch vergrößern, indem sie sich Gemeindeland aneignen und einzäunen, Land, das üblicherweise den Kleinpächtern zur Verfügung stehen sollte.

In Norfolk, der führenden Region für die Schafzucht und Wollverarbeitung, macht sich Unmut breit, die Bauern rebellieren und reißen die Einfriedungen nieder, auch die Zäune auf dem Land des Freibauern Robert Kett. Aber anders als erwartet schlägt er sich auf ihre Seite und wird zu ihrem Anführer. Die anfänglichen Erfolge sind trügerisch, denn die königliche Armee schlägt mit Macht zurück. Kett wird gefangen genommen, wegen Hochverrat angeklagt und zum Tod durch Erhängen verurteilt und schließlich am 7.12.1549 in Norwich hingerichtet.

Diese Ereignisse bilden den historischen Hintergrund für den Todesfall, den Shardlake, mittlerweile in Diensten der jungen Elizabeth (später Königin Elizabeth I.), genauer unter die Lupe nehmen soll. Ein entfernter Verwandter wird des Mordes an seiner Ehefrau beschuldigt und steht in Norwich vor Gericht. Gemeinsam mit seinem Helfer Nicholas macht sich Shardlake auf den Weg gen Norden. Dort treffen sie überraschenderweise auf Jack Barak, den ehemaligen Assistenten des Anwalts, der den beiden bei ihren Nachforschungen behilflich ist, die sie nicht nur in die adelige Gesellschaft sondern auch mitten hinein in das Lager von Ketts Rebellen führen. Barak schließt sich ihnen an, Nicholas wendet sich gegen sie, und zwischen beiden Lagern steht Shardlake, der unfreiwillig zum Verbündeten von Robert Kett wird.

983 Seiten, gespickt mit historischen Fakten, eingearbeitet in einen hochspannenden Kriminalfall. Zu keinem Zeitpunkt langatmig, im Gegenteil. Mit anhaltendem Interesse verfolgt der/die Leser/in den Fortgang der Handlung, hoffend, dass der Protagonist den Geschehnissen, die sich komplett seinem Einflussbereich entziehen, mit heiler Haut entkommen und den Mordfall aufklären kann. Historisch, politisch und spannend - für mich mit Abstand das bisher beste Buch der Shardlake-Reihe. Lesen. Unbedingt!

Veröffentlicht am 13.01.2021

Ein alltagstaugliches Jahreszeiten-Kochbuch

Greenfeast: Herbst / Winter
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Mein „Erstkontakt“ mit Nigel Slater liegt schon viele Jahre zurück. Bei einem England-Besuch stolperte ich in der Wochenendausgabe des „Observer“ (mittlerweile dem „Guardian“ angeschlossen) über seine ...

Mein „Erstkontakt“ mit Nigel Slater liegt schon viele Jahre zurück. Bei einem England-Besuch stolperte ich in der Wochenendausgabe des „Observer“ (mittlerweile dem „Guardian“ angeschlossen) über seine Kolumne, in der er nicht nur Rezepte veröffentlichte sondern auch noch seine emotionale Verbundenheit mit diesen Gerichten beschrieb. Seine Artikel lese ich noch immer, freue mich aber auch darüber, dass es die Rezepte in deutscher Übersetzung seit einigen Jahren gesammelt in seinen Kochbüchern gibt. Dabei sieht man, dass diese Rezeptsammlungen auch ein Stück weit die Veränderungen widerspiegeln, die das Koch- und Essverhalten im Lauf der Jahre durchlaufen hat.

Für all diejenigen, die wie Nigel Slater weniger Fleisch auf dem Teller möchten, bieten die beiden Greenfeast-Bücher jede Menge Anregungen. Während in dem ersten Band „Frühjahr/Sommer“ die Erzeugnisse des Gartens eher „leicht“ verarbeitet werden, stehen in dem vorliegenden “Greenfeast Herbst/Winter“ herzhafte und wärmende Suppen, Kuchen oder Eintöpfe mit kohlenhydratreichen Zutaten auf dem Speiseplan, die oft unter Zuhilfenahme des Backofens zubereitet werden und allesamt vegetarisch sind.

Die Einteilung startet mit dem Grundrezepte für das klassische englische Porridge und einer dunklen, vielseitig einsetzbaren Gemüsebrühe. Danach folgen die Kapitel „Aus der Pfanne“, „Auf Toast“, „Im Ofen“, „Auf dem Teller“, „Mit einer Kruste“, „Mit dem Schöpflöffel“, „Auf dem Herd“ und „Zum Nachtisch“, meist für zwei Esser, einige aber auch für 4 Personen ausgelegt. Eine Unterteilung, die sich bei der Suche nach einem Rezept eher zur Inspiration als zu einem konkreten Anlass eignet.

Die Zutaten sind weitestgehend in jedem Supermarkt erhältlich, selbst Tahin oder die frischen Kräuter gibt es mittlerweile beim Discounter, und außerdem gibt es sehr oft Hinweise zu Ersatzmöglichkeiten. Und auch wenn manche Kombinationen auf den ersten Blick exotisch erscheinen mögen, schlussendlich überzeugt deren Zusammenspiel auf der Zunge. Die Zubereitung der Gerichte ist detailliert beschrieben, unkompliziert und deshalb auch von unerfahrenen Hobbyköchen zu leisten. Nicht zu vergessen, der zeitliche Aufwand ist überschaubar, stundenlange Vorbereitungen sind nicht erforderlich. Und damit man sich eine Vorstellung davon machen kann, was einem erwartet, gibt es zu jedem Rezept ein ehrliches Foto ohne Effekthascherei.

Ein alltagstaugliches Jahreszeiten-Kochbuch mit durchgängig vegetarischen Rezepten, die die Geschmacksvielfalt und den Genuss in den Mittelpunkt stellen.

Veröffentlicht am 06.01.2021

Ganz großes Kino, Mrs Rowling

Böses Blut
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Wir schreiben das Jahr 2014. Vierzig Jahre ist es her, seit die Mutter, Ehefrau und Ärztin Margot Bamborough spurlos verschwunden ist. Es gibt keinen Hinweis auf ihren Verbleib, und auch ihre Leiche ist ...

Wir schreiben das Jahr 2014. Vierzig Jahre ist es her, seit die Mutter, Ehefrau und Ärztin Margot Bamborough spurlos verschwunden ist. Es gibt keinen Hinweis auf ihren Verbleib, und auch ihre Leiche ist seither nicht aufgetaucht. Eine Ungewissheit, die quälend für die Hinterbliebenen ist. Ihre Tochter, damals gerade ein Jahr alt, spricht Cormoran Strike in einem Pub während seines Familienbesuches in Cornwall an und bittet ihn, sich den Fall nochmals anzuschauen. Eher zögernd nimmt er den Auftrag an und beginnt gemeinsam mit Robin Ellacott diesem Cold Case neu aufzurollen.

Es gestaltet sich schwierig, denn es gibt kaum brauchbares Material, auf das die beiden Privatdetektive zurückgreifen können. Der damals für diesen Fall verantwortliche Ermittler hatte offenbar massiv mit psychischen Problemen zu kämpfen. Heillos überfordert verstieg er sich in astrologischen Hirngespinsten, seine Notizen wirr und kaum aussagekräftig. Die damaligen Zeugen müssen erneut befragt werden, ihre Aussagen sind widersprüchlich und helfen auf den ersten Blick auch nicht weiter. Strike und Ellacott müssen bei Null anfangen, und der Leser begleitet sie bei jedem Schritt, 1200 Seiten bis zur Auflösung.

Wer nun glaubt, das wäre eine geschwätzige Story mit vielen Längen, irrt, denn hier zeigt sich einmal mehr die Qualität, die Rowlings Schreiben ausmacht. Sie kreiert in diesem überaus komplexen Plot ein spannendes Szenario mit unglaublich vielen Handlungssträngen sowie erwarteten und unerwarteten Wendungen (höchst interessanten Personen, Familiengeschichten, zeitgeschichtlichen Kommentaren und nicht zuletzt die Beziehung der beiden sympathischen Protagonisten), das den Leser tief in das Strike/Ellacott-Universum eintauchen und zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen lässt. Der Leser nimmt an den Ermittlungen teil, verfolgt Spuren, verwirft seine Schlüsse, verzweifelt an der Vielzahl der Möglichkeiten und wartet gespannt auf die Entlarvung des Täters. So und nicht anders muss ein spannender Kriminalroman sein. Ganz großes Kino, Mrs Rowling!

Veröffentlicht am 20.12.2020

Historischer Kriminalroman mit Mehrwert

Lange Nacht (Darktown 3)
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Thomas Mullens Darktown-Trilogie ist mit dem abschließenden Band „Lange Nacht“ im Jahr 1956 angekommen. Es brodelt in Atlanta, nicht zuletzt, weil sich mittlerweile eine Bürgerrechtsbewegung formiert hat, ...

Thomas Mullens Darktown-Trilogie ist mit dem abschließenden Band „Lange Nacht“ im Jahr 1956 angekommen. Es brodelt in Atlanta, nicht zuletzt, weil sich mittlerweile eine Bürgerrechtsbewegung formiert hat, angeführt von einem charismatischen jungen Pastor, Martin Luther King, der dazu aufruft, mit gewaltfreien Mitteln das Ende der Rassentrennung herbeizuführen. Zwar können die Aktivisten erste kleine Erfolge verbuchen, doch prinzipiell hat sich an der Lage der Schwarzen in den Südstaaten nicht verändert. Noch immer müssen sie sich tagtäglich mit Vorurteilen auseinandersetzen, werden in ihren Möglichkeiten eingeschränkt.

Die Protagonisten sind aus den vorherigen Bänden bekannt: Joe McInnis, seit acht Jahren Leiter von Atlantas „Negro Police“, der einzige Weiße in der Truppe. Lucius Boggs, Sohn eines Predigers und seit Beginn Teil von McInnis‘ Team, und Tommy Smith, mittlerweile aus dem Dienst ausgeschieden und nun Polizeireporter bei der Atlanta Daily Times, der einzigen schwarzen Tageszeitung Amerikas. Als er Bishop, seinen Chef, tödlich verletzt im Büro auffindet, alarmiert er McInnis, den einzigen Polizisten, dem er traut, denn er ist sich dessen sicher, dass allein schon die Hautfarbe reicht, um verdächtigt zu werden. Dass er damit richtig liegt, zeigt sich spätestens dann, als sich das FBI in die Ermittlungen einmischt. Offenbar war Bishop einer brisanten Story auf der Spur, deren Enthüllung mit aller Macht verhindert werden sollte. Und plötzlich sind nicht nur Bundesagenten sondern auch korrupte Schnüffler und politische Gruppierungen aus den verschiedensten Gründen an dem Fall interessiert...weiter in den Kommentaren

„Lange Nacht“ ist mehr als ein historischer Kriminalroman. Natürlich ist dieser Blick zurück ein Stück Zeitgeschichte, aber gleichzeitig auch eine aktuelle gesellschaftspolitische Bestandsaufnahme des amerikanischen Alltags. Und das betrifft nicht nur die Südstaaten, was einmal mehr die jüngsten Ereignisse in den USA beweisen. America the beautiful und Land of the Free ? Das gilt offenbar nur für diejenigen, die eine weiße Hautfarbe haben. Alle anderen haben mit einer Realität zu kämpfen, in der Diskriminierung, Behördenwillkür und Polizeibrutalität an der Tagesordnung sind. Mullens Trilogie zeigt uns in erschreckender Weise die moralische Verkommenheit eines Landes, das durch tief verwurzelten Rassismus geprägt ist, inklusive der dazugehörigen politischen Interessen und Einflussnahmen. Und das hat sich seit 1948 bis heute kaum verändert.