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Veröffentlicht am 21.02.2021

Zu schön, um wahr zu sein

Der Weltreporter
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Journalistennachwuchs wird schon ganz zu Beginn eingeschärft: Wenn eine Geschichte zu schön ist, um wahr zu sein, dann stimmt sie meistens auch nicht. Also Vorsicht, sorgfältig recherchieren und Fakten ...

Journalistennachwuchs wird schon ganz zu Beginn eingeschärft: Wenn eine Geschichte zu schön ist, um wahr zu sein, dann stimmt sie meistens auch nicht. Also Vorsicht, sorgfältig recherchieren und Fakten checken. Denn wer auf einen Fake reinfällt oder gar eine Fälschung verbreitet, macht sich nicht nur selber zum Gespött, sondern gibt denen Aufwind, die auch heute wieder laut und oft "Lügenpresse" schreien.

Dass auch gestandene Profis dem Sog der zu schönen als wahrscheinlichen Geschichte erliegen können, das hat das Beispiel des "Stern" und der gefälschten Hitler-Tagebücher ebenso bewiesen wie zuletzt der große Sündenfall beim "Spiegel" mit dem als Edelfeder gehypten Claas Relotius. Der schrieb zwar schön, gab aber leider Phantasiewerke als echte Reportagen aus. Seitdem kennt man in der Branche den Begriff "das ist wohl eher geclaast", wenn eine Geschichte mal wieder zu schön klingt, um wahr zu sein.

Mit seinem Buch "Der Weltreporter" ging "Welt"-Korrespondent Hannes Stein einen ganz anderen Weg: Er schrieb nämlich gleich einen Roman. Über den Journalisten Bodo von Unruh, der bei einem Nachrichtenmagazin arbeitet, das nicht mit Spesenkosten für große Exklusivreportagen geizt. Und Bodo von Unruh, so heißt der schon etwas angejahrte Starreporter, liefert grandiose Entdeckungen: Im tiefsten brasilianischen Urwald findet er die Überreste einer bajuwarischen Rätemonarchie, bei der Ursozialismus und Verehrung der Wittelsbacher Hand in Hand gehen. Ganz nebenbei muss auch noch die Geschichte vom traurigen Schicksal des Märchenkönig Ludwig II. umgeschrieben werden. Oder die utopische Stadt im fernen Sibirien, abgeschottet hinter Mauern, wo eine künstliche Intelligenz den Alltag steuert. Der Indianerstamm, der den ansonsten aus dem Gedächtnis der Amerikaner getilgten 45. Präsidenten verehrt, der als Hologramm weiterhin verspricht, Amerika wieder groß zu machen.

"Der Weltreporter" spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, Nummer 45 ist bereits Geschichte, doch es gibt noch Menschen, die sich an die Tragödien und Irrwege des 20. Jahrhundert erinnern. Derzeit haben die meisten allerdings andere Probleme: Eine Krankheit grassiert, nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung ist immun. Auch Weltreporter Bodo von Unruh hat das exklusive orangene Kärtchen, dass ihm Immunität bescheinigt und erlaubt, überhaupt ohne Tests und Quarantäne im Ausland unterwegs zu sein.

Auch Julia, Philosophiestudentin mit einer Vorliebe für Stoiker, gehört zu den Wenigen, die die Krankheit nicht mehr fürchten müssen. Die beiden lernen sich in einer Hotelbar kennen, aus einem One night Stand wird eine Liebesbeziehung, unterbrochen von den Pausen, wenn Bodo für seine Reportagen unterwegs ist, ob nun nach Afghanistan, wo Drogenlords im Hindukusch eine afghanische Eidgenossenschaft geschaffen haben, in einen indischen Ashram oder zu einem britischen Literaturwissenschaftler, der den Beweis liefert, dass Shakespeare in Wahrheit eine italienische Jüdin war.

Exklusivgeschichten am laufenden Band also, die Liebesgeschichte bildet die Klammer zwischen den Texten. Dann aber gibt es einen Zwischenfall, der Julias Argwohn weckt. Ist Bodo ehrlich zu ihr? Ist er überhaupt ehrlich? Wieso eigentlich ist der angeblich so menschenscheue Fotograf, mit dem er seine Reportagereisen macht, nie aufzufinden, obwohl er im gleichen Haus wie Bodo lebt? Die Studentin entwickelt detektivischen Spürsinn, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Manchmal kann ein Journalist die schönsten Geschichten schreiben, wenn er sich nicht an die Tatsachen halten muss, sondern nach Herzenslust der Fabulierlust nachgehen kann - in einem Roman eben. Hannes Stein macht davon reichlich Gebrauch und hatte wohl auch viel Spaß dabei. Dass die Welt, in der die Handlung spielt, von einer globalen Pandemie geprägt ist, sei nur Zufall, versichtrt der Autor in seinem Vorwort. Es sei alles schon vor einem Jahr fertig gewesen. Ehrlich?

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Veröffentlicht am 20.02.2021

Tundra-Geheimnisse

Das Verschwinden der Erde
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Es ist nicht ganz einfach Julia Philipps´ Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" gattungstechnisch einzusortieren: Literarischer Thriller, wie der Klappentext verspricht? Oder doch eher ein Episodenroman, ...

Es ist nicht ganz einfach Julia Philipps´ Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" gattungstechnisch einzusortieren: Literarischer Thriller, wie der Klappentext verspricht? Oder doch eher ein Episodenroman, der den Blick auf das Leben von Frauen im Fernen Osten Russlands lenkt, eine Zustandsbeschreibung der postsowjetischen Gesellschaft, ausgerechnet von einer Amerikanerin, die zuvor ein bißchen für die Moscow Times bloggte? Der Titel erinnert jedenfalls an ein Lied von Wladimir Wyssotzki, dem Sänger und Schauspieler mit der markant-rauen Stimme und poetischen Texten, in denen es mal um Krieg, mal um Berge und Wildnis ging.

Wenn dieses Buch ein Thriller ist, dann keiner der vordergründigen Sorte. Ein Kriminalfall bildet gewissermaßen die Klammer der Handlung, die sich über ein Jahr hinweg erstreckt, mit jedem für jeweils einen Monat gewidmeten Kapitel, das eine Frauenfigur ins Zentrum rückt. Manche Nebenfigur oder in einem Satz erwähnte könnte in einem anderen Kapitel im Mittelpunkt stehen.

Es ist August und in den Sommerferien, als die beiden Schwestern Aljona und Sofija verschwinden, mitten in der Stadt Petropawlowsk auf der Halbinsel Kamtschatka, die jahrelang militärisches Sperrgebiet war. Der Leser weiß mehr als die Figuren des Romans, die grübeln, was wohl aus den Mädchen geworden ist: Sie stiegen zu einem Fremden ins Auto, einem Mann, der Aljonas Handy an sich nahm, als sie ihre Mutter anrufen sollte. Keine Ausgangslage, die Optimismus auslöst - schon gar nicht, da die Mädchen verschwunden bleiben.

Um Verluste und Verlustängste geht es auch in anderen Kapiteln - toxische Beziehungen, ein verschwundener Hund, eine Frau zwischen zwei Männern, gesundheitliche Sorgen. Manche sehnen sich nach der guten alten Zeit des sowjetischen Imperiums mit seinen klaren Regeln, andere nach dem traditionellen Leben und der Pflege ihrer Identität. Die indigene Bevölkerung der Taiga, die teilweise noch immer mit den Rentierherden im Sommer eine nomadische Lebensweise hat, wird von den Russen als fremd wahrgenommen. Der innerrussische Rassismus ist spürbar.

Zu den eindrücklichsten Passagen von "Das Verschwinden der Erde" gehören die Landschaftsbeschreibungen von Taiga und Tundra, von der Küste, von dem, was von der indigenen Kultur überdauert hat. Doch es gibt nicht nur die große Leere der Landschaft, sondern auch die große innere Leere vieler der Figuren, die nach Orientierung und Sicherheit suchen, die sich teils selbst verleugnen, die durch Schicksalsschläge ins Straucheln geraten.

Erst im vorletzten Kapitel geht es um Marina, die Mutter der verschwundenen Mädchen und erst hier, kurz vor dem Ende, konfrontiert die Autorin ihre Leser mit dem Schmerz und der Hilflosigkeit einer Frau, die jeden Tag damit rechnen muss, dass ein Polizist anruft, um vom Fund der Leichen ihrer Kinder zu berichten - und die dennoch hoffen will. Es ist zugleich das für mich eindrucksvollste Kapitel, in dem sich die russische und die indigene Bevölkerung am ewenischen Neujahrsfest Nurgenek begegnen, in der Nacht, in der traditionellen Legenden zufolge die Toten unter den den Lebenden wandelt.

Julia Philipps schreibt klar und präzise, lässt ihren Frauenfiguren einen Rest von Geheimnis und auch das Ende, das hier natürlich nicht verraten werden soll, lässt verschiedene Interpretationen zu. Ihr Debüt macht auf jeden Fall neugierig auf mehr.

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Veröffentlicht am 14.02.2021

Von Rasse, Klasse und Frausein

Mädchen, Frau etc.
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Mit "Mädchen, Frau, etc" lässt Bernardine Evaristo Leser bzw in diesem Fall Hörer in das schwarze Leben in Großbritannien blicken. In zwölf Frauenportraits bringt die britische Schriftstellerin Lebenswirklichkeiten ...

Mit "Mädchen, Frau, etc" lässt Bernardine Evaristo Leser bzw in diesem Fall Hörer in das schwarze Leben in Großbritannien blicken. In zwölf Frauenportraits bringt die britische Schriftstellerin Lebenswirklichkeiten überwiegend schwarzer Frauen (ebenfalls nur überwiegend, es gibt auch eine nicht-binäre Figur) und schafft es dabei, trotzdem einen roten Faden im Erzählfluss und einer übergreifenden Handlung zu halten. Denn teils sind die Frauen durch Freundschaft oder Verwandtschaft miteinander verbunden, teils finden sie sich am selben Ort wieder, bei der Premiere der "Amazonen von Dahomey" im National Theatre.

In der fast 14-stündigen Hörbuchfassung gibt Constanze Becker all diesen Frauen ihre Stimme, mit angenehmer Zurückhaltung aber auch - das ist sicherlich auch ein Problem der "Übersetzbarkeit" - ohne ihre soziale und regionale Herkunft in der Darstellung zu erfassen. Denn im britischen Englisch zeigt ja oft schon der Akzent, wie ein Gesprächspartner sozial einzuordnen ist - und angesichts der unterschiedlichen Migrationsgeschichte der Frauen bleiben Patois, Pidgin usw, die noch in der Sprache mitschwingen, ungehört.

Regisseurin und Autorin des erwähnten Stücks ist Amma, die auch die Protagonistin des ersten Kapitels ist: Schwarz und lesbisch, sah sie über lange Jahre ihre Rolle vor allem im Protest gegen das Establishment, mit der Inszenierung im Nation Theatre ist sie dort selbst angekommen, so gerne sie sich auch nonkonformistisch-bohemehaft gibt. Ein weiter Weg vom Sozialwohnungsviertel Peckham und der Gesamtschule, wo auch andere der porträtierten Frauen aufwuchsen, so wie Ammas Freundin Shirley, eine desillusionierte Lehrerin, die trotzdem immer wieder vielversprechende Schüler fördert, um ihnen den Weg zu einer guten Universität oder Ausbildung zu ebnen.

Eine von ihnen ist die Finanzexpertin Carole, die es mit Ehrgeiz, harter Arbeit und Talent zur Vizedirektorin geschafft hat - ein Erfolg auch für ihre aus Nigeria eingewanderte und früh verwitwete Mutter Bummi, deren Mathematikstudium in Großbritannien nicht anerkannt wurde. Für die intelligente und tatkräftige Frau blieb nur die Arbeit als Putzfrau, bis sie sich schließlich mit einem eigenen Reingungsbetrieb selbständig macht.

Wie als Kontrapunkt zu urbanem schwarzen Leben gibt es noch mehrere Frauen aus einer Familie in Nordengland, fast schon an der Grenze zu Schottland. Als ein Farmersohn sich in ein früh verwaistes Dienstmädchen mit afrikanischem Vater verliebt, begründen die beiden eine neue Dynastie schwarzer Landbewohner.

Die Atemlosigkeit der Erzählung spiegelt sich in einem Staccato-Satzbau wieder, der über weite Abschnitte buchstäblich ohne Punkt und Komma zurechtkommt. Gleichzeitig schafft es Evaristo, auf jeweils wenigen Buchseiten lebensnahe Frauenfiguren mit Tiefe, Persönlichkeit und Individualität zu entwickeln. Sie mögen Gruppen verkörpern - alleinerziehende Mutter, Künstlerin, Arbeiterin, Karrierefrau, mögen in schwierigen sozialen Verhältnissen leben oder einen steilen Aufstieg erlebt haben, in einer glücklichen oder in einer toxischen Beziehung leben, hetero, lesbisch oder queer-divers.

Was die meisten von ihnen dabei eint, ist die Erfahrung von Rassismus und sich als Frau in einer Gesellschaft durchsetzen zu müssen, in der viele Männer keineswegs von alten Rollenmodellen und-verständnissen Abstand nehmen wollen -sei es im Lehrerzimmer oder in der Business-Etage. Nur die junge Generation, verkörpert in Ammas Tochter Yazz und ihren Freundinnen und Morgan, nach dem harten Weg von Megan zur nicht-binären Selbstidentifikation gelangt und nun einflussreich für Trans-Themen auf social Media, stehen für die jüngere Generation, für die schon viel erkämpft worden ist und die als BiPoc eher einen Hype erleben, sofern sie den privilegierten Hintergrund von Yazz haben. Es gibt eben auch immer die soziale Perspektive - auch wenn das in manchen Diskussionen gerne vergessen wird. Schwarze Erfahrung aus Großbritannien und in den USA, Migrationsgeschichten aus Westafrika und aus der Karibik, unterschiedliche feministische Entwürfe oder traditionelles Rollenverständnis - "Mädchen, Frau, etc" zeigt weibliche und schwarze Vielfalt in der modernen Gesellschaft.

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Veröffentlicht am 05.02.2021

Der Besuch des alten Herrn

Bad Regina
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"Bitte keine Vergangenheitsbewältigung, wir sind Österreicher!", so könnte man, frei nach George Mikes, einen Grundtenor in David Schalkos Roman "Bad Regina" beschreiben. Denn mit seinen Landsleuten und ...

"Bitte keine Vergangenheitsbewältigung, wir sind Österreicher!", so könnte man, frei nach George Mikes, einen Grundtenor in David Schalkos Roman "Bad Regina" beschreiben. Denn mit seinen Landsleuten und einem dumpfbraunen Grundton der österreichischen Seele geht der Autor bei allen grotesk-satirischen Elementen kritisch ins Gericht. Da sind seine Protagonisten in dem sterbenden Ort Bad Regina durchaus einsichtig.

So nennt einer Einwohner von Bad Regina seine Landsleute "Verdunkelungsweltmeister"- "Er sagte, dass in Österreich die Aufklärung nie stattgefunden habe. Vorschriftshörigkeit, Mauscheln, und Feigheit seien in seiner DNA verankert." Schmeichelhaft klingt anders. Dass die Krise der Gegenwart tatsächlich mit charakterlichem Versagen der Einheimischen während des Nationalsozialismus zusammenhängt erschließt sich allerdings erst ganz zum Schluss. Bis dahin muss der Leser, ebenso wie Hauptfigur Othmar, rätseln, was hinter dem Verfall von Bad Regina steckt und welche Rolle der Chinese Chen spielt, auf den sich Spekulationen ebenso konzentrieren wie xenophobe Überlegungen.

Othmar träumte irgendwann einmal von Größerem. Mit seiner Punkband gehörte er zu den Rebellen. Doch das ist lange her. Von Sex, Drugs & Rock´n´Roll sind am ehesten noch die Drogen geblieben, denn wenn Othmar nicht bekifft ist, ist er betrunken oder auf dem besten Weg dahin. Immerhin, jede Woche Dienstag kommt Selma, die Frau, die mit ihrer Tochter einem Sektenchef entkommen ist und ausgerechnet in Bad Regina Zuflucht gefunden hat. Ist es Liebe, oder helfen sich da zwei für ein paar Stunden aus ihrer Einsamkeit?

Früher kam der Jet-Set nach Bad Regina, später Hipster auf der Suche nach "lost places" - und selbst die sind jetzt ausgeblieben. Gerade mal 45 Nachbarn sind Othmar geblieben, nur ein Kind lebt im Ort, der etwas unheimliche und frühreife Max. Bad Regina ist zur Geisterstadt geworden, in der das Grand Hotel ebenso leer steht wie viele Häuser, deren Einwohner verschwunden sind. Fest steht nur: Chen hat sie aufgekauft. Der Rest ist Leerstand. Falls Chen einen Plan hat, hat er sich den verbliebenen Einwohnern nicht erschlossen.

Zwar werden generationsübergreifende Dorfzwiste auch mit nur 46 verbliebenen Einwohnern hingebungsvoll weitergeführt, doch gemeinsamer Rassismus eint dann doch. "Der Chinese" soll zum Reden gezwungen werden, mit Hilfe einer Entführung, bei der dann plötzlich so gut wie alle dabei sind - eine aberwitzige Szene mit einer Entwicklung, bei der eigentlich alles schief geht. Am Ende wartet eine Überraschung und ein Plot, der an Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" erinnert.

Schalko würzt seinen Text mit so wunderbar bildhaften Beschreibungen wie "Die Sterne leuchteten, als wäre der Nachthimmel ein löchriger Fetzen. Als ob dahinter ein Fest stattfände, zu dem Othmar nicht eingeladen war. ... Wie ein maroder Leuchtturm schimmerte das Luziwuzi am Ende des Ortes. Die anderen Lebensgeister flackertenvereinzelt." Doch dabei kratzt er häufig nur an der Oberfläche seiner Figuren, springt von einem zum nächsten. Das ist angesichts des exzentrischen Personal des Romans schade. Denn mit bitterböser Satire und der Lust am Grotesken bereitet Schalko seinen Lesern so manche Überraschung. Dieses Buch gerät zu einer virtuosen Achterbahnfahrt der Stereotypen und Vorurteile, ganz ohne Schmäh, aber mit einer gehörigen Portion österreichischer Selbstschelte.

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Veröffentlicht am 14.01.2021

Geschworeneneinsatz mit Folgen

Verweigerung
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Das Geschworenensystem wie etwa in der amerikanischen Justiz ist gleichermaßen faszinierend wie erschreckend, wenn man sonst gerade bei großen Prozessen die vorherrschende Rolle von Berufsrichtern kennt. ...

Das Geschworenensystem wie etwa in der amerikanischen Justiz ist gleichermaßen faszinierend wie erschreckend, wenn man sonst gerade bei großen Prozessen die vorherrschende Rolle von Berufsrichtern kennt. Da sind einerseits ganz normale Leute, die vielleicht andere Perspektiven in die Lebenswirklichkeit von Angeklagten haben als die Juristen, die Vorstellung der gemeinsamen Entscheidungsfindung, der Bürgerverantwortung und dass ein Angeklagter die Chance hat, von Mitbürgern be- und verurteilt zu werden.

Da ist aber auch das Risiko, dass eine Geschworenenjury nach Sympathien und Antipathien entscheidet, dass bewusste und unbewusste Vorurteile die Entscheidung prägen, auch wenn die Prozessparteien vorher versuchten, voreingenommene Geschworene auszuschließen. Die Gefahr, dass Charisma, Überzeugungskraft oder schlichtes Dominanzgebaren eines oder mehrerer Geschworener die allgemeine Meinung einer Jury für oder gegen eine Verurteilung kippen lässt. Könnte es nicht sein, dass professionelle Juristen, die eine ganz andere und oft jahrelange Erfahrung mit Strafprozessen haben, rationaler und fundierter eine Entscheidung treffen können?

Eines ist klar: Dass Geschworenensystem ist die Basis für gure und spannende Justizdramen. Man denke nur an "Die zwölf Geschworenen" oder "Die Runaway Jury". Und auch "Verweigerung" von Graham Moore ist da keine Ausnahme. Der amerikanische Justizthriller verbindet zudem gleich zwei Genres - den Gerichts- und den Kriminalroman, eingebettet in die Veränderung der amerikanischen Gesellschaft von den Obama- hin zu den Trump-Jahren, thematisiert den Umgang mit Rassismus, Vorurteile und natürlich die Frage nach Schuld.

Maya Seale war im Jahr 2009 eine junge Frau voller Ideale, die sich wie viele ihrer Generation für die Wahl Barack Obamas als ersten schwarzen Präsidenten der USA engagiert hat, als sie Geschworene in einem Mordprozess in Los Angeles wird. Gleich am ersten Prozesstag trifft sie Rick Leonard, der ebenfalls als Geschworener berufen wurde. In dem Indizienprozess ist ein junger afroamerkanischer Lehrer angeklagt: Er soll ein Verhältnis mit einer Schülerin gehabt, sie entführt und ermordet haben. Die Leiche der Tochter einer Milliardärs und Immobilienmoguls wurde nie gefunden.

Ist Bobby Nock Opfer von Rassismus, gerade in einer Stadt wie Los Angeles, in der die Polizei in mehrere einschlägige Skandale verwickelt wurde? Gibt es auch andere Erklärungen für die Blutstropfen, die in seinem Auto gefunden wurden. Beweisen die Sexting-Nachrichten, die zwischen ihm und Jessica Silver ausgetauscht wurden, eine sexuelle Beziehung - was automatisch sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen bedeuten würde - oder geht es hier nur um Phantasien? Vor allem: Reichen die Indizien aus, um Bobby Nock ohne Zweifel schuldig zu sprechen? Eines der ganz wichtigen Prinzipien der Rechtsprechung lautet schließlich: In dubio pro reo, also im Zweifel für den Angeklagten.

Dass die Namen der Geschworenen geleakt wurden und die Jury für die Verfahrensdauer in einem Hotel untergebracht werden muss, verschärft die Anspannung noch. Als es zu den Beratungen der Jury kommt, hat Maya als einzige Zweifel, verweigert sich einem Schuldspruch und schafft es , ein Jurymitglied nach dem anderen auf ihre Seite zu ziehen - und sei es nur, um endlich wieder nach Hause zu kommen. Der letzte, der an einer Verurteilung beharrt, ist Rick - nicht nur einer von nur zwei Afroamerikanern in der Jury, sondern auch derjenige, mit dem Maya während des Prozesses eine heimliche, heftige Affäre hat.

Zehn Jahre nach dem Freispruch für Bobby Nock wird die Jury wieder zusammengerufen in dem Hotel, in dem sie einst um eine Entscheidung rang. Diesmal für eine Fernsehproduktion. Stargast ist Rick, der nach dem Prozess ein Buch über den Fall geschrieben hat, in dem er vor allem Maya heftig angriff. Die wiederum hat aufgrund ihrer Erfahrung im Prozess Jura studiert, ist nun eine erfolgreiche Strafverteidigerin. Rick, so heißt es, hat neue Beweise für die Schuld von Bobby Nock zusammengetragen. In den zehn Jahren hat er sich offenbar mit nichts anderem beschäftigt als mit dieser Frage.

Doch noch ehe es zu irgendwelchen Enthüllungen kommt, findet Maya Rick tot in ihrem Hotelzimmer. Plötzlich steht sie unter Mordverdacht. Um ihre Unschuld zu beweisen, recherchiert sie nach Verdachtshinweisen bei den anderen Ex-Geschworenen, sucht nach Bobby Nock. Während Maya um ihren Ruf und ihre Freiheit kämpfen muss, springt die Erzählhandlung immer wieder zurück in die Zeit des Prozesses und zu den einzelnen Jurymitgliedern mit ihren Motivationen. Dabei schafft es Moore, Verdachtsmomente und mögliche Motive zu schaffen und mit immer neuen Wendungen zu überraschen.

Manches an der Lösung des Falls lässt sich durch diese Hinweise schon relativ früh erahnen, anderes klärt sich erst ganz zum Schluss auf. Spannend und mit Einblicken in die Psyche der so unterschiedlichen Jury-Mitglieder geschrieben, zeichnet Moore dabei auch ein Bild der amerikanischen Gesellschaft mit ihren Brüchen, Kontrasten und Widersprüchen. Die Frage nach Schuld ist dabei auch mit der Frage nach Verantwortung und dem "Richtigen" verbunden, mit den Auswirkungen, die eine Entscheidung auf das Leben Unschuldiger hat, die nur allzu leicht Kollateralschäden bleiben.

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