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Veröffentlicht am 20.02.2021

Eine wunderschöne Geschichte über Außenseiter, Liebe, Besonderssein, Stärke und Mut

Stell dir vor, dass ich dich liebe
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Jennifer Niven werden die meisten von Euch vielleicht schon von ihrem bekannten Weltbestseller "All die verdammt perfekten Tage" (Original: "All The Bright Places") kennen, welcher im letzten Jahr auch ...

Jennifer Niven werden die meisten von Euch vielleicht schon von ihrem bekannten Weltbestseller "All die verdammt perfekten Tage" (Original: "All The Bright Places") kennen, welcher im letzten Jahr auch verfilmt wurde. Für mich war "Stell dir vor, dass ich dich liebe" jedoch meine erste (und definitiv nicht letzte) Begegnung mit der amerikanischen Spiegelbestseller-Autorin, welche mich vollkommen überrascht hat. Denn dieser wundervolle Roman über Stärke, Außenseiter, Besonderssein, Mut und Liebe ist einfach wunderschön. Ich habe mich beim Lesen so in Jack und Libbys Geschichte verliebt, die mir ein überraschendes, unerwartetes, aber umwerfendes Jahreshighlight geschenkt hat.


"Du bist der wunderbarste Mensch, den ich je getroffen habe. Du bist anders. Du bist du. Immer. Wer kann das noch von sich behaupten?"



Das Cover ist passend zu Jennifer Nivens Vorgänger "All die verdammt perfekten Tage" gestaltet und grundsätzlich nett anzusehen. Mich überzeugen aber weder der grellpinke Hintergrund noch das Hauptmotiv mit dem weißen Stern und der Skizze der zwei Personen in einem Park. Auch von der Übersetzung des Originaltitels "Holding Up The Universe" bin ich nicht gerade begeistert, da mir bei "Stell dir vor, dass ich dich liebe" der direkte Handlungsbezug fehlt. Klar, man kann die Überraschung darüber, dass gerade diese zwei Personen zusammenfinden zwischen den Seiten spüren, aber diesen Titel könnte ich mir auch bei ungefähr dreißig anderen Geschichten vorstellen. Ich hätte mir für diese außergewöhnliche Story also etwas mit mehr Wiedererkennungswert gewünscht!


Erster Satz: "Ich bin kein mieser Typ, aber ich bin kurz davor, etwas Mieses zu tun."


Wir starten mit einem kurzen Brief von Jack in die Geschichte, in dem er sich für eine Handlung entschuldigt, zu der er sich gezwungen gefühlt hat. Um was es sich hierbei handelt, warum er es für eine bessere Idee gehalten hat, lieber Täter als Opfer zu sein und was es für ein Leben bedeutet, gesichtsblind zu sein, erfahren wir innerhalb der nächsten Kapitel, die einen Zeitsprung auf achtzehn Stunden zuvor wagen. Hier lernen wir nun zunächst die 16jährige Libby kennen, die nach sechs Jahren Auszeit ihren ersten Tag als Elftklässlerin an der Highschool hat. Dass dies kein Zuckerschlecken wird, liegt nicht nur daran, dass sie keinen einzigen Freund hat, sondern auch, dass Teenager grausam sein können, vor allem zu "Amerikas fettestem Teenager", welcher mit Hilfe eines Krans aus seinem eigenen Haus befreit werden musste. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, ist, dass sie gleich an ihrem ersten Tag nach einem Vorfall in der Cafeteria im Büro der Direktorin landet und eine Gesprächsgruppe aufgebrummt bekommt und noch viel weniger, dass sie im Laufe der nächsten Woche beginnt, Gefühle für den Jungen zu entwickeln, der an all dem Schuld ist: Jack...


"Die Schule ist genauso, wie ich es erwartet habe, und gleichzeitig noch mehr. Erstens hat die Martin-Van-Buren-Highschool etwa zweitausend Schüler, deshalb wimmelt es nur so von Menschen. Zweitens sieht niemand so glänzend und poliert aus wie in den Filmversionen einer Highschool. Echte Teenager sind nicht 25. Wir haben schlechte Haut und schlechte Haare und gute Haut und gute Haare, und es gibt uns in allen möglichen Größen und Formen. Ich mag uns lieber als unsere Film-Ichs, obwohl ich mich, wie ich hier sitze, selbst wie eine Schauspielerin fühle, die eine Rolle spielt. Ich bin der Fisch auf dem Trockenen, die Neue. Was wird meine Geschichte sein?"


Jennifer Niven bricht mit dem ersten Zusammentreffen ihrer beiden Protagonisten wohl jede Regel, die für den Beginn einer epischen Liebesgeschichte jemals aufgestellt worden ist. Zu Beginn kann man es sich im Leben nicht vorstellen, dass Jack und Libby zusammenfinden könnten - zu unterschiedlich sind ihre Leben und ihre Stellung auf der Highschool-Hackliste -, mit jeder verstreichenden Seite wird jedoch deutlicher, dass sich die beiden gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Denn während Libby damit kämpft, übergewichtig zu sein und auf den Vorfall vor drei Jahren reduziert zu werden, hat auch Jack etwas zu verbergen, dass ihn zu einem leichten Opfer machen könnte: er leidet unter einer neurologischen Störung mit dem Namen Prosopagnosie, bei welcher die Gesichtserkennung infolge einer Gehirnverletzung oder eines genetischen Defekts gestört ist. Im Klartext bedeutet das für ihn: "Ich betrete einen Raum und kenne niemanden. Und so ist es mit jedem Raum, überall." Was erst einmal verrückt klingt, ist ein Problem, das etwa 2,5 Prozent der Weltbevölkerung betrifft und in verschiedenen Schweregraden auftreten kann. Wie schwer es für Jack ist, seine Freunde und seine Familie anhand von äußerlichen Erkennungsmerkmalen mühsam rekonstruieren zu müssen und in welche peinlichen Situationen ihn diese Störung schon gebracht hat, transportiert die Autorin auf sehr einfühlsame, aber eindrückliche Art und Weise.


"Ich sehe es so: Ich habe meine Mom verloren, mich beinahe zu Tode gefressen, wurde aus meinem Haus gesägt, während das ganze Land zusah, habe Diäten und Ernährungspläne und die Enttäuschung der Nation ausgehalten und Hassmails von Wildfremden bekommen. (...) Also was kann die Highschool mir antun, was mir nicht bereits angetan wurde?"


Mit ebenso viel Fingerspitzengefühl geht sie das Thema Mobbing an, mit dem sich Libby schon sehr früh konfrontiert sah. Egal ob fiese Briefe, Ablehnung, Starren oder Getuschel - ihr wird es nicht gerade leicht gemacht, obwohl sie im Grunde niemandem etwas getan hat. Doch statt klein bei zu geben und sich wieder in die Sicherheit ihres Zimmers zurückzuziehen, sagt sie der Welt den Kampf an. Das machte sie in meinen Augen riesengroß - nicht nur, weil ihr Körperumfang den der meisten ihrer Mitschüler um einiges übersteigt, sondern weil sie für sich selbst einsteht, an ihren eigenen Wert glaubt und sich nichts entgehen lässt. Sie will tanzen? Also tanzt sie wie wild. Sie will nicht von anderen beleidigt werden? Also bedenkt sie sich schon selbst mit den miesesten Gemeinheiten, die ihr einfallen. Sie will gesehen werden? Also setzt sie in einem lila Bikini ein Zeichen... Auch sie hat natürlich Fehler und ist weit davon entfernt, eine typische Heldin zu sein, aber bei ihrem lauten und selbstbewussten Auftreten habe ich das ein oder andere Mal bewundernd den Hut gezogen und mir gewünscht, es würde ein paar mehr Libbys auf der Welt geben.


"Ich werde vom Beat davongetragen, durch die Halle, hoch zu den Dachsparren, durch die Tür, durch die Schule, an Mrs Wassermans Büro vorbei, bis ich draußen bin, in der Sonne, unter freiem Himmel.
Wirbel, wirbel, wirbel.
Und dann bin ich im Himmel. Und dann bin ich der Himmel!
Ich segle über Amos, über die Interstate 7ß, rüber nach Ohio, und von dort aus nach New York und den Atlantik, und dann nach England, Frankreich... Ich bin überall. Ich bin global. Ich bin universell."


Jack hingegen ist auf den ersten Blick genau das Gegenteil eines Außenseiters: beliebt, gutaussehend, cool. Statt sich die Blöße zu geben, seinen Freunden von seiner Erkrankung zu erzählen und sich somit zu einem leichten Opfer für Streiche zu machen, hat er sich einen Ruf als Frauenheld, Charmeur und Fiesling aufgebaut, sodass sich keiner wundert, wenn er mal mit der Falschen flirtet, seine Freunde auf dem Gang ignoriert oder sicherheitshalber jeden anlächelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er glücklich ist. Im Gegenteil: er ist mit einem Mädchen zusammen, das früher seine beste Freundin war, die er jetzt aber nur noch als Rettungsanker braucht, um ihn durch die Highschool zu navigieren, hat Freunde, die er selbst nicht einmal mag und die ihn regelmäßig dazu bringen, Dinge zu tun, wegen denen er sich vor seinem kleinen Bruder schämt. Kein Wunder also, dass man ihn in manchen Situationen am liebsten schütteln würde. Im Grunde ist er jedoch ein ebenso liebenswerter und vielschichtiger Charakter wie Libby, den man sehr schnell ins Herz schließt. Als dann Libby kommt, die sich überhaupt nicht für die Meinung anderer interessiert, immer sie selbst und absolut und unverwechselbar nicht zu übersehen ist, rüttelt das seine Welt ganz schön durcheinander und ihre langsame Annäherung gehört zu den herzergreifendsten und authentischsten, von der ich in der letzten Zeit gelesen habe!


"Ich stehe drinnen, und mein Herz rast und stolpert. Ich kann ihn auf der anderen Seite der Tür hören. Ich kann ihn fühlen. Ich weiß genau, wann er geht, zwei Minuten später, weil die Luft um mich herum wieder normal wird, kein gefährlicher Elektrosturm mehr, der jeden Moment Funken schlagen kann. Während er wegfährt setzt mein Herz immer noch einzelne Schläge aus."


Dadurch dass Jennifer Niven abwechselnd aus der Sicht von Jack und Libby erzählt, kann sie geschickt mit der Fremd- und Eigenperspektive der Figuren spielen und gleich zwei schwere Themen ansprechen, ohne dass Gefühle zu kurz kommen. Die sehr kurzen Kapitel, die manchmal noch nicht einmal eine Seite lang sind, sorgen in der ersten Hälfte dafür, dass die Handlung etwas auf der Stelle tritt und erst langsam in Schwung kommt. Die Hintergründe von Libbys Übergewichts, ihrer "Hausbefreiung", Jacks Unfall oder ihrer verlorenen Jahre erfahren wir erst nach und nach durch eingeschobene Zeitsprünge in das Alter von 10 bis 14 Jahren. Solche kurzen Rückblenden begleiten uns über die ganze Geschichte hinweg und machen deutlich, dass Jacks und Libbys Wege sich schon viel früher gekreuzt haben und dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als die beiden wissen. Aufgelockert wird die Erzählung außerdem durch eingeschobene Listen (zum Beispiel "7 Karrieren für Menschen mit Prosopagnosie" oder "Top-2-Dinge, die mir fehlen, wenn ich nicht mit Libby zusammen bin"), Briefe oder Aufzählungen, oft mit humoristischem Inhalt.


"Er sagt: "Ich dachte, wir gehen erst mal etwas essen, und dann sehen wir weiter." Aber er könnte genauso gut sagen: "Ich fahre mit dir zum Mond, und wenn wir da oben sind, hole ich dir die Sterne vom Himmel, damit du sie dir ins Haar stecken kannst."


Und das ist eine weitere große Stärke der Geschichte: Jacks Charme, Libbys Sarkasmus und der allgegenwärtige Witz des Schreibstils sorgen dafür, dass genügend Fröhlichkeit die tragischen Inhalte ausgleicht. Die Autorin findet dabei ganz wunderbar eine Balance zwischen Ernst und Humor, sodass die Wichtigkeit der angesprochenen Themen nicht verloren geht, sich die jugendlichen Figuren aber nie selbst zu ernst nehmen. So ist die Geschichte trotz einiger hochemotionaler Szenen, bei denen einem die Spucke wegbleibt, ein absolutes Wohlfühlbuch, das sich wie eine warme Decke übers Herz legt und in dem man sich am liebsten häuslich einrichten würde. Obendrauf kommt dann noch die wunderschöne Message, die zwar simpel, altbekannt und logisch erscheint, die man sich dennoch immer wieder ins Bewusstsein rufen sollte: "IHR SEID ERWÜNSCHT. Dick, dünn, groß, klein, hübsch, unscheinbar, freundlich, schüchtern. Lasst euch von niemandem etwas anderes erzählen, nicht einmal von euch selbst. Erst recht nicht von euch selbst!"




Fazit:


"Stell dir vor, dass ich dich liebe" ist eine wunderschöne Geschichte über Außenseiter, Liebe, Besonderssein, Stärke und Mut: vielschichtig, ergreifend, humorvoll und definitiv eines der besten Jugendbüchern, die ich in letzter Zeit gelesen habe!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2021

Vereint alles, was ich mir von einer Geschichte des Genres wünschen würde.

Free like the Wind
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Achtung: Die Lektüre dieses Buches kann zu einem schwerwiegenden Anfall von Fernweh führen!

Diesen Warnhinweis hätte ich schon gerne dem ersten Band der Kanada-Dilogie, "Wild Like A River" vorangestellt ...

Achtung: Die Lektüre dieses Buches kann zu einem schwerwiegenden Anfall von Fernweh führen!

Diesen Warnhinweis hätte ich schon gerne dem ersten Band der Kanada-Dilogie, "Wild Like A River" vorangestellt gesehen. Denn die Setting-Magierin Kira Mohn entführt auch im zweiten Band ihrer Reihe in den Jasper-Nationalpark in Kanada, welcher mehr als einmal den Wunsch in mir geweckt hat, ich würde nicht in Deutschland festsitzen. Doch auch "Free Like The Wind", welches genau heute erscheint, hat viel mehr zu bieten, als bildreiche Naturbeschreibungen und lässt den Auftaktband mit reiferen Figuren, einer leidenschaftlicheren Liebesgeschichte und den intensiveren Gefühlen hinter sich zurück.


"Ich habe niemanden verloren. Höchstens mich selbst."


Das Cover ist dem ersten Teil sehr ähnlich gestaltet und entführt mit dem dunstigen See bei Morgengrauen und dem lila Ahornblatt im Vordergrund in die Wildnis Kanadas. Genau wie bei "Wild Like A River" dominieren zarte, süße, mädchenhafte Farben und der weiße, wohlklingende Titel ist haptisch hervorgehoben. Auch hier setzen sich die Blatt-Motive innerhalb der Buchdeckel fort und zieren jeden Kapitelanfang, der immer aus Raes Sicht startet, um dann später zu Caydens Perspektive zu wechseln. So bekommen wir einen rundum Einblick in die Gefühle und Gedanken der beiden Protagonisten, die aus sehr unterschiedlichen Gründen zusammen auf eine Wanderauszeit in den Nationalpark gehen und dort nicht nur Ruhe und Erkenntnis, sondern auch zueinander finden...


Erster Satz: "Rae? Ist alles in Ordnung?"


Zu Beginn ist völlig ausgeschlossen, dass die ruhige, zurückhaltende Rae und der arrogante, zynische Playboy Cayden zusammen wandern gehen wollen, geschweige denn, dass sich mehr zwischen ihnen entwickeln könnte. Kira Mohn hat hier keine typische Haters-to-Lovers-Geschichte geschrieben - die beiden könnten bloß unterschiedlicher nicht sein, wissen nichts miteinander anzufangen und haben keine besonders hohe Meinung vom jeweils anderen. Während Cayden sich mit wechselnden Bettgeschichten ablenkt, negative Gedanken mit Gin und Sport betäubt und weder sein Studium noch seinen Job in einer renommierten Kanzlei ernst zunehmen scheint, versucht Rae krampfhaft, weiterhin die perfekte, unkomplizierte Tochter zu sein, in deren Rolle sie hineingerutscht ist, als ein schrecklicher Tag vor drei Jahren ihre Familie auseinandergerissen hat. Als die beiden sich aber wiederholt durch Haven und Jackson, deren jeweils beste Freunde, um die es in "Wild Like A River" geht, über den Weg laufen, können sie nicht ignorieren, dass sie etwas von dem Schmerz in den Augen des jeweils anderen wiedererkennen...


"In seinen Augen jedoch schimmern noch immer Spuren der Qual, die vor wenigen Minuten in Wellen von ihm ausging, und mir fällt plötzlich das Atmen schwer, weil ich dieses Gefühl so gut kenne. Die meisten Menschen nähern sich in ihrem ganzen Leben einem solchen Gefühl nur sehr selten an, und das ist gut so. Die Welt wäre ein sehr hoffnungsloser, grauer Ort, würden alle ihr Leben so dicht am Abgrund leben. Cayden jedoch tut es. Und ich bin fast sicher, spätestens in diesem Moment erkennt er, dass wir das gemeinsam haben."


Auch wenn ich den ersten Teil der Reihe schon sehr mochte, hat "Free Like The Wind" etwas, das mir bei Havens und Jacksons Geschichte gefehlt hat: Intensität. Zwar bleibt Kira Mohn ihrem typischen, geruhsamen Erzähltempo und der zarten Annäherung ihrer Figuren treu, dennoch hatten die Gefühle ihrer Protagonisten mehr Power und konnten mich besser erreichen. Durch die unerfahrene Haven als Hauptfigur wirkte der erste Teil noch sehr zart und harmlos und mir hat zwischen ihr und Jackson ein bisschen die Chemie gefehlt. Von jener haben Cayden und Rae aber mehr als genug. Gerade dadurch, dass die Autorin sich viel Zeit lässt, die beiden zusammenzuführen und ihnen viele Steine in den Weg legt, kann sich die Vertrautheit und auch die Anziehungskraft zwischen ihnen langsam entwickeln und steigern. Auch abseits ihrer realistischen Annäherung sind mir die beiden Protagonisten mehr ans Herz gewachsen als die des ersten Teils. Versteht mich nicht falsch, auch Haven und Jackson waren toll. Cayden und Rae wirken aber reifer, haben mit ernsthafteren Problemen zu kämpfen und sind auf so herzzerreißende Art und Weise zerbrochen, dass man sie einfach heiß und innig lieben muss. Vor allem Cayden hat mir mit seinem gut verborgenen Leiden, seiner einfühlsamen Kilgrave-Empathie und seinem destruktiven Verhalten laufend das Herz gebrochen und sich mit seinem langsamen Genesungsprozess einen Platz in meinem Herz gesichert. Auch Rae ist ein lebendiger, vielschichtiger Charakter, den man nicht so schnell vergisst.


"Manchmal ist man vielleicht zu zerbrochen. Nicht alles lässt sich kitten, und wenn das eigene Innere aus Milliarden Scherben besteht, ist es schlichtweg unmöglich, kleinste Splitter wieder zusammenzufügen. Ich habe es versucht, ernsthaft versucht, doch in jedem einzelnen Fragment ließ sich Leahs Gesicht erahnen. Oder war es meins?"


Besonders gut gefällt mir auch das Setting, das Kira Mohn sich als Rahmen für diese Liebesgeschichte ausgedacht hat. Schon im ersten Teil durften wir ja einen Blick in das Leben einer Rangerin im Jasper Nationalpark erhaschen, hier bekommen wir das Setting jedoch noch einmal aus der Sicht zweier Stadtmenschen erzählt, die in der Wildnis nur zu Besuch sind. Und, was soll ich sagen: aus dieser anderen Perspektive erscheinen die Landschaft und ihre Tierwelt fast noch magischer. Sehr gefreut hat mich, dass wir diesmal länger als nur für die Einleitung im Wald verweilen und der Haupthandlungsstrang im Nationalpark spielt. Zwischen Zelten, auf abgelegenen Trampelpfaden und mit Tütensuppenaromatisierten Nudeln am Fluss bleibt herrlich viel Zeit, sich eingehend mit den beiden Figuren und deren Beziehung zueinander zu beschäftigen und die wenigen ablenkenden Einflüsse sorgen dafür, dass man ihr gegenseitiges Öffnen sehr intensiv beobachten kann. Genau diese Intimität hat dazu beigetragen, dass ich das Buch innerhalb von zwei Nachmittagen verschlungen habe und das langsame Erzähltempo keine einzige Länge hervorruft. Die Autorin hat hier mehr auf Gefühl gesetzt als auf Handlung - und die Rechnung geht auf!


"Der Himmel über dem Fluss ist übersäht davon, sie hängen über uns wie eine Myriade winziger Fenster in andere Welten. Zum ersten Mal scheinen die riesigen Bäume um uns herum mich nicht zu erdrücken, sondern zu beschützen. Ich sitze in einer Art Waldnest, während mein Verstand versucht zu umreißen, dass wir von dort oben selbst nur ein winziger Lichtpunkt sind; dass alles nur eine Frage der Perspektive ist. Mein Verstand kapituliert."


Total verliebt habe ich mich auch in Kira Mohns humorvollen, sarkastischen Schreibstil und die tollen Naturbeschreibungen. Von dem wunderschönen, wilden, lebendigen Ambiente in Kanadas Wildnis, die dieser Geschichte das perfekte Herbstfeeling entlocken, will ich gar nicht erst anfangen... Dass die Autorin einen tollen Humor hat, konnte ich nicht nur den witzigen Nachrichten entnehmen, die sie mir geschickt hat, während ich das Buch gelesen habe (bei Vorableseaktionen werden Autoren manchmal etwas nervös, da das Buch zum ersten Mal jemand der Book-Community außerhalb des Verlags zu lesen bekommt ), sondern auch den vielen innovativen Ideen wie Timbit-Verhandlungen, Kondom-Wasserbomben, Kaninchen-Begräbnisse oder die ab und an absurde Ironie in Gedanken und Konversationen. Trotz des königlichen Humors schreckt Kira Mohn nicht zurück, uns einige ziemlich ernste Themen um die Ohren zu knallen und ab und an eine Szene einzuschieben, bei der man ganz schön schlucken muss. Doch keine Angst - trotz der vielen tragischen Anklänge und einigen negativen Emotionen, handelt es sich hier um ein Wohlfühlbuch mit einem alles in allem vorhersehbaren Verlauf, herzerwärmender Story und gütigen Versprechen auf ein Happy End, die über jedem Problem schweben.


"Hätte ich gewusst, dass es unser letzter Abschied sein würde, dann hätte ich dich in den Arm genommen und so lange gedrückt, bis du gelacht und gesagt hättest, jetzt sei auch mal gut. Und hättest du es auch gewusst, hätten wir uns nie wieder losgelassen."


Das Ende gefiel mir ebenfalls sehr gut, da es nicht mit Glitzer um sich geworfen hat, wie man das leider auch viel zu oft liest. Es gibt keine überstürzte Heirat, ein Prolog mit Kindern und Co und auch ansonsten wird alles herrlich offengelassen. Kurz vor dem Epilog kam bei mir der Gedanken auf, dass Kira Mohn ruhig ein wenig konkreter bezüglich der Problematik mit Caydens Vater und dem einhergehenden Drama hätte sein können, doch dann löst die Autorin die Geschichte auf vier Seiten so gekonnt, ergreifend und bittersüß auf, dass ich mir im Nachhinein kein besseres Ende hätte vorstellen können!




Fazit:


Mie den beiden vielschichtigen, zerbrochenen Charakteren, der zarten, aber doch intensiven Romanze, dem magischen Setting, dem angenehme, flüssige Schreibstil und dem hinreißenden Ende vereint "Free Like The Wind" alles, was ich mir von einer Geschichte des Genres wünschen würde. Zwar erzählt Kira Mohn auch diesen Roman sehr langsam und ausführlich, der zweite Teil ihrer Kanada-Dilogie überzeugt aber mit mehr Power und Intensität als der erste Teil.

  • Einzelne Kategorien
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  • Erzählstil
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  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2021

Vereint alles, was ich mir von einer Geschichte des Genres wünschen würde.

Free like the Wind
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Achtung: Die Lektüre dieses Buches kann zu einem schwerwiegenden Anfall von Fernweh führen!

Diesen Warnhinweis hätte ich schon gerne dem ersten Band der Kanada-Dilogie, "Wild Like A River" vorangestellt ...

Achtung: Die Lektüre dieses Buches kann zu einem schwerwiegenden Anfall von Fernweh führen!

Diesen Warnhinweis hätte ich schon gerne dem ersten Band der Kanada-Dilogie, "Wild Like A River" vorangestellt gesehen. Denn die Setting-Magierin Kira Mohn entführt auch im zweiten Band ihrer Reihe in den Jasper-Nationalpark in Kanada, welcher mehr als einmal den Wunsch in mir geweckt hat, ich würde nicht in Deutschland festsitzen. Doch auch "Free Like The Wind", welches genau heute erscheint, hat viel mehr zu bieten, als bildreiche Naturbeschreibungen und lässt den Auftaktband mit reiferen Figuren, einer leidenschaftlicheren Liebesgeschichte und den intensiveren Gefühlen hinter sich zurück.


"Ich habe niemanden verloren. Höchstens mich selbst."


Das Cover ist dem ersten Teil sehr ähnlich gestaltet und entführt mit dem dunstigen See bei Morgengrauen und dem lila Ahornblatt im Vordergrund in die Wildnis Kanadas. Genau wie bei "Wild Like A River" dominieren zarte, süße, mädchenhafte Farben und der weiße, wohlklingende Titel ist haptisch hervorgehoben. Auch hier setzen sich die Blatt-Motive innerhalb der Buchdeckel fort und zieren jeden Kapitelanfang, der immer aus Raes Sicht startet, um dann später zu Caydens Perspektive zu wechseln. So bekommen wir einen rundum Einblick in die Gefühle und Gedanken der beiden Protagonisten, die aus sehr unterschiedlichen Gründen zusammen auf eine Wanderauszeit in den Nationalpark gehen und dort nicht nur Ruhe und Erkenntnis, sondern auch zueinander finden...


Erster Satz: "Rae? Ist alles in Ordnung?"


Zu Beginn ist völlig ausgeschlossen, dass die ruhige, zurückhaltende Rae und der arrogante, zynische Playboy Cayden zusammen wandern gehen wollen, geschweige denn, dass sich mehr zwischen ihnen entwickeln könnte. Kira Mohn hat hier keine typische Haters-to-Lovers-Geschichte geschrieben - die beiden könnten bloß unterschiedlicher nicht sein, wissen nichts miteinander anzufangen und haben keine besonders hohe Meinung vom jeweils anderen. Während Cayden sich mit wechselnden Bettgeschichten ablenkt, negative Gedanken mit Gin und Sport betäubt und weder sein Studium noch seinen Job in einer renommierten Kanzlei ernst zunehmen scheint, versucht Rae krampfhaft, weiterhin die perfekte, unkomplizierte Tochter zu sein, in deren Rolle sie hineingerutscht ist, als ein schrecklicher Tag vor drei Jahren ihre Familie auseinandergerissen hat. Als die beiden sich aber wiederholt durch Haven und Jackson, deren jeweils beste Freunde, um die es in "Wild Like A River" geht, über den Weg laufen, können sie nicht ignorieren, dass sie etwas von dem Schmerz in den Augen des jeweils anderen wiedererkennen...


"In seinen Augen jedoch schimmern noch immer Spuren der Qual, die vor wenigen Minuten in Wellen von ihm ausging, und mir fällt plötzlich das Atmen schwer, weil ich dieses Gefühl so gut kenne. Die meisten Menschen nähern sich in ihrem ganzen Leben einem solchen Gefühl nur sehr selten an, und das ist gut so. Die Welt wäre ein sehr hoffnungsloser, grauer Ort, würden alle ihr Leben so dicht am Abgrund leben. Cayden jedoch tut es. Und ich bin fast sicher, spätestens in diesem Moment erkennt er, dass wir das gemeinsam haben."


Auch wenn ich den ersten Teil der Reihe schon sehr mochte, hat "Free Like The Wind" etwas, das mir bei Havens und Jacksons Geschichte gefehlt hat: Intensität. Zwar bleibt Kira Mohn ihrem typischen, geruhsamen Erzähltempo und der zarten Annäherung ihrer Figuren treu, dennoch hatten die Gefühle ihrer Protagonisten mehr Power und konnten mich besser erreichen. Durch die unerfahrene Haven als Hauptfigur wirkte der erste Teil noch sehr zart und harmlos und mir hat zwischen ihr und Jackson ein bisschen die Chemie gefehlt. Von jener haben Cayden und Rae aber mehr als genug. Gerade dadurch, dass die Autorin sich viel Zeit lässt, die beiden zusammenzuführen und ihnen viele Steine in den Weg legt, kann sich die Vertrautheit und auch die Anziehungskraft zwischen ihnen langsam entwickeln und steigern. Auch abseits ihrer realistischen Annäherung sind mir die beiden Protagonisten mehr ans Herz gewachsen als die des ersten Teils. Versteht mich nicht falsch, auch Haven und Jackson waren toll. Cayden und Rae wirken aber reifer, haben mit ernsthafteren Problemen zu kämpfen und sind auf so herzzerreißende Art und Weise zerbrochen, dass man sie einfach heiß und innig lieben muss. Vor allem Cayden hat mir mit seinem gut verborgenen Leiden, seiner einfühlsamen Kilgrave-Empathie und seinem destruktiven Verhalten laufend das Herz gebrochen und sich mit seinem langsamen Genesungsprozess einen Platz in meinem Herz gesichert. Auch Rae ist ein lebendiger, vielschichtiger Charakter, den man nicht so schnell vergisst.


"Manchmal ist man vielleicht zu zerbrochen. Nicht alles lässt sich kitten, und wenn das eigene Innere aus Milliarden Scherben besteht, ist es schlichtweg unmöglich, kleinste Splitter wieder zusammenzufügen. Ich habe es versucht, ernsthaft versucht, doch in jedem einzelnen Fragment ließ sich Leahs Gesicht erahnen. Oder war es meins?"


Besonders gut gefällt mir auch das Setting, das Kira Mohn sich als Rahmen für diese Liebesgeschichte ausgedacht hat. Schon im ersten Teil durften wir ja einen Blick in das Leben einer Rangerin im Jasper Nationalpark erhaschen, hier bekommen wir das Setting jedoch noch einmal aus der Sicht zweier Stadtmenschen erzählt, die in der Wildnis nur zu Besuch sind. Und, was soll ich sagen: aus dieser anderen Perspektive erscheinen die Landschaft und ihre Tierwelt fast noch magischer. Sehr gefreut hat mich, dass wir diesmal länger als nur für die Einleitung im Wald verweilen und der Haupthandlungsstrang im Nationalpark spielt. Zwischen Zelten, auf abgelegenen Trampelpfaden und mit Tütensuppenaromatisierten Nudeln am Fluss bleibt herrlich viel Zeit, sich eingehend mit den beiden Figuren und deren Beziehung zueinander zu beschäftigen und die wenigen ablenkenden Einflüsse sorgen dafür, dass man ihr gegenseitiges Öffnen sehr intensiv beobachten kann. Genau diese Intimität hat dazu beigetragen, dass ich das Buch innerhalb von zwei Nachmittagen verschlungen habe und das langsame Erzähltempo keine einzige Länge hervorruft. Die Autorin hat hier mehr auf Gefühl gesetzt als auf Handlung - und die Rechnung geht auf!


"Der Himmel über dem Fluss ist übersäht davon, sie hängen über uns wie eine Myriade winziger Fenster in andere Welten. Zum ersten Mal scheinen die riesigen Bäume um uns herum mich nicht zu erdrücken, sondern zu beschützen. Ich sitze in einer Art Waldnest, während mein Verstand versucht zu umreißen, dass wir von dort oben selbst nur ein winziger Lichtpunkt sind; dass alles nur eine Frage der Perspektive ist. Mein Verstand kapituliert."


Total verliebt habe ich mich auch in Kira Mohns humorvollen, sarkastischen Schreibstil und die tollen Naturbeschreibungen. Von dem wunderschönen, wilden, lebendigen Ambiente in Kanadas Wildnis, die dieser Geschichte das perfekte Herbstfeeling entlocken, will ich gar nicht erst anfangen... Dass die Autorin einen tollen Humor hat, konnte ich nicht nur den witzigen Nachrichten entnehmen, die sie mir geschickt hat, während ich das Buch gelesen habe (bei Vorableseaktionen werden Autoren manchmal etwas nervös, da das Buch zum ersten Mal jemand der Book-Community außerhalb des Verlags zu lesen bekommt ), sondern auch den vielen innovativen Ideen wie Timbit-Verhandlungen, Kondom-Wasserbomben, Kaninchen-Begräbnisse oder die ab und an absurde Ironie in Gedanken und Konversationen. Trotz des königlichen Humors schreckt Kira Mohn nicht zurück, uns einige ziemlich ernste Themen um die Ohren zu knallen und ab und an eine Szene einzuschieben, bei der man ganz schön schlucken muss. Doch keine Angst - trotz der vielen tragischen Anklänge und einigen negativen Emotionen, handelt es sich hier um ein Wohlfühlbuch mit einem alles in allem vorhersehbaren Verlauf, herzerwärmender Story und gütigen Versprechen auf ein Happy End, die über jedem Problem schweben.


"Hätte ich gewusst, dass es unser letzter Abschied sein würde, dann hätte ich dich in den Arm genommen und so lange gedrückt, bis du gelacht und gesagt hättest, jetzt sei auch mal gut. Und hättest du es auch gewusst, hätten wir uns nie wieder losgelassen."


Das Ende gefiel mir ebenfalls sehr gut, da es nicht mit Glitzer um sich geworfen hat, wie man das leider auch viel zu oft liest. Es gibt keine überstürzte Heirat, ein Prolog mit Kindern und Co und auch ansonsten wird alles herrlich offengelassen. Kurz vor dem Epilog kam bei mir der Gedanken auf, dass Kira Mohn ruhig ein wenig konkreter bezüglich der Problematik mit Caydens Vater und dem einhergehenden Drama hätte sein können, doch dann löst die Autorin die Geschichte auf vier Seiten so gekonnt, ergreifend und bittersüß auf, dass ich mir im Nachhinein kein besseres Ende hätte vorstellen können!




Fazit:


Mie den beiden vielschichtigen, zerbrochenen Charakteren, der zarten, aber doch intensiven Romanze, dem magischen Setting, dem angenehme, flüssige Schreibstil und dem hinreißenden Ende vereint "Free Like The Wind" alles, was ich mir von einer Geschichte des Genres wünschen würde. Zwar erzählt Kira Mohn auch diesen Roman sehr langsam und ausführlich, der zweite Teil ihrer Kanada-Dilogie überzeugt aber mit mehr Power und Intensität als der erste Teil.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.01.2021

Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

Das Lied der Krähen
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Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, ...

Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, dass das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event produziert wird und somit die "Grisha"-Trilogie und die "Krähen"-Bestsellern auf die Leinwand vereint werden. Die Grisha-Trilogie um "Grisha - Goldene Flammen", "Grisha - Eisige Wellen", "Grisha - Lodernde Schwingen" sowie das weiterführende Spinn-Off "King of Scars - Thron aus Asche und Gold" habe ich schon im letzten Jahr gelesen und bin ganz verliebt in die slawische Fantasywelt gewesen, die Leigh Bardugo entworfen hat. Mit dem düsteren Gangster-Setting, den vielschichtig entwickelten Protagonisten und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen spielt "Das Lied der Krähen" jedoch in einer ganz anderen Liga und lässt die "Grisha"-Trilogie weit hinter sich zurück.


"Wenn jeder weiß, dass du ein Monster bist, brauchst du deine Zeit nicht damit zu verschwenden, monströse Dinge zu tun."


"Leigh Bardugo + Knaur Verlag" scheint eine vielversprechende Kombination zu sein - die Gestaltung ist mal wieder ein Traum. Das Hauptmotiv der großen Krähe, deren Federn wie schwarzes Pech eine graue Festung umfließen, die sich erst auf den zweiten Blick vom schiefergrauen Hintergrund abhebt, ist ganz dem Originalcover nachempfunden und setzt die düster-geheimnisvolle Grundstimmung der Geschichte auf ansprechende Weise um. Auch der Titel enthält das Krähenmotiv des Originaltitels "Six of Crows", weshalb hier aber ein Lied mit von Partie sein muss, ist mir auch nach längerem Nachdenken nicht ganz klar. Sehr überzeugend an der Gestaltung sind auch der schwarze Buchschnitt und die beiden wundervoll detailliert ausgestalteten Karten in den Leselaschen der broschierten Ausgabe. In der vorderen Lasche ist die schon aus der Trilogie bekannte Weltkarte des gesamten "Grisha-Verse" abgedruckt, während ganz hinten eine Karte des Eistribunals in Fjerda beim Orientieren hilft.


"Das Eistribunal ist ein gewaltiges Bauwerk", sagte Matthias und wandte sich ab. "Ich kann nicht jeden Spalt und jede Ecke etikettieren."
"Dann lasst uns hoffen, dass nicht in diesen Ecken lauert", antwortete Kaz."


Sehr hilfreich ist auch die vorangestellte Übersicht der Grisha-Orden. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zwar zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut, - So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert - dennoch wird der Überblick so manchem verwirrten Leser, der die vielen Begriffe noch nicht aus der Grisha-Trilogie kennt, dabei helfen, die Handlung besser zu verstehen. Zwar ist es für den Handlungsverlauf absolut nicht nötig, die anderen Bände gelesen zu haben, die im selben fiktiven Universum spielen, wie die Krähen-Dilogie, es hilft aber ungemein dabei, den Eindruck zu vervollständigen, wenn man schon mit Vorwissen an "Das Lied der Krähen" herangeht.


"Halte nach Wundern Ausschau und lausche den Gutenachtgeschichten.". Verfolge die Geschichten über Hexen und Kobolde und unerklärliche Ereignisse- Manchmal war es nur Aberglaube. Aber manchmal steckte auch Wahrheit im Herzen der einheimischen Legenden - Menschen, die mit Gaben geboren wurden, die man in ihren Ländern nicht verstand."


Wer die Reihe nicht gelesen hat, wird nämlich nur ein sehr sporadisches, unscharfes Bild der restlichen Grisha-Welt mitnehmen. Denn Leigh Bardugo hält sich hier nicht mit einem globalen Worldbuilding auf, sondern konzentriert sich ganz auf die für ihre Handlung wichtigen Spielorte. Zuerst entführt sie uns nach Ketterdam, eine vorindustrielle, niederländisch angehauchte Hafenstadt, die durch Börsenhandel, viele Reisende, zwielichtige Spielhallen und eine brutalen Gangkultur geprägt ist. Hier herrscht also eine ganz andere, weitaus düstere und dynamischere Stimmung vor als im winterlich, skandinavischen Fjerda oder dem stark russisch angehauchten, märchenhaften Ravka, welches wir in der Grisha-Trilogie kennenlernen konnten. Eines hat der Einstieg in "Das Lied der Krähen" aber mit der Trilogie gemeinsam: er ist genauso anspruchsvoll und überfordernd mit dem komplizierten, chaotischen Setting, den vielen neuen und fremden Namen und ganzen FÜNF Erzählperspektiven.


"Er überrascht mich."
"Ja. Wie ein Bienenschwarm in deiner Kleiderschublade."
Jesper stieß ein bellendes Lachen aus. "Genau so."
"Was machen wir also hier?"
(...)"Auf Honig hoffen, denke ich. Und beten, dass wir nicht gestochen werden."


Schon der erste Satz ist legendär: „Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.“. Leigh Bardugo wirft uns ohne Vorwarnung mitten ins Geschehen und erklärt nur das aller nötigste, während sie die Fäden ihrer Handlung auswirft. Der für diese Geschichte so charakteristische Sog entwickelt sich aber leider erst mit der Zeit. Nicht etwa, weil der Anfang nicht spannend erzählt wäre - im Gegenteil: von einer spektakulären Befreiungsaktion, Arenakämpfen, mehreren Schießereien und Explosionen ist alles dabei -, sondern weil wir erst im Laufe der Zeit eine wirkliche Verbindung zu den Figuren aufbauen. Während unsere Protagonisten einen unmöglichen Coup planen und durch das Grisha-Verse reisen, wird nach und nach durch Einschübe und Rückblicke deren Geschichte erzählt. Mit jeder Seite, auf der wir mehr über sie erfahren, schließen wir sie mehr ins Herz und die rasante Handlung wird emotional mitreißender. Nachdem man sich also mal in die Geschichte eingefunden hat, kann man sie ohne eine einzige Länge in einem Rutsch weglesen und die 600 Seiten vergehen wie im Flug.


"Vielleicht würde Inej versagen. Oder Nina. Oder Kaz. Oder ich. Vielleicht versage ich. Sechs Menschen, aber eintausend Möglichkeiten, wie dieser wahnwitzige Plan schiefgehen konnte."


Besonders beeindruckend ist, dass die Geschichte zwar hochkomplex ist, aber eine klare Linie behält. Theoretisch lesen wir hier von fünf Einzelschicksalen, die sich durch eine unmögliche Aufgabe treffen und miteinander verschmelzen. Sowohl Kaz, Inej, Matthias, Nina und Jesper (Warum Wylan nicht auch erzählen darf, sodass alle sechs Krähen zu Wort kommen, erschließt sich mir immer noch nicht) haben einiges erlebt, was im Laufe der Handlung entweder von Nutzen ist, oder verarbeitet werden muss. Der Autorin gelingt hier etwas, was sie in die Königsklasse der Fantasy katapultiert: eine herausragende Balance zwischen Figurenaufbau und Spannung. Die Haupthandlung, also der Einbruch in das Eistribunal, rückt zu keinem Zeitpunkt zu stark in den Hintergrund, auch wenn die Geschichte eigentlich vor allem von den Geistern der Vergangenheit lebt, welche durch die Rückblicke zwischen den Figuren schweben und deren Beziehungen verkomplizieren. Zu Beginn war ich sehr skeptisch angesichts der fünf Erzählperspektiven, doch schon bald wurde mir klar, dass diese absolut nötig waren, da nur durch die vielen Wechsel die gesamten Wahrheiten bis zum Ende vor dem Leser verborgen werden und wir nur so alle Hintergrundgeschichten kennenlernen können. Außerdem agieren die sechs Krähen gerade ab dem späteren Mittelteil zum Teil getrennt voneinander und wir können nur so den Überblick über die Einzelhandlungen behalten. Dennoch: Respekt an Leigh Bardugo, dass sie hier nicht die Kontrolle und die Übersicht verloren hat.


"Matthias kannte Monster, und ein Blick auf Kaz Brekker hatte ihm gesagt, dass er eine Kreatur war, die zu lange in der Dunkelheit gelebt hatte – und als er wieder zurück ans Licht gekrochen war, hatte er etwas mit sich gebracht."


Ihre Figurencharakterisierungen sind wie immer durch zärtliches Feingefühl und unvorhersehbare Skrupellosigkeit geprägt. Ihre Figuren - der Anführer und Pläneschmieder Kaz, das katzenhafte Phantom Inej, der Scharfschütze Jesper, der gutbürgerliche Ausreißer Wylan, die Grisha-Entherzerin Nina und der Hexenjäger Matthias - sind so bunt, lebendig und ambivalent dargestellt, wie es fiktive Figuren auf 600 Seiten Umfang nur sein können. Dass sich eine Menge Rätsel und Wissenslücken um die Protagonisten ranken, hilft natürlich auch dabei, sie möglichst interessant zu präsentieren. Wie wurde Inej zum Phantom? Weshalb saß Matthias im Gefängnis? Welche Schuld trägt Nina mit sich herum? Wie haben die beiden sich kennengelernt? Weshalb spielt Jesper? Und vor allem: was will Kaz Brekker? Jener ist einer der undurchsichtigsten Personen, die mir je begegnet ist und mein geheimer Liebling der Reihe. Eine ordentliche Portion Geheimnis und Überraschungspotential bringen aber alle Beteiligten mit sich. Jeder der Krähen hat etwas zu verbergen, eigene Motive und natürlich tauchen auch noch ein paar alte und neue Gefühle auf, um die Dynamik der Gruppe zusätzlich zu verkomplizieren. Leigh Bardugo setzt hier mehr auf Konflikte und Anziehung als auf große Liebesdramen, dennoch entspinnen sich die zarte Anfänge von gleich drei Lovestories.


"Sie würde niemanden Liebe wünschen. Sie war der Gast, den man willkommen hieß, und dann nicht mehr los wurde."


Man mag vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte alle der sechs Krähen, aber sie sind so herrlich echt, authentisch und klischeefrei, dass man sie einfach feiern muss. Hier gibt es zur Abwechslung mal keine Prophezeiungen, keine auserwählten Special-Snowflakes, keine heiligen Ideale und keine große, antagonistische Weltuntergangsbedrohung. Was wir hier lesen sind einfach sechs gesetzlose Außenseiter auf dem Weg zu sehr viel Ruhm und Geld... oder in den Tod. Der Beiname der Reihe "Glory or Grave" wird also zum Programm. Und da wären wir bei dem zweiten Punkt, der unvorhersehbaren Skrupellosigkeit, angelangt. Bis zum Ende kann hier jederzeit absolut alles passieren. Nicht nur dass die Autorin ihre Leser durch Erzählkniffe und spannende Wendungen auf falsche Fährten lockt, mit der Komplexität der Pläne, dem Aufbau und Detailreichtum der Welt immer wieder begeistert und verblüfft, sie schreibt auch taff und unverfroren genug, dass man ihr ein spontaner Charaktertod ohne Probleme zutrauen würde. Ich liebe Gangster-Geschichten, ich liebe spektakuläre Coups und ich liebe es, wenn komplizierte Pläne funktionieren - doch noch mehr liebe ich es, wenn Situationen so entgleisen, dass alles auf der Kippe steht und die Geschichte sich plötzlich in jede erdenkliche Richtung bewegen könnte. Und genau solche Momente gibt es gerade im spektakulären letzten Drittel im Eistribunal eine ganze Menge.


"Das ist es, dachte Inej. Sie hatten ihn angeschoben, und jetzt rollte der Felsbrocken den Berg hinab. Wer wusste schon, welche Zerstörung er anrichten und was auf den Trümmern erbaut werden würde."


Durch die besondere Erzählweise ist "Das Lied der Krähen" ein sehr intensives und forderndes Leseerlebnis, das eine gewisse Bereitschaft, den Kopf anzustrengen und sich auf die Welt, Charaktere und miteinander verflochtenen Handlungsstränge einzulassen, verlangt. Es schwingen aber auch noch andere Subtöne mit. Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe und die Körperstatur keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. Sie werden genannt, akzeptiert und vergessen, herrlich selbstverständlich. Auch unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen tauchen hier auf und machen das diverse Bild bunter, ohne dass es die Autorin übertrieben hat oder heraushängen lässt, wie in manch anderen Jugendbüchern, die sich der Diversität verschrieben haben, der Fall ist. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse - ein.


"Inej hatte ihm einmal angeboten, ihm beizubringen, wie man fiel. "Der Trick ist, sich nicht niederschlagen zu lassen", hatte er gescherzt. "Nein Kaz", sagte sie dann, "der Trick ist, wieder aufzustehen."


Dass ich trotz meiner Anfangsschwierigkeiten in diese komplexe Fantasywelt eintauchen konnte, garantierte mal wieder der wundervolle Schreibstil der Autorin. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit zu schillernden Schauplätzen und schockt uns mit Überraschungen. Mit Grisha-Hexen und Hexenjägern, Schifffahrt und Technologie, Drogen und Gewalt erschafft Leigh Bardugo eine einnehmende Welt abseits der sonst so präsenten Vampir-/ Werwolf-/ Zauberer-/ Feen-/ Elfen-/ Zwergen-/ Fae-/ Drachen-/ Nixen-Fantasy und zeigt, dass man auch mit ganz neuen Ideen begeistern kann. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Etwas schade sind die zum Teil seltsamen Übersetzungen von vermutlich in der Originalsprache besser funktionierenden Gaunerbegriffen (z.B. August, Täubchen). Ansonsten lässt sich "Das Lied der Krähen" aber flüssig lesen und bietet den perfekten Stoff für eine Verfilmung, die der Geschichte hoffentlich gerecht werden wird!



Fazit:

"Das Lied der Krähen" ist dank des düsteren Gangster-Setting, der vielschichtig entwickelten, ambivalenten Figuren, der fordernden, komplexen Handlung und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen deutlich erwachsener und ausgereifter als die "Grischa-Trilogie" und konnte mich nach leichten Anfangsschwierigkeiten vollkommen überzeugen. Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

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Veröffentlicht am 15.01.2021

Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

Das Lied der Krähen (2 MP3-CDs)
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Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, ...

Die Motivation jetzt - Jahre nach dem großen Hype - mit der Krähen-Dilogie zu beginnen ist in erster Linie einer Ankündigung des Streamingdienstes Netflix geschuldet. Schon seit letztem Jahr ist klar, dass das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event produziert wird und somit die "Grisha"-Trilogie und die "Krähen"-Bestsellern auf die Leinwand vereint werden. Die Grisha-Trilogie um "Grisha - Goldene Flammen", "Grisha - Eisige Wellen", "Grisha - Lodernde Schwingen" sowie das weiterführende Spinn-Off "King of Scars - Thron aus Asche und Gold" habe ich schon im letzten Jahr gelesen und bin ganz verliebt in die slawische Fantasywelt gewesen, die Leigh Bardugo entworfen hat. Mit dem düsteren Gangster-Setting, den vielschichtig entwickelten Protagonisten und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen spielt "Das Lied der Krähen" jedoch in einer ganz anderen Liga und lässt die "Grisha"-Trilogie weit hinter sich zurück.


"Wenn jeder weiß, dass du ein Monster bist, brauchst du deine Zeit nicht damit zu verschwenden, monströse Dinge zu tun."


"Leigh Bardugo + Knaur Verlag" scheint eine vielversprechende Kombination zu sein - die Gestaltung ist mal wieder ein Traum. Das Hauptmotiv der großen Krähe, deren Federn wie schwarzes Pech eine graue Festung umfließen, die sich erst auf den zweiten Blick vom schiefergrauen Hintergrund abhebt, ist ganz dem Originalcover nachempfunden und setzt die düster-geheimnisvolle Grundstimmung der Geschichte auf ansprechende Weise um. Auch der Titel enthält das Krähenmotiv des Originaltitels "Six of Crows", weshalb hier aber ein Lied mit von Partie sein muss, ist mir auch nach längerem Nachdenken nicht ganz klar. Sehr überzeugend an der Gestaltung sind auch der schwarze Buchschnitt und die beiden wundervoll detailliert ausgestalteten Karten in den Leselaschen der broschierten Ausgabe. In der vorderen Lasche ist die schon aus der Trilogie bekannte Weltkarte des gesamten "Grisha-Verse" abgedruckt, während ganz hinten eine Karte des Eistribunals in Fjerda beim Orientieren hilft.


"Das Eistribunal ist ein gewaltiges Bauwerk", sagte Matthias und wandte sich ab. "Ich kann nicht jeden Spalt und jede Ecke etikettieren."
"Dann lasst uns hoffen, dass nicht in diesen Ecken lauert", antwortete Kaz."


Sehr hilfreich ist auch die vorangestellte Übersicht der Grisha-Orden. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zwar zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut, - So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert - dennoch wird der Überblick so manchem verwirrten Leser, der die vielen Begriffe noch nicht aus der Grisha-Trilogie kennt, dabei helfen, die Handlung besser zu verstehen. Zwar ist es für den Handlungsverlauf absolut nicht nötig, die anderen Bände gelesen zu haben, die im selben fiktiven Universum spielen, wie die Krähen-Dilogie, es hilft aber ungemein dabei, den Eindruck zu vervollständigen, wenn man schon mit Vorwissen an "Das Lied der Krähen" herangeht.


"Halte nach Wundern Ausschau und lausche den Gutenachtgeschichten.". Verfolge die Geschichten über Hexen und Kobolde und unerklärliche Ereignisse- Manchmal war es nur Aberglaube. Aber manchmal steckte auch Wahrheit im Herzen der einheimischen Legenden - Menschen, die mit Gaben geboren wurden, die man in ihren Ländern nicht verstand."


Wer die Reihe nicht gelesen hat, wird nämlich nur ein sehr sporadisches, unscharfes Bild der restlichen Grisha-Welt mitnehmen. Denn Leigh Bardugo hält sich hier nicht mit einem globalen Worldbuilding auf, sondern konzentriert sich ganz auf die für ihre Handlung wichtigen Spielorte. Zuerst entführt sie uns nach Ketterdam, eine vorindustrielle, niederländisch angehauchte Hafenstadt, die durch Börsenhandel, viele Reisende, zwielichtige Spielhallen und eine brutalen Gangkultur geprägt ist. Hier herrscht also eine ganz andere, weitaus düstere und dynamischere Stimmung vor als im winterlich, skandinavischen Fjerda oder dem stark russisch angehauchten, märchenhaften Ravka, welches wir in der Grisha-Trilogie kennenlernen konnten. Eines hat der Einstieg in "Das Lied der Krähen" aber mit der Trilogie gemeinsam: er ist genauso anspruchsvoll und überfordernd mit dem komplizierten, chaotischen Setting, den vielen neuen und fremden Namen und ganzen FÜNF Erzählperspektiven.


"Er überrascht mich."
"Ja. Wie ein Bienenschwarm in deiner Kleiderschublade."
Jesper stieß ein bellendes Lachen aus. "Genau so."
"Was machen wir also hier?"
(...)"Auf Honig hoffen, denke ich. Und beten, dass wir nicht gestochen werden."


Schon der erste Satz ist legendär: „Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.“. Leigh Bardugo wirft uns ohne Vorwarnung mitten ins Geschehen und erklärt nur das aller nötigste, während sie die Fäden ihrer Handlung auswirft. Der für diese Geschichte so charakteristische Sog entwickelt sich aber leider erst mit der Zeit. Nicht etwa, weil der Anfang nicht spannend erzählt wäre - im Gegenteil: von einer spektakulären Befreiungsaktion, Arenakämpfen, mehreren Schießereien und Explosionen ist alles dabei -, sondern weil wir erst im Laufe der Zeit eine wirkliche Verbindung zu den Figuren aufbauen. Während unsere Protagonisten einen unmöglichen Coup planen und durch das Grisha-Verse reisen, wird nach und nach durch Einschübe und Rückblicke deren Geschichte erzählt. Mit jeder Seite, auf der wir mehr über sie erfahren, schließen wir sie mehr ins Herz und die rasante Handlung wird emotional mitreißender. Nachdem man sich also mal in die Geschichte eingefunden hat, kann man sie ohne eine einzige Länge in einem Rutsch weglesen und die 600 Seiten vergehen wie im Flug.


"Vielleicht würde Inej versagen. Oder Nina. Oder Kaz. Oder ich. Vielleicht versage ich. Sechs Menschen, aber eintausend Möglichkeiten, wie dieser wahnwitzige Plan schiefgehen konnte."


Besonders beeindruckend ist, dass die Geschichte zwar hochkomplex ist, aber eine klare Linie behält. Theoretisch lesen wir hier von fünf Einzelschicksalen, die sich durch eine unmögliche Aufgabe treffen und miteinander verschmelzen. Sowohl Kaz, Inej, Matthias, Nina und Jesper (Warum Wylan nicht auch erzählen darf, sodass alle sechs Krähen zu Wort kommen, erschließt sich mir immer noch nicht) haben einiges erlebt, was im Laufe der Handlung entweder von Nutzen ist, oder verarbeitet werden muss. Der Autorin gelingt hier etwas, was sie in die Königsklasse der Fantasy katapultiert: eine herausragende Balance zwischen Figurenaufbau und Spannung. Die Haupthandlung, also der Einbruch in das Eistribunal, rückt zu keinem Zeitpunkt zu stark in den Hintergrund, auch wenn die Geschichte eigentlich vor allem von den Geistern der Vergangenheit lebt, welche durch die Rückblicke zwischen den Figuren schweben und deren Beziehungen verkomplizieren. Zu Beginn war ich sehr skeptisch angesichts der fünf Erzählperspektiven, doch schon bald wurde mir klar, dass diese absolut nötig waren, da nur durch die vielen Wechsel die gesamten Wahrheiten bis zum Ende vor dem Leser verborgen werden und wir nur so alle Hintergrundgeschichten kennenlernen können. Außerdem agieren die sechs Krähen gerade ab dem späteren Mittelteil zum Teil getrennt voneinander und wir können nur so den Überblick über die Einzelhandlungen behalten. Dennoch: Respekt an Leigh Bardugo, dass sie hier nicht die Kontrolle und die Übersicht verloren hat.


"Matthias kannte Monster, und ein Blick auf Kaz Brekker hatte ihm gesagt, dass er eine Kreatur war, die zu lange in der Dunkelheit gelebt hatte – und als er wieder zurück ans Licht gekrochen war, hatte er etwas mit sich gebracht."


Ihre Figurencharakterisierungen sind wie immer durch zärtliches Feingefühl und unvorhersehbare Skrupellosigkeit geprägt. Ihre Figuren - der Anführer und Pläneschmieder Kaz, das katzenhafte Phantom Inej, der Scharfschütze Jesper, der gutbürgerliche Ausreißer Wylan, die Grisha-Entherzerin Nina und der Hexenjäger Matthias - sind so bunt, lebendig und ambivalent dargestellt, wie es fiktive Figuren auf 600 Seiten Umfang nur sein können. Dass sich eine Menge Rätsel und Wissenslücken um die Protagonisten ranken, hilft natürlich auch dabei, sie möglichst interessant zu präsentieren. Wie wurde Inej zum Phantom? Weshalb saß Matthias im Gefängnis? Welche Schuld trägt Nina mit sich herum? Wie haben die beiden sich kennengelernt? Weshalb spielt Jesper? Und vor allem: was will Kaz Brekker? Jener ist einer der undurchsichtigsten Personen, die mir je begegnet ist und mein geheimer Liebling der Reihe. Eine ordentliche Portion Geheimnis und Überraschungspotential bringen aber alle Beteiligten mit sich. Jeder der Krähen hat etwas zu verbergen, eigene Motive und natürlich tauchen auch noch ein paar alte und neue Gefühle auf, um die Dynamik der Gruppe zusätzlich zu verkomplizieren. Leigh Bardugo setzt hier mehr auf Konflikte und Anziehung als auf große Liebesdramen, dennoch entspinnen sich die zarte Anfänge von gleich drei Lovestories.


"Sie würde niemanden Liebe wünschen. Sie war der Gast, den man willkommen hieß, und dann nicht mehr los wurde."


Man mag vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte alle der sechs Krähen, aber sie sind so herrlich echt, authentisch und klischeefrei, dass man sie einfach feiern muss. Hier gibt es zur Abwechslung mal keine Prophezeiungen, keine auserwählten Special-Snowflakes, keine heiligen Ideale und keine große, antagonistische Weltuntergangsbedrohung. Was wir hier lesen sind einfach sechs gesetzlose Außenseiter auf dem Weg zu sehr viel Ruhm und Geld... oder in den Tod. Der Beiname der Reihe "Glory or Grave" wird also zum Programm. Und da wären wir bei dem zweiten Punkt, der unvorhersehbaren Skrupellosigkeit, angelangt. Bis zum Ende kann hier jederzeit absolut alles passieren. Nicht nur dass die Autorin ihre Leser durch Erzählkniffe und spannende Wendungen auf falsche Fährten lockt, mit der Komplexität der Pläne, dem Aufbau und Detailreichtum der Welt immer wieder begeistert und verblüfft, sie schreibt auch taff und unverfroren genug, dass man ihr ein spontaner Charaktertod ohne Probleme zutrauen würde. Ich liebe Gangster-Geschichten, ich liebe spektakuläre Coups und ich liebe es, wenn komplizierte Pläne funktionieren - doch noch mehr liebe ich es, wenn Situationen so entgleisen, dass alles auf der Kippe steht und die Geschichte sich plötzlich in jede erdenkliche Richtung bewegen könnte. Und genau solche Momente gibt es gerade im spektakulären letzten Drittel im Eistribunal eine ganze Menge.


"Das ist es, dachte Inej. Sie hatten ihn angeschoben, und jetzt rollte der Felsbrocken den Berg hinab. Wer wusste schon, welche Zerstörung er anrichten und was auf den Trümmern erbaut werden würde."


Durch die besondere Erzählweise ist "Das Lied der Krähen" ein sehr intensives und forderndes Leseerlebnis, das eine gewisse Bereitschaft, den Kopf anzustrengen und sich auf die Welt, Charaktere und miteinander verflochtenen Handlungsstränge einzulassen, verlangt. Es schwingen aber auch noch andere Subtöne mit. Neben den feministischen Zügen, die sich immer wieder abzeichnen, ist auch die Diversität der Protagonisten positiv zu vermerken. Ob bi-, pan-, hetero-, oder homosexuell spielt ebenso wie die Hautfarbe und die Körperstatur keine Rolle und wird nur nebenbei erwähnt - ebenso wie es im echten Leben auch sein sollte: keine große Sache. Sie werden genannt, akzeptiert und vergessen, herrlich selbstverständlich. Auch unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen tauchen hier auf und machen das diverse Bild bunter, ohne dass es die Autorin übertrieben hat oder heraushängen lässt, wie in manch anderen Jugendbüchern, die sich der Diversität verschrieben haben, der Fall ist. So fügen sich auch die Protagonisten gut in die wundervolle, eigensinnige, kunterbunte, authentische, magische Welt - das Grisha-Verse - ein.


"Inej hatte ihm einmal angeboten, ihm beizubringen, wie man fiel. "Der Trick ist, sich nicht niederschlagen zu lassen", hatte er gescherzt. "Nein Kaz", sagte sie dann, "der Trick ist, wieder aufzustehen."


Dass ich trotz meiner Anfangsschwierigkeiten in diese komplexe Fantasywelt eintauchen konnte, garantierte mal wieder der wundervolle Schreibstil der Autorin. Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit zu schillernden Schauplätzen und schockt uns mit Überraschungen. Mit Grisha-Hexen und Hexenjägern, Schifffahrt und Technologie, Drogen und Gewalt erschafft Leigh Bardugo eine einnehmende Welt abseits der sonst so präsenten Vampir-/ Werwolf-/ Zauberer-/ Feen-/ Elfen-/ Zwergen-/ Fae-/ Drachen-/ Nixen-Fantasy und zeigt, dass man auch mit ganz neuen Ideen begeistern kann. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Etwas schade sind die zum Teil seltsamen Übersetzungen von vermutlich in der Originalsprache besser funktionierenden Gaunerbegriffen (z.B. August, Täubchen). Ansonsten lässt sich "Das Lied der Krähen" aber flüssig lesen und bietet den perfekten Stoff für eine Verfilmung, die der Geschichte hoffentlich gerecht werden wird!



Fazit:

"Das Lied der Krähen" ist dank des düsteren Gangster-Setting, der vielschichtig entwickelten, ambivalenten Figuren, der fordernden, komplexen Handlung und dem Spannungsbogen voller sensationeller Überraschungen deutlich erwachsener und ausgereifter als die "Grischa-Trilogie" und konnte mich nach leichten Anfangsschwierigkeiten vollkommen überzeugen. Brutal, unvorhersehbar, originell und intensiv - ein erstes Highlight des noch jungen Jahres!

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