„Den Ungläubigen eine Dosis Glauben injizieren und den Gläubigen eine Dosis Skepsis“
Ich habe mit der Lektüre von „Der Geruch des Paradieses“ (viel!) mehr erhalten, als erwartet, und bin sehr begeistert. Gehofft hatte ich auf einen scharfsichtigen, gerne auch unterhaltsamen und gut lesbaren ...
Ich habe mit der Lektüre von „Der Geruch des Paradieses“ (viel!) mehr erhalten, als erwartet, und bin sehr begeistert. Gehofft hatte ich auf einen scharfsichtigen, gerne auch unterhaltsamen und gut lesbaren Einblick in das aktuelle Leben in der urbanen Türkei – die Leseprobe hatte diesen Blick versprochen, das Buch konnte das (mehr als) halten.
Der Leser begleitet Hauptperson Peri, Ehefrau und Mutter Mitte Dreißig in Istanbul, in ihr (Luxus-)Leben mit bockiger Teenie-Tochter, nie zufriedener Mutter, Terminen mit langweilig-oberflächlichen Geschäftspartnern des Ehemanns und dem allgegenwärtigen Chaos in Straßenverkehr und öffentlichem Raum. Soweit auch ein vertrautes westliches Thema, wäre da nicht die spezielle kulturelle Note – könnte man zuerst meinen; es kommt sogar einiges mehr; dazu dienen auch Rückblicke auf Peris Heranwachsen und Auslands-Studium mit den sie formenden Begegnungen und Erlebnissen, die schließlich in der Gegenwart kulminieren – die Erinnerung entzündet sich an einem Foto aus der Vergangenheit.
Über die Geschichte der Familie wird ein Teil der türkischen Geschichte angerissen: Peri erlebt ihre Eltern als finsteren Gegensatz „wie Schenke und Moschee“ S. 30 – der Vater Kemalist, dem Alkohol zugetan und weltlich veranlagt, fördert ihre akademische Bildung nach Kräften. Ein Bruch kommt mit der Verhaftung des ältesten Sohnes als angeblicher kommunistischer Terrorist – noch wird im System gefoltert. Der Vater braucht mehr Alkohol – die Mutter mehr Religion. Die Tochter ist „Schlachtfeld rivalisierender Weltanschauungen“; „Von allen unbemerkt, löschte sie ihr inneres Feuer, bis nur mehr Asche übrig war.“ S. 36. Am Rande werden bei der Mutter Depressionen angedeutet – so etwas gab es damals noch nicht; ein weiterer familiärer Verlust wird später enthüllt. Die Mutter ist zu abergläubisch, der Vater zu rational um Peri zu helfen – sie lernt, um Entschuldigung zu bitten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – niemanden zu verärgern. Aber auch so kann man enttäuschen.
Schon allein dieses Figurenbild ist schlüssig und beeindruckend gezeichnet – der Text geht weiter. Die Bildhaftigkeit der Sprache ist stark, pointiert, eingängig. Das Buch von 2016 ist auch mit seiner Gegenwart in diesem Jahr angesiedelt – Shafak erläutert den Wandel vom entspannten „Muslimus modernus“, der die Religion in die Moderne integrierte, ihr quasi den traditionellen Rahmen gab, zur heutigen Polarisierung der Gesellschaft in entweder streng religiös oder streng säkular – ohne Schnittpunkte (S. 145 f, weitere). Damit einher geht ein wahres Minenfeld speziell bezüglich weiblicher Verhaltensregeln.
Wir lesen vom Jungfräulichkeitsnachweis vor der Ehe (S. 259 „..die uralte Tradition, die den Wert einer Frau zwischen ihren Beinen suchte…“).
Wir erleben eine Übergriffigkeits-Bereitschaft („Im Nahen Osten gab es einen Typ Mann, der gereizt reagierte, wenn man seine sexuellen Avancen zurückwies, in dessen Augen man andererseits jedoch sofort an Wert verlor, sobald man leidenschaftlich auf seine Wünsche einging. Egal, ob die Frau ‚Nein‘ oder ‚Ja‘ sagte, sie verlor immer.“ S. 175).
Zwischen Geschäftsfrau oder Versorgungsehe, traditioneller Beziehung, partnerschaftlicher Ehe und „Trophy-Wife“ erweisen sich Frauen untereinander oft als am wenigsten solidarisch. „Frauen schauten. Betrachteten, taxierten, prüften, forschten offen und verdeckt nach den Schwachstellen der anderen Frauen.“ S. 18 Letzteres auch kein türkisches Privileg.
Ich konnte dem Feminismus nie viel abgewinnen, sehe aber im Beschriebenen leider Parallelen durchaus auch für Deutschland: Von den 70ern, 80ern mit den gleichen Schultaschen, Pullis, Legos für alle haben wir uns „weiterentwickelt“ zu rosa Prinzessinnen ODER grinsenden Autos. Wichtiger als „Girls Day“ scheint vielmehr der größte Schuhschrank zu sein – natürlich wird politische Wahlfreiheit bei uns möglich, geht aber in West-Europa gleichzeitig gern mit Wahlverweigerung einher.
Die Autorin wurde angefeindet als „das Türkentum verunglimpfend“ – ja, sie beobachtet, sie deckt auf, zeigt Mut gegen Widerstände – dennoch ist die von ihr gezeigte Polarisierung erschreckenderweise keine türkische Domäne: Über Brexit, die Positionierung zum Umgang mit Flüchtlingen oder aktuell Donald Trump haben sich weltweit mehrere Nationen und ganze Familien entzweit. Andere Themen gerieten und geraten dabei ins Abseits (für die Türkei sagt die Autorin im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2016 unter der Überschrift Das letzte Abendmahl des türkischen Großbürgertums „Wenn wir zurückgehen, wenn wir den Säkularismus verlieren, wenn Gesellschaften religiöser und fanatischer werden, werden Frauen eindeutig mehr verlieren als Männer." http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/elif-shafak-und-ihr-roman-geruch-des-paradieses-14473320-p3.html).
Gegen Ende des Buches, das ich schon so, allein, uneingeschränkt empfehlen würde, führt die Autorin noch einen Kunstgriff durch. Sie lässt dem Leser „die Möglichkeit, selbst zu denken“. Ja, die Möglichkeit: ich habe dieses Jahr schon einiges gelesen, was zu viel wollte und dadurch unentschlossen endete, einiges, das hinter dem Möglichen zurückblieb und anderes, was ich als überfordernd empfand. Elif Shafak ist da klüger: sie stellt uns mit Peri eine sehr normale Hauptfigur zu Seite – gute, bemühte Ehefrau, Mutter, Tochter – gelegentlich überfordert, lieber daheim in ihren Büchern. Keine Extremata – sie fastet am ersten und letzten Tag des Ramadan, nicht dazwischen – sie ist „eher“ säkularisiert, pflegt am Glauben „eher“ die Tradition – damit dürfte sie ein moslemisches, türkisches Gegenstück zu dem sein, wie von sehr vielen die christliche Religion im Westen auch eher an den Feiertagen gelebt wird, überraschend wenig fremd. Aber Peri ist komplexer: immer schon ist sie eher eine Suchende, Fragende, vielleicht Verwirrte: sie glaubt und zweifelt gleichzeitig, aber sie setzt sich in jedem Falle auseinander – was viele, gleich welcher Glaubensrichtung oder –intensität nicht (mehr) tun.
In Oxford befreundet Peri sich mit Mona, der gläubigen muslimischen Feministin und freiwilligen Kopftuchträgerin, sowie mit Shirin, der Feministin, die Position bezieht, gegen Autoritäten, speziell solche, die sich auf Religion beziehen, die drei setzen sich in der Wohngemeinschaft auseinander.
Das Faszinosum: man kann gerade diesen letzten Teil des Buches auf verschiedenste Art und Weise lesen, ohne dass man sich hier künstlich verbiegen muss. Man könnte wieder einmal diverse Philosophen entdecken wie in Professor Azars Seminar und zum Beispiel „Sofies Welt“ hervorkramen. Auch in einem kirchlichen (oder besser noch, interkonfessionellen) Lesekurs würde sich Shafaks Buch wohlfühlen, zu Gottesbildern, zu Methoden und Wegen der Annäherung an Gott, zum Unterschied zwischen Gott und Religion – wobei man auch allein nachdenken kann: über die drei Frauen als mögliche Prototypen von Muslimas – oder Gläubigen generell, darüber, ob man (Frauen? Moslems? die „westliche Welt“) eindeutiger Position beziehen muss – wie Mona oder Shirin, nicht wie Peri? Oder ob gerade Peris Position die bessere ist – oder gerade nicht? Ob es funktioniert, so ein Sozialexperiment, bei dem die unversöhnbaren Seiten aufeinander zu gezwungen werden?
Elif Shafak bietet keine einfachen Lösungen, vorverurteilt nicht - und fordert vermutlich gerade dadurch heraus. Ein Gewinn, wenn man es zulässt.