Eine raffiniert komponierte, interessante und unterhaltsame Gesellschaftsstudie...
Die Autorin entführt uns mit ihrem Debütroman auf die vorwiegend von Russen, aber auch von Ureinwohnern bewohnte russische Halbinsel Kamtschatka.
Wir lernen zwei Bevölkerungsgruppen kennen, die nicht ...
Die Autorin entführt uns mit ihrem Debütroman auf die vorwiegend von Russen, aber auch von Ureinwohnern bewohnte russische Halbinsel Kamtschatka.
Wir lernen zwei Bevölkerungsgruppen kennen, die nicht immer wohlgesonnen nebeneinander her leben, sich nicht selten argwöhnisch gegenüber stehen und vor Konflikten und Vorurteilen nicht gefeit sind.
Julia Phillips erzählt, ausgehend vom Verschwinden zweier Schwestern in dieser dünn besiedelten Region, wortgewaltig einige spannende Geschichten, die mal mehr, mal weniger mit dieser Ausgangsgeschichte zu tun haben und in denen es um starke Frauen geht, die sich in der patriarchalen Gesellschaft Kamtschatkas behaupten und ihren Platz finden wollen.
Wir lesen aber auch von den Schwierigkeiten der benachteiligten Ureinwohner, von den Gefahren, denen Homosexuelle ausgesetzt sind, von emotionaler Zerrissenheit und von innerer Isolation.
Die Autorin legt verschiedene Puzzleteile auf den Tisch und lässt nach und nach ein überwiegend düsteres Bild daraus entstehen, in dem man aber auch Hoffnungsschimmer und Lichtblicke erkennen kann.
Die Geschichte der beiden Mädchen bildet dabei den Rahmen, kann aber auch als Zentrum gesehen werden, um das sich alles andere rankt.
Kunstvoll und raffiniert verwebt Julia Phillips die Einzelstücke nach und nach zu einem Ganzen.
An einem sonnigen Augustnachmittag verschwinden Sofija und Aljona spurlos, nachdem sie zu einem Fremden ins Auto gestiegen sind.
Dieses Ereignis bewegt und bestürzt die Bevölkerung und weckt Erinnerungen an ein Mädchen, das vor fast drei Jahren ebenfalls verschollen ist.
Die Ermittlungen der Polizei erscheinen nachlässig und fast schon gleichgültig.
Bereits im Prolog beweist die amerikanische Schriftstellerin, die ein Jahr lang auf dieser Halbinsel gelebt hat, ihr Feingefühl für zarteste Schwingungen und Spannungen in diesem fremden und noch jungen Staat.
Sie seziert die postsowjetische Gesellschaft am Beispiel dieser arktischen Region, die fernab der Metropole Moskau liegt und erzählt ungeschönt, klar und ohne Umschweife von den Lebensumständen ihrer Figuren und von den Besonderheiten und Strukturen dieser Kultur.
Sie zeichnet ihre Charaktere vielschichtig, so dass sie authentisch wirken und man sich ihnen nahe fühlt.
Auch die beeindruckende Landschaft mit ihrer überwältigenden Natur in der Weite der Tundra beschreibt sie anschaulich, so dass sie vor dem geistigen Auge zum Leben erweckt wird.
Ich empfehle diesen wunderbaren, herausragenden und außergewöhnlichen Debütroman der 1988 geborenen Julia Phillips sehr gerne.
Er stand auf der Shortlist des National Book Award 2019 und hat mich berührt und tief beeindruckt.
Er ist übrigens meines Erachtens bei weitem kein Thriller, eine Vermutung, die durch den Klappentext bzw. durch ein Zitat auf der Rückseite des Buches geschürt werden könnte, sondern viel eher eine fesselnde, unterhaltsame, informative und damit bereichernde Gesellschaftsstudie mit Thrillerelementen, die auf den letzten Seiten für erhebliche Spannung und Überraschung sorgen.
Es ist ein gelungenes Porträt einer männerdominierten Gesellschaft nach dem Zusammenbruch und während ihres Wiederaufbaus.
Der Zusammenbruch ist noch nicht verdaut und die Wiederherstellung bzw. Neuformation vollzieht sich mühsam und schleppend.