Ich hätte mir etwas mehr Tiefe gewünscht
Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019Zwölf Schicksale, die sich zu einer großen Geschichte verbinden. Zwölf Frauen, alle haben afrikanische Wurzeln, und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Da wäre zum Beispiel Amma, die offen zu ...
Zwölf Schicksale, die sich zu einer großen Geschichte verbinden. Zwölf Frauen, alle haben afrikanische Wurzeln, und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Da wäre zum Beispiel Amma, die offen zu ihrer Homosexualität steht und diese nun auch in einem Theaterstück im London National Theater inszeniert; Megan, die zu Morgan wird; Penelope, die sich ein Leben lang gefragt hat, wer wohl ihre Eltern sind; Dominique, deren Partnerin sie ihrer persönlichen Freiheit beraubt. Die Art und Weise, wie es Evaristo gelingt, die Leben all dieser Figuren miteinander zu verknüpfen, ist faszinierend - die Tochter einer Frau ist zugleich die Schülerin der anderen, von dieser wiederum lassen sich die Fäden weiterverfolgen zu ihrer Mutter und ihrer Putzfrau, usw.
Jeder der Frauen ist ein Kapitel gewidmet, im Zentrum steht jeweils das, was sie ausmacht, das Problem, mit dem sie in ihrem Leben zu kämpfen hat, das, was sie von der Masse abhebt und zum Individuum macht. Oft haben die Frauen Erfahrung mit Diskriminierung gemacht, mit Ausgrenzung und Anfeindung aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Sexualität, ihrer Genderidentität. Und genau dies sind auch die Themen, die im Mittelpunk des Romans stehen. Es geht um Herkunft, Schwarz-Sein, Homosexualität, Zugehörigkeit und die Suche nach demjenigen, der man ist und als der man sich fühlt. Und zugleich geht es auch einfach um Geldsorgen, das Erwachsen-Werden und um Freunschaft. Kurz - es geht ums Leben.
Der Schreibstil ist dabei ein wirklich außergewöhnlicher. Bis auf Kommata wird vollständi auf Interpunktion verzichtet, stattdessen arbeitet Evaristo mit Zeilenumbrüchen und Absätzen, bei normalem Erzähltext ebenso wie bei wörtlicher Rede. Das mag am Anfang seltsam und vielleicht auch störend wirken, man gewöhnt sich jedoch schon nach wenigen Seiten daran und merkt es kaum mehr, auch den Lesefluss stört es nicht weiter. Manchmal eröffnet es im Gegenteil auch ganz neue Perspektiven auf einen Satz, wenn der Zeilenumbruch anders gesetzt wird, als man es vielleicht erwarten würde.
Meine Kritik besteht insbesondere darin, dass mich nicht alle Figuren gleichermaßen berühren konnten. Zwei oder drei haben mir sehr, sehr gut gefallen, die meisten anderen waren aber trotz der Undurchschnittlichkeit ihrer Leben und ihres Charakters eher durchschnittlich überzeugend. Ich denke, das Buch will einfach etwas zu viel. Es gibt zu viele Themen und zu viele Figuren für zu wenig Seiten. Denn ja, das Buch hat zwar über 500 Seiten, aber auf die einzelnen Frauen kommen dann im Schnitt gerademal etwa 40 Seiten, und das ist zu wenig, um ihnen wirklich gerechtwerden zu können. Zu oft, wenn ich mir noch etwas mehr Tiefe gewünscht hätte, hat das Buch kaum die Oberfläche durchdrungen. An einigen Stellen ergeben sich Längen, die man hätte aussparen können, um dafür an anderer Stelle einen detaillierteren Einblick zu geben.
Fazit: Das Buch ist durchaus interessant, es ist gut geschrieben, geschickt konstruiert und spricht viele wichtige Themen an. Mich konnte es dennoch nicht ganz überzeugen, ich hatte etwas mehr erwartet. Vielleicht hätte etwas weniger Breite und dafür mehr Tiefe dem Roman gutgetan.