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Veröffentlicht am 31.01.2021

Wie Blanches Lebenswerk Solènes Zukunft verändert

Das Haus der Frauen
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Der Selbstmord eines Mandanten nach einer verlorenen Verhandlung lässt die Anwältin Solène zusammenbrechen. Nach einer stationären Behandlung in der Psychiatrie folgt sie der Empfehlung ihres Arztes und ...

Der Selbstmord eines Mandanten nach einer verlorenen Verhandlung lässt die Anwältin Solène zusammenbrechen. Nach einer stationären Behandlung in der Psychiatrie folgt sie der Empfehlung ihres Arztes und nimmt ehrenamtlich eine Tätigkeit als Schreiberin im Pariser „Palast der Frauen“ an. Nach und nach lernt sie die unterschiedlichsten Schicksale der dort Zuflucht suchenden Frauen kennen, während sie diese bei ihrer anfallenden Korrespondenz unterstützt. Nebenbei erfährt sie viel über die Geschichte des „Palastes“, der 1925 von der lungenkranken 58-jährigen Blanche Peyron ins Leben gerufen wurde. Peyron fühlt sich als Tochter eines Pfarrers schon bald dazu berufen, den schwächsten Gliedern der Gesellschaft Hilfestellung zu bieten und richtet ihr ganzes Leben darauf aus. Auch Solène erkennt bald, wie befriedigend und heilend die Kraft der Hilfeleistung und Unterstützung sich auf ihr eigenes Leben auswirkt…
Laetitia Colombani hat mit „Das Haus der Frauen“ einen unterhaltsamen Roman mit historischem Anstrich vorgelegt, der auf wahren Begebenheiten fußt. Der flüssige und farbenfrohe Erzählstil umgarnt den Leser und erlaubt ihm, durch wechselnde Perspektive mal an der Seite von Solène in der Gegenwart, mal an der Seite von Blanche Peyron in der Vergangenheit zu verweilen und sich in das Schicksal der beiden Frauen näher zu vertiefen. Die sehr gute Recherche der Autorin lässt die Vergangenheit um Blanche und die Gründung des „Palais de la Femme“ sehr bildhaft vor dem Auge des Lesers entstehen, der noch heute in der Rue de Charonne auf der Ile-de-France in Paris ansässig ist. Dabei lässt sie eine starke unkonventionelle Frau wieder lebendig werden, die ihr Leben der Unterstützung Hilfesuchender gewidmet hat und für diese selbstlos kämpft. Die Einzelschicksale der Frauen, die das Haus in der Gegenwart bewohnen, sowie das von Solène lassen den Leser ebenfalls nicht kalt, geht es doch um Flucht, Einwanderung, zurückgelassene Kinder, Missbrauch und vieles mehr. Auch heute bieten Häuser wie der „Palais de la Femme“ Frauen weltweit Unterschlupf, um sich sicher zu fühlen und in Ruhe ihr zukünftiges Leben in Angriff nehmen zu können. Gegenwart und Vergangenheit sind wohlgefällig miteinander verknüpft, zeigen die Veränderungen im Leben der einen Frau, die in dem Wirken der anderen ihren Ursprung haben. Einzig die mangelnde Emotionalität macht diesen Roman eher zu einer Handlung, die den Leser auf Distanz hält und nicht so sehr mitfühlen lässt.
Die gezeichneten Charaktere sind facettenreich gestaltet und überzeugen glaubwürdig mit ihren menschlichen Eigenschaften. Der Leser erlebt die unterschiedlichsten Protagonistinnen, die ihr Schicksal auf ganz eigene Art meistern, jedoch bleibt ihm nur der Posten eines Beobachters. Solène war bis zu einem Schicksalsschlag eher vom Leben begünstigt, was ihr trotzdem kein Glück bescherte. Zu Anfang etwas zurückhaltend entwickelt sich Solène mit den täglichen Begegnungen im Frauenhaus immer mehr als eine hilfsbereite Person, die für andere einsteht und sie unterstützt. Obwohl selbst krank, unterdrückt Blanche ihre Schwäche mit dem Tatendrang und dem Kampf für Bedürftige und Hilfesuchende. Sie ist eine starke, unkonventionelle und selbstlose Frau. In ihrem Ehemann Albin hat sie das perfekte Gegenstück gefunden, ist er doch fortschrittlich und vor allem entgegenkommend, wenn es um die Bedürfnisse seiner Frau geht. Aber auch die Binta, Renée, Salma, Iris oder Cynthia bringen einiges an Farbe in die Handlung.
„Das Haus der Frauen“ ist ein gelungener Mix aus gut recherchierter Historie verknüpft mit der Gegenwart. Die Thematik ist auch heute aktueller denn je und gerade deshalb sollte man dieses Buch lesen. Obwohl unterhaltsam erzählt, regt es zum Nachdenken an. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 23.01.2021

Auch ein Weltmeer kann Familienbande nicht trennen

Weiter als der Ozean
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1909 London. Edna McAlister lebt mit ihren Zwillingen Kathie und Garth sowie der jüngsten Tochter Gracie über einer Näherei, wo sie nach dem Tod ihres Ehemannes mehr schlecht als recht für das Familienauskommen ...

1909 London. Edna McAlister lebt mit ihren Zwillingen Kathie und Garth sowie der jüngsten Tochter Gracie über einer Näherei, wo sie nach dem Tod ihres Ehemannes mehr schlecht als recht für das Familienauskommen arbeitet. Ihre älteste Tochter Laura trägt mit ihrer Anstellung als Dienstmädchen auf dem Land zum Unterhalt bei. Doch dann wird Edna schwer krank und muss ins Krankenhaus. Aufgrund einer unüberlegten Tat von Garth steht plötzlich die Polizei in der Wohnung und bringt die drei Kinder ins Waisenhaus, um sie von dort nach Kanada zu verbringen, wo sie in unterschiedlichen Familien untergebracht und dort zur Arbeit herangezogen werden. Als Laura aufgrund der Nachricht bezüglich der Krankheit ihrer Mutter nach London eilt, sind ihre Geschwister bereits weg. Laura setzt alles daran, ihre Geschwister aus Kanada zurückzuholen und erhält Unterstützung durch den Sohn ihres ehemaligen Dienstherren, den Anwalt Andrew Frasier, der gemeinsam mit seinem Kanzleipartner von der Regierung dazu aufgefordert wurde, der Kinderverschickung auf den Grund zu gehen…
Carrie Turansky legt mit „Weiter als der Ozean“ einen gefühlvollen historischen Roman basierend auf wahren Begebenheiten vor. Der flüssige, berührende und farbintensive Erzählstil lässt den Leser in das erste Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts reisen, um dort Laura und das Schicksal ihrer Familie sowie vieler anderer Kinder kennenzulernen. Empathisch, aber auch unterhaltsam, schildert die Autorin dem Leser, dass im damaligen England Waisenkinder nach Kanada verschickt wurden, um dort Aufnahme in neuen Familien zu finden. Mal fanden sie dort wirklich Familienanschluss, doch viele von ihnen wurden auch misshandelt oder als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viel schlimmer jedoch mutet die Tatsache an, dass Kinder aus Familien verschickt wurden, die ein liebevolles Zuhause besaßen und deren Familie gerade in einer finanziellen oder krankheitsbedingten Notlage waren, ohne die Eltern zu informieren und so auseinanderzureißen, ganz zu schweigen davon, dass die leiblichen Eltern kaum Möglichkeiten hatten, ihre Kinder zurückzubekommen. Dies ist auch Tatbestand in dieser Geschichte und lässt beim Leser neben einer Achterbahn der Gefühle auch Fassungslosigkeit aufkommen. Fürsorgepflicht des Staates ist gut und richtig, sollte aber so stattfinden, dass Familien die Chance haben, wieder zusammenzufinden, wenn sich die Umstände geändert haben. Der christliche Aspekt spielt in diesem Buch ebenfalls eine Rolle, die nach Beistand suchenden kleinen Gebete der Protagonisten sowie das Vertrauen in Gott sind sehr schön den jeweiligen Situationen angepasst. Am Ende fügt sich einiges zusammen, schade nur, dass man nicht erfährt, was aus Gracie geworden ist.
Lebendige Charaktere mit glaubhaft menschlichen Zügen nehmen den Leser schnell für sich ein und lassen ihn hautnah an den einzelnen Schicksalen teilhaben. Laura ist eine fürsorgliche und liebevolle Frau, die manchmal nicht unbedingt die richtigen Mittel wählt, um ans Ziel zu kommen, jedoch aus hehren Motiven handelt. Sie behält ihr Ziel im Auge, lässt sich nicht entmutigen und zeigt viel Liebe für ihre Familie. Kathie ist zwar ein Teenager, doch wirkt sie in vielem schon sehr erwachsen. Ihr Schicksal geht einem richtig zu Herzen, während ihr Zwillingsbruder mehr Glück hatte und schon die kurze Aufenthaltsspanne ihn wie einen Mann wirken lassen. Andrew ist ein ehrlicher und empathischer Mann, der sich dem Recht verschrieben hat, ebenso sein Partner Henry Doubt. Und Rose wird Laura eine herzlich zugeneigte Freundin.
„Weiter als der Ozean“ ist historisch aufbereitetes Zeitzeugnis anhand von wahren Begebenheiten und einem ergreifenden Familienschicksal, wobei auch die Liebe nicht zu kurz kommt. Trotz schwierigem Thema besticht die Geschichte durch ihre leichte Erzählweise. Wirklich empfehlenswerte Lektüre!

Veröffentlicht am 23.01.2021

Billie Walkers erster Fall

Die Jägerin
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1946 Sydney. Nach Kriegsende führt die Journalistin Billie Walker gemeinsam mit ihrem Assistenten Sam die Privatdetektivagentur ihres verstorbenen Vaters weiter. Noch mangelt es an zahlungskräftigen Kunden, ...

1946 Sydney. Nach Kriegsende führt die Journalistin Billie Walker gemeinsam mit ihrem Assistenten Sam die Privatdetektivagentur ihres verstorbenen Vaters weiter. Noch mangelt es an zahlungskräftigen Kunden, denn die wirtschaftliche Lage hat sich noch nicht erholt, aber der Auftrag einer aus Deutschland geflüchteten, wohlhabenden Frau erregt ihre Aufmerksamkeit. Mrs. Brown vermisst ihren 17-jährigen Sohn Adin, der seit 2 Tagen wie vom Erdboden verschluckt ist. Billie kommen die Aussagen der verstörten Mutter irgendwie suspekt vor, ihre Neugier ist geweckt. So macht sie sich mit Sam daran, Adin aufzuspüren, doch je mehr sie den Spuren folgen und Hinweisen nachgehen, umso merkwürdiger wird der Fall. Schon bald erregt ihre Suche Aufmerksamkeit und bringt sie in Gefahr…
Tara Moss hat mit „Die Jägerin“ einen sehr unterhaltsamen historisch angehauchten Kriminalroman vorgelegt, der nicht nur für Spannung sorgt, sondern auch einiges an Informationen zur australischen Gesellschaft und Kultur beiträgt. Der locker-flüssige und bildhafte Erzählstil nimmt den Leser sofort für sich ein und lässt ihn eine Zeitreise antreten, um sich in der Nachkriegszeit am anderen Ende der Welt wiederzufinden und sich einen Platz in Billies Privatdetektei zu ergattern, um ihr bei den Ermittlungen über die Schulter zu sehen. Über die Lebensumstände in Australien nach dem Krieg setzt die Autorin den Leser ebenso gut ins Bild wie über die Ureinwohner des Kontinents, die aufgrund von Regierungserlassen ihrer Kinder beraubt wurden, damit diese nicht nur in einer ihnen unbekannten Religion unterwiesen werden sollten, sondern auch als preiswerte Arbeitskräfte missbraucht wurden, um die die Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Auch die Ermittlungsarbeit von Billie Walker ist recht unkonventionell, tritt sie doch nach außen eher wie eine wohlhabende Femme fatal auf und blendet damit ihr Umfeld, während ihr messerscharfer Verstand jede Einzelheit registriert und ihre feuerroten Lippen so manchen zu Auskünften verleiten, die sie gebrauchen kann. Ihre Zusammenarbeit mit Sam, der Aborigine Shyla und Detective Hank Cooper ist interessant gestrickt und lässt aus dem ursprünglichen Suchauftrag noch einen zweiten entspringen, nämlich Shyla zu helfen. Die beiden parallel laufenden Fälle pushen die Spannung immer weiter in die Höhe, wobei auch die teils doch sehr zwielichtigen Gesellen beitragen, die sich in der Nachkriegszeit zu Hauf tummeln, um andere auszunehmen und sich zu bereichern.
Ihre Charaktere hat Moss gut ausgestaltet in Szene gesetzt, der damaligen Zeit angepasst und mit glaubwürdigen Eigenschaften versehen. Es macht Spaß, ihnen als Leser bei den Ermittlungen zu folgen und der Auflösung entgegenzufiebern. Billie ist eine selbstbewusste, attraktive Frau mit Sinn für Mode und Esprit. Sie becirct die Männer mit ihrem Charme, doch kann sie auch knallhart und unbeugsam sein, vor allem aber hat sie eine gute Spürnase und lässt sich so schnell nichts vormachen. Sam ist Billie ergeben und ihr eine große Hilfe bei ihrer Spurensuche. Shyla entstammt den Aborigines und musste schon so einiges ertragen. Sie fungiert als Billies Informantin, ist jedoch selbst auf der Suche. Hank Cooper ist ein intelligenter Polizist, der sich Billies Charme nur schwer entziehen kann.
„Die Jägerin“ überzeugt mit einem interessanten und spannungsgeladenen Plot, während er gleichzeitig einiges an gesellschaftlichen und historischen Details Australiens liefert. Fesselnder Erzählstil lässt die Seiten durch die Finger rinnen, während man auf das Ende zurast. Sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 16.01.2021

"Eines Tages schwimmt die Wahrheit doch nach oben. Als Wasserleiche." (Wieslaw Brudzinski)

Die Schwimmerin
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1962 Essen. Nach den schlimmen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg sieht Betty (Elisabeth) nun ihrer Hochzeit mit dem wohlhabenden Martin entgegen, fest entschlossen, die alten schweren Zeiten hinter sich ...

1962 Essen. Nach den schlimmen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg sieht Betty (Elisabeth) nun ihrer Hochzeit mit dem wohlhabenden Martin entgegen, fest entschlossen, die alten schweren Zeiten hinter sich zu lassen und nach vorne zu sehen. Schon viele Jahre frönt Betty dem Schwimmsport, in dem sie ihren Ausgleich findet. Sie streift im Wasser ihre alte Haut ab, um für die kommenden Herausforderungen gewappnet zu sein. Bei einem ihrer Schwimmausflüge begegnet ihr ein junges Mädchen, das in ihr sofort eine Saite zum Klingen bringt, wirkt es doch merkwürdig vertraut auf sie. Schon bald heftet sich dieses Mädchen an Bettys Fersen und setzt sie sogar unter Druck. Betty wird von ihrer Vergangenheit eingeholt, es bleibt ihr gar keine andere Wahl, als sich dieser entgegenzustellen, wenn sie überleben und ihr Glück einfordern will…
Gina Mayer hat mit „Die Schwimmerin“ einen unterhaltsamen und spannenden Roman vorgelegt, der historischen Hintergrund mit einer Geschichte voller Geheimnisse und verdrängten Schicksalsschlägen sehr gut miteinander verbindet. Mit flüssigem, bildgewaltigem und tiefgründigem Erzählstil gewährt die Autorin dem Leser nicht nur Einblick in Bettys ereignisreiche Vergangenheit, sondern lässt ihn auch an ihrem gegenwärtigen Leben teilhaben, das immer noch mit den Belastungen von früher behaftet ist und darauf drängt, diese endlich abzustreifen. Über zwei Zeitebenen taucht der Leser mal in Bettys Vergangenheit der Jahre 1942 bis 1946 ein, mal in ihre Gegenwart des Jahres 1962, wobei die Geschichte auch immer mehr an Fahrt gewinnt, während die alten Geheimnisse nach und nach aufgedeckt werden und Bettys Dilemma deutlich machen. Ihre Gefühlswelt ist sehr gekonnt dargestellt und lässt den Leser oftmals schlucken und den Atem anhalten ob des persönlichen Schicksals. Geschickt unterstreicht die Autorin ihre jeweiligen Handlungsstränge mit dem eingewebten historischen Hintergrund, der nicht nur die Kriegsjahre und die Judenverfolgung aussagekräftig wiederspiegelt, sondern auch den 60er Jahren ein authentisches Bild verleiht.
Mit ihrer Protagonistin Betty (Elisabeth) hat Gina Mayer eine Persönlichkeit erschaffen, die den Leser von Anfang an einfängt und an sich bindet. Glaubhafte Eigenschaften lassen sie authentisch und realitätsnah wirken, so dass sich das Band zum Leser immer mehr verstärkt, auch wenn man nicht all ihre Beweggründe gutheißt. Als junges Mädchen erlebt man Betty erst offen und unbeschwert, die Kriegserlebnisse lassen sie zur Kämpferin werden, die sich durchbeißen und immer wieder Rückschläge einstecken muss. Nach dem Krieg verschließt sie die Erlebnisse und versucht, nach vorne zu sehen und sich ihr Glück selbst zu nehmen, was ihr jedoch nicht gelingt. Ihrem Umfeld gegenüber verhält sie sich immer zurückhaltender und wirkt unterkühlt. Dabei brodelt es unter ihrer Oberfläche und lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Die von ihr errichteten inneren Mauern wackeln immer mehr und stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Erst die Konfrontation macht aus ihr wieder eine Frau, die frei atmen kann und beim Schwimmen nicht mehr „untertauchen“ muss.
„Die Schwimmerin“ überzeugt durch mit einer tiefgründig verwebten Geschichte vor historischem Hintergrund und einem realistischen Frauenschicksal, das einen gefühlsmäß9g durchweg mitnimmt. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 16.01.2021

Eine Geschichte, die das Leben schrieb

Marta
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1984 Polen. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Zwillingsbruder Tomek sowie wenigen Habseligkeiten flieht die 15-jährige Marta auf illegale Weise aus dem kommunistischen Polen nach Westdeutschland, um ...

1984 Polen. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Zwillingsbruder Tomek sowie wenigen Habseligkeiten flieht die 15-jährige Marta auf illegale Weise aus dem kommunistischen Polen nach Westdeutschland, um endlich der Unterdrückung durch das Regime und der Mangelwirtschaft zu entkommen. Da sie kein Deutsch spricht, fällt Marta das Einleben schwer. Nur ihre Mutter beherrscht die Sprache, doch ihre Vergangenheit bleibt lange ihr Geheimnis. Mit Fleiß und Zielstrebigkeit schließt Marta ihr Studium ab und tritt eine Stelle als Ärztin in der Schweiz an, der für sie wiederum einen Neuanfang darstellt. Während ihrer weiterführenden Psychiaterausbildung spürt Marta nach und nach einige Geheimisse ihrer Mutter auf und erkennt dabei die Gründe ihres eigenen Wesens…
Monika Hürlimann hat mit „Marta, Heimat in Polen, Deutschland und der Schweiz“ einen interessanten historischen Roman vorgelegt, der an ihre eigene Biografie angelehnt ist und die Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges sowie ein ungewolltes Nomadenleben beschreibt. Der flüssige und bildhafte Erzählstil packt den Leser schon mit wenigen Worten und lässt ihn gemeinsam mit Marta eine unstete und harte Reise antreten, an deren Ende einige Erkenntnisse warten, die Erklärungen bieten in Bezug auf familiäre Ereignisse, die den Nährboden für Martas Entwicklung legten. Die gewählten Zeit- und Ortssprünge sind zu Beginn recht verwirrend, doch gibt sich das mit dem Fortgang der Geschichte. Die Autorin gewährt dem Leser einen guten Einblick über die damaligen Lebensbedingungen in einem kommunistisch geführten Land, das seine Bürger gängelt, kommandiert und an der straffen Leine hält. Das Anstehen für mangelnde Waren, um den Grundbedarf des täglichen Lebens zu sichern, sind Teil des täglichen Lebens und für viele kaum zu ertragen. Neben illegaler Landflucht ist auch die Rolle der Frau zur damaligen Zeit ein Thema in dieser Geschichte, denn Marta wird schon früh herangezogen, um die berufstätige Mutter bei vielem zur Hand zu gehen, während ihr Zwillingsbruder keinen Finger rührt, jedoch die besten Essensportionen für sich beanspruchen kann. Schon hier wird deutlich, wie wenig Selbstwertgefühl die Gesellschaft den Frauen zugestand und die Männer hofierten. Erst als Marta sich durch ihre Ausbildung und anschließende Berufstätigkeit mehr und mehr freischwimmt von alten Zöpfen und sich auf die Spur nach den Geheimnissen ihrer Mutter begibt, lernt sie sich selbst besser zu verstehen.
Die Charaktere sind gut und realistisch in Szene gesetzt, bereiten mit ihren glaubhaften menschlichen Ecken und Kanten den Weg für die Nähe zum Leser, der ihr Schicksal aufmerksam verfolgt und mitfiebert. Marta zeichnet sich nicht nur durch Fleiß, Ehrlichkeit und Willensstärke aus, sondern besitzt zudem ein einnehmendes Wesen, das ihr einen Platz im Herz des Lesers sichert. Mit Kampfgeist und Disziplin ebnet sie sich ein Leben in Sicherheit und stellt sich den Geistern der Vergangenheit. Tomek ist ein verzogener Kerl, der sich von hinten bis vorne bedienen lässt und damit dem damaligen Männerbild entspricht. Während Marta für die Aufmerksamkeit der Mutter kämpfen musste, besaß er sie im Übermaß und hat dies weidlich ausgenutzt. Auch diese hat Marta eher als kostenlose Arbeitskraft gesehen und sie sonst weitgehend ignoriert, was einer Mutter nicht würdig ist.
„Marta, Heimat in Polen, Deutschland und der Schweiz“ ist ein persönlicher Erfahrungsbericht, der sich an die Biografie der Autorin anlehnt und einen guten Einblick in ein hartes, entbehrungsreiches Leben bietet sowie die Aufdeckung und Aufarbeitung alter Familiengeheimnisse, die das eigene Leben dauerhaft prägen. Verdiente Leseempfehlung für eine miterlebbare Geschichte!