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Veröffentlicht am 17.02.2021

Eine literarische Perle...

Im Fallen lernt die Feder fliegen
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Bereits der erste Roman des 1971 geborenen irakisch-schweizerischen Schriftstellers Usama Al Shahmani, „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, hat mich begeistert und auch sein zweites Werk habe ich ...

Bereits der erste Roman des 1971 geborenen irakisch-schweizerischen Schriftstellers Usama Al Shahmani, „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, hat mich begeistert und auch sein zweites Werk habe ich nach einigen erfüllenden Lesestunden zufrieden zugeklappt.
Was für eine beeindruckende und berührende Geschichte!

Die junge Irakerin Aida, die Erzählerin dieser Geschichte, arbeitet in einer Bibliothek und hat seit neun Jahren einen festen Freund, mit dem sie inzwischen zusammenlebt.
Aida ist frei und unabhängig. Sie lebt selbstbestimmt und könnte, von außen betrachtet, mit ihrem Leben zufrieden sein.
Aber über ihrem Leben schwebt eine düstere Wolke. Sie spricht nicht über ihre Herkunft. Sie wirkt unnahbar, innerlich ambivalent, suchend und nicht angekommen.
Ihr Freund Daniel, ein Schweizer Ethnologiestudent, interessiert sich für ihre Vergangenheit und stellt viele Fragen, aber der Zeitpunkt, um über das Belastende und Traumatische zu reden muss der Richtige sein.
Immer wieder streiten die beiden wegen ihres Schweigens.
Manchmal ist Schreiben einfacher als Reden und genau deshalb beginnt Aida eines Tages, das Unsagbare niederzuschreiben.
Sie beschließt, sich schreibend mit Schmerz, Trauer und Verlust, auseinanderzusetzen.
Aber nicht streng chronologisch, sondern eher ihren springenden Gedanken und aufblitzenden Assoziationen folgend.

Wir lernen eine irakische Flüchtlingsfamilie kennen.
Die Eltern sind 1991 aus politischen Gründen aus dem Irak in die Schweiz geflohen.
Wehmut und Heimweh haben sie niemals verlassen.
Der Vater, ehemaliger Landwirt und konservativer Theologe, hat Schwierigkeiten, sich einzugliedern und auch die Mutter verweigert letztlich die Anpassung.
Sie überwinden die Sprachbarriere nicht, was Schritt für Schritt in den sozialen Abstieg führt.
Nach dem Sturz Saddams und dem Ende der Diktatur beschließen die, wieder in ihr über die Zeit verklärtes Heimatdorf am Euphrat zurückzukehren.
Es ist ein Entschluss, der ihre beiden halbwüchsigen Töchter Nosche und Aida erschüttert und schockiert, weil die Schweiz ihr Zuhause ist.
Sie gehen dort zur Schule, sie haben dort ihre Freunde.
Sie wollen nicht in einem fremden und männerdominierten Land leben, in dem das Kopftuch unumgänglich und die Religion derart mächtig ist.

Als die ältere der beiden Schwestern in dem irankischen Dorf verheiratet werden soll, wachsen Unmut und Rebellion.
Sie fürchten um ihre Freiheit und um ihre Selbstbestimmung und beschließen, heimlich in ihre Heimat Schweiz zurückzukehren.
Die riskante Flucht gelingt den beiden, aber kaum in der Schweiz angekommen, passiert etwas Schreckliches.
Die jüngere Schwester Aida ist nun, mit nur 16 Jahren, auf sich allein gestellt...

„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist ein gleichermaßen zarter und feinfühliger wie bild- und wortgewaltiger Roman über Heimatgefühl und Heimatverlust, Zugehörigkeitsgefühl, Herkunft, Integration, Freiheit, Flucht, Ankommen und Beziehungen.
Die Sprache ist, ebenso wie im Vorgängerroman, bildhaft und poetisch.
Ich genoss es, in die Geschichte und in die Sprache einzutauchen

Ich empfehle dieses bereichernde und unterhaltsame, tiefgründige und vielschichtige, gefühlvolle aber zu keinem Zeitpunkt kitschige, klischeehafte oder gefühlsduselige zweite Werk von Usama Al Shamani, der 2002 mit Anfang 30 wegen eines regimekritischen Theaterstücks aus dem Irak flüchten musste, sehr gerne weiter.






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Veröffentlicht am 09.02.2021

Ein tiefgründiger und unterhaltsamer Roman über Beziehungen...

MUTTERS PUPPENSPIEL. ROMAN
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In diesem Roman mit dem originellen, grellen und aussagekräftigen Cover, dreht sich alles um Lisette Dornbusch, ihr Innenleben und ihre Beziehungen: zur Mutter, zum Vater, zu Männern, zu Freundinnen.

Die ...

In diesem Roman mit dem originellen, grellen und aussagekräftigen Cover, dreht sich alles um Lisette Dornbusch, ihr Innenleben und ihre Beziehungen: zur Mutter, zum Vater, zu Männern, zu Freundinnen.

Die Ich-Erzählerin Lisette Dornbusch, eine 38-jährige HNO-Ärztin, die ihrer 57-jährigen Mutti Frau Dornbusch gefallen und sie durch nichts erzürnen möchte, besucht diese jeden Sonntag zum Nachmittagskaffee, der immer nach dem gleichen Schema abläuft.
Dieser sonntägliche Termin ist ein regelrechtes Kammerspiel, in dem die Mutter Regie führt, bzw. in dem Lisette ihrer Mutter die Rolle überlässt, Regie zu führen.

Um bestimmte Kleidungsstücke muss ein Bogen gemacht, bestimmter Schmuck muss getragen und bestimmte Themen müssen umschifft werden, damit die Mutter zufrieden ist.

Frau Dornbusch senior braucht das Gefühl, eine dankbare, demütige und sie hofierende Tochter zu haben, um im Gleichgewicht zu sein.

Die Tochter muss sich unterwerfen und klein machen, damit sich die Mutter, eine Frau mit narzisstisch-histrionischer Persönlichkeitsstruktur, nicht nur gleichwertig, sondern überlegen fühlen kann.
Die Mutter der Protagonistin geht bewertend und missgünstig durch die Welt und spart nicht mit Vorurteilen und Bosheiten, um Bedrohungen oder Ängste, die ihre innere Welt destabilisieren könnten, abzuwehren.
Sie ist bevormundend und vereinnahmend, herablassend, selbstherrlich und selbstgefällig. Definitiv keine Frau, die man zur Mutter, Partnerin oder Freundin haben möchte.

Lisette, die als Einzelkind in großem materiellen Luxus groß geworden ist, hatte nicht nur von Kindesbeinen an mit dieser kontrollierenden, abwertenden und eitlen Mutter, sondern auch mit ihrem vor wenigen Monaten verstorbenen Vater „zu kämpfen“.
Er war ein unnahbarer, gefühlskalter und förmlicher Mann, der Lisette fast wie eine Leibeigene behandelte, die sich anstandslos zu fügen hat.
Beide Eltern waren emotional unerreichbar für die heranwachsende Lisette und Zärtlichkeiten waren tabu, bzw. Mangelware.

Es ist nicht verwunderlich, dass Lisette vor diesem Hintergrund trotz ihrer beruflichen Karriere und finanziellen Unabhängigkeit kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln konnte.
Sie blieb emotional abhängig von der Wertschätzung Anderer und fügte sich deren Erwartungen.

Glücklicherweise gab es in ihrer Kindheit und Jugend das Personal, v. a. die Köchin, bei dem sie ersatzweise Geborgenheit und Zuwendung bekam. Wer weiß, was sonst aus Lisette geworden wäre?

Neben all ihren inneren Konflikten hat Lisette die Vorstellung, als kinderlose Frau unvollkommen und wertlos zu sein. Bisher hat sich ihr großer Kinderwunsch nicht erfüllt.

Als sie, frisch verliebt in Emil, hofft, bzw. vermutet, schwanger zu sein, kommt ein Stein ins Rollen.
Für die Mutter wird es brenzlig.
Eine echte Gefahr ist im Anmarsch. Sie fährt Geschütze auf...

Wie es auf der konkreten Ebene weitergeht und ob es Lisette gelingt, sich aus der symbiotischen und dysfunktionalen Beziehung mit ihrer Mutter zu befreien, um emotional unabhängiger und selbstsicherer zu werden, werde ich natürlich nicht verraten.

Ich kann und will nicht leugnen, dass ich die Geschichte Lisettes auch mit den Augen einer Fachfrau gelesen und betrachtet habe und daher kann ich nicht umhin, zu sagen, dass aus fachlicher Sicht zunächst eine klare Indikation für eine intensive und kontinuierliche analytische Therapie besteht.
Aber wer weiß, vielleicht schafft Lisette das auch alleine?

Die Psychotherapeutin und Autorin Ulla Coulin-Riegger bringt ihre Beobachtungen, Erfahrungen und ihr Wissen sprachgewandt und mit schönen und eingängigen Formulierungen zu Papier.
Sie hat die Psyche ihrer Protagonistin gekonnt seziert und daraus präzise, detailliert und fesselnd ein intimes, trauriges und psychologisch stimmiges Psychogramm einer alleinstehenden und kinderlosen Enddreißigerin gezeichnet, die es noch nicht geschafft hat, sich von ihrer selbstbezogenen, vereinnahmenden und manipulativen Mutter zu lösen.

Aufgrund ihrer emotionalen Abhängigkeit wird sie regelrecht angetrieben von ihrem inneren Streben nach Wertschätzung und Zuwendung Anderer.
Anpassung, Unterwerfung und Selbstverleugnung sind nicht selten der Preis, den sie zu zahlen bereit ist.

Der Autorin gelingt es, im Leser eine Vielzahl von Gefühlen hervorzurufen, obwohl, oder gerade weil der Text alles andere als gefühlsduselig geschrieben ist.
Ich spürte immer wieder Mitgefühl, Traurigkeit und Enttäuschung, aber auch Zorn. Letzteres allerdings nicht nur auf die Eltern der Protagonistin, sondern auch auf Lisette selbst.
Nicht selten musste ich ungläubig, verwundert oder genervt den Kopf schütteln, weil sie dieses Spiel mitspielt und der Unehrlichkeit und Manipulation keinen Einhalt gebietet.
Aber na ja... wenn das so einfach wäre!

Die Lektüre lohnt sich!
„Mutters Puppenspiel“ ist ein tiefgründiger und kurzweiliger Pageturner, der gut unterhält, interessant ist, und psychodynamische Zusammenhänge nachvollziehbar und auf eingängige und leicht lesbare Weise vermittelt.
Neben dem spannenden Inhalt tragen auch die sehr kurzen Kapitel dazu bei, dass man regelrecht durch das Buch fliegt.

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Veröffentlicht am 06.02.2021

Ein Kolonial- und Kriminalroman mit unzähligen Moskitos.

Tropenkoller
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Und wieder einmal ein typischer, spannender und absolut lesenswerter „Nicht-Maigret-Roman“ von Simenon!

„Tropenkoller“ entstand 1932, nachdem Simenon durch Afrika gereist ist, erschien 1933 und spielt ...

Und wieder einmal ein typischer, spannender und absolut lesenswerter „Nicht-Maigret-Roman“ von Simenon!

„Tropenkoller“ entstand 1932, nachdem Simenon durch Afrika gereist ist, erschien 1933 und spielt in der französischen Kolonie Gabun an der Atlantikküste Westafrikas.

Der Roman erzählt von einem jungen Mann, der dort landet, um zu arbeiten, der der Liebe verfällt, der in Mordfälle verwickelt wird und der letztlich, wie der Titel schon sagt, den Tropenkoller bekommt.

Der 23-jährige Franzose Joseph Timar gehört einer mächtigen und wohlhabenden französischen Politikerfamilie an.
Eines Tages schickt ihn sein Onkel nach Westafrika, was ihm recht ist, weil er der bürgerlichen Routine entkommen will.
Er soll für eine französische Handelsgesellschaft in Gabun arbeiten und dort afrikanische Holzfäller beaufsichtigen.
Schon kurz nach seiner Ankunft in Libreville, der Hauptstadt, teilt ihm sein vermeintlicher Arbeitgeber mit, dass er kein neues Personal braucht.
Alles war ein Missverständnis.
Er wird also wieder nach Frankreich zurückkehren.
Allerdings wird er sich drei Wochen gedulden und in Gabun aufhalten müssen, weil er auf das nächste Schiff warten muss, das ihn wieder nach Hause bringt.

Der wohlstandsverwöhnte Joseph wohnt in dieser Zeit in einem Hotel, das von einem weißen französischen Ehepaar geführt wird und dessen Gäste weiße Kolonialbeamte, Holzfäller und Kaufleute sind.

Er verfällt in Lethargie, ist untätig oder vertreibt sich die Zeit mit Billard spielen und trinken und lernt die typischen europäischen Kolonialisten und ihre z. T. widerwärtigen Verhaltensweisen kennen.
Sie sind selbstgefällig und hochnäsig, widmen sich dem Glücksspiel, trinken zu viel Alkohol, entführen schwarze Frauen, missbrauchen sie und lassen sie im Stich.
Joseph findet keinen Gefallen an ihnen.
Er hat nur Interesse für Adele, die Wirtin des Hotels. Die schöne und üppige Mittdreißigerin verdreht ihm mit ihrer sinnlichen Ausstrahlung schon nach wenigen Stunden den Kopf.

Kurz darauf wird der schwarze Hotelboy erschossen und fast gleichzeitig stirbt Adeles Mann, der so einiges auf dem Kerbholz hatte, an Malaria.
Im Rahmen der halbherzigen und wenig engagierten polizeilichen Ermittlungen wird auch Joseph verhört.
Er wird dabei vor Adele gewarnt.
Sie sei gefährlich und in illegale Geschäfte verwickelt.
Aber Joseph kann die Finger nicht von ihr lassen, obwohl ihm schon bald Zweifel kommen und er einen Verdacht geht.
Er ist schon zu sehr von ihr fasziniert.
Sie hat ihn in der Hand, spielt mit ihm und manipuliert ihn.
Er ist ihre Marionette und dient ihren Zwecken.
Joseph scheint schließlich seinen Verstand und die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.
Und dann leidet er auch noch am Dengue-Fieber und an nagender Eifersucht...

Wir bekommen hier nicht nur einen interessanten Krimi präsentiert, sondern lesen auch vom Niedergang und Zerfall eines zutiefst ambivalenten Charakters. Joseph hat einen Gerechtigkeitssinn und ist fasziniert von den Schwarzen und dieser ihm fremden Welt, aber er will auch profitieren und erliegt Versuchungen.
Ausserdem erfahren wir auch viel vom eintönigen Alltag der Einheimischen und der Kolonialisten sowie von der Ausbeutung der Kolonien.
Die einheimischen Schwarzen wurden als Menschen zweiter Klasse behandelt, gedemütigt und versklavt. An Grausamkeit und Brutalität wurde nicht gespart.
An der Landschaft wurde Raubbau betrieben.
Ausbeutung von Land und Leuten!

Simenon führt uns auf höchst unterhaltsame, aber auch erschütternde und packende Art und Weise das politische und moralische Unrecht, sowie die Überheblichkeit der sich als Herrenmenschen fühlenden Kolonialisten vor Augen.

Er zeichnet authentische und vielschichtige Charaktere und vermittelt spürbar und meisterhaft Stimmungen und die exotische Atmosphäre.
Es entwickelt sich eine lebendige Vorstellung von den Personen und Handlungsorten und man spürt die schwüle, kaum aushaltbare Hitze der Tropen, hört die Moskitos summen und fiebert gespannt mit.

Ganz besonders vertraut werden wir mit Josephs Innenleben, weil Simenon seine Psyche wunderbar seziert und Schwankungen seiner Befindlichkeit vortrefflich beschreibt. Gerade durch seine inneren Konflikte und die fast spürbaren Widersprüche erwacht Joseph zu einer glaubhaften und überzeugenden Figur.

Kleine Kritikpunkte sind, dass Simenon manchmal etwas ab- oder ausschweift und dass man beim aufmerksamen Lesen gegen Ende auf eine Ungereimtheit stößt.
Aber das ist „Jammern auf hohem Niveau“.

Ich habe schon einige Romane von Simenon genossen und empfehle auch diesen sehr gerne weiter. Es ist eine faszinierende Kombination aus spannendem Krimi und Abrechnung mit dem Kolonialismus.
Die m. E. völlig berechtigte Kritik Simenons an der Übernahme fremder Welten und Kulturen ist klar und deutlich, aber nicht aufdringlich oder gar plump herauszulesen.

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Veröffentlicht am 05.02.2021

Ein erschütterndes und lesenswertes Werk!

Nächtliche Erklärungen
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In seinen sprach- und bildgewaltigen „Nächtliche(n) Erklärungen“ schreibt Edem Awumey ergreifend und beeindruckend über die Gräueltaten und Schikanen eines diktatorischen, korrupten und gewalttätigen Unrechtsregimes, ...

In seinen sprach- und bildgewaltigen „Nächtliche(n) Erklärungen“ schreibt Edem Awumey ergreifend und beeindruckend über die Gräueltaten und Schikanen eines diktatorischen, korrupten und gewalttätigen Unrechtsregimes, aber auch über die Schuld- und Schamgefühle des Überlebenden, über die tröstliche, haltgebende und erhellende Bedeutung der Literatur sowie über die heilsame Wirkung des Schreibens.

Der 45-jährige Afrikaner Ito ist sterbenskrank.
Er leidet an Leukämie.
Bevor er stirbt, möchte er sich seine schmerzhaften Erinnerungen, die er bis dato nur aushalten konnte, indem er sie in Alkohol ertränkte, von der Seele schreiben.

In den 80-er Jahren hat Ito in seinem afrikanischen Heimatland, das von einem diktatorischen Regime geführt wurde, Furchtbares durchgemacht.
Die Tortur begann mit einer für den damaligen Studenten harmlosen aber enthusiastischen Flugblattaktion und endete mit Unterdrückung, Gefangenenlager, Folter und Flucht.

Zu Beginn dieser aufwühlenden Geschichte sitzt Ito im Zug.
Er war auf einer Lesung in Québec und befindet sich auf dem Weg nach Hause in seine Souterrainwohnung bei Ottawa, wo er mit seiner drogenabhängigen Freundin Kimi lebt.
Auch Kimi, eine Frau mit indigenen Wurzeln, musste in ihrem Leben schon viel Leid ertragen.
Die beiden haben Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft und geben sich Halt und Geborgenheit, wichtige Voraussetzungen, um die quälenden Erinnerungen und schlimmen Erfahrungen zu verdauen, die sie beide erlebt haben.

Bei all dem Schrecklichen, das Ito durchgemacht hat, war Koli Lem, ein älterer, blinder und gebildeten Mann, den er im Straflager kennenlernte, ein Lichtblick.
Durch ihn lernte Ito die Welt der Bücher und die Kraft der Literatur kennen. Eine Welt, in die die beiden eintauchen und flüchten konnten. Eine Welt, die ihnen kurzzeitigen Rückzug vor all dem Elend ermöglichte.
Nachdem Ito nach dem politischen Zusammenbruch flüchten konnte, kehrte er kurz zu seinen Eltern zurück und begann danach in Kanada ein neues Leben.
Ein Leben mit Kimi und Schreiben.

Ich empfehle dieses zutiefst bewegende, erschütternde, derb, direkt und ungeschönt geschriebene Buch von Edem Awumey, der 1975 in Lomé, Togo geboren wurde und heute bei Ottawa lebt, sehr gerne weiter.

Es ist der vierte Roman des in Deutschland leider noch recht unbekannten Schriftstellers, dessen zweiter Roman „Les Pieds sales“ in Frankreich für den Prix Goncourt nominiert wurde.

„Nächtliche Erklärungen“ ist eine Wucht. Es ist ein erschütterndes Werk über Geschehnisse und Themen, vor denen man nicht die Augen verschließen sollte... Nervenstärke und emotionale Stabilität sind nötig, um sich diesem absolut lesenswerten Werk zu stellen.



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Veröffentlicht am 03.02.2021

Eine unterhaltsame Geschichte über ein äußerst interessantes Experiment...

Sprich mit mir
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T. C. Boyle hat mit „Sprich mit mir“ eine eindrucksvolle und außergewöhnliche Geschichte komponiert, die nicht nur wunderbar unterhält, sondern zum Nachdenken anregt und ein interessantes und wichtiges ...

T. C. Boyle hat mit „Sprich mit mir“ eine eindrucksvolle und außergewöhnliche Geschichte komponiert, die nicht nur wunderbar unterhält, sondern zum Nachdenken anregt und ein interessantes und wichtiges Thema aufgreift, das die Menschheit schon seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten umtreibt.

Es geht um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, genauer gesagt zwischen Menschen und den ihnen verwandten Schimpansen, und auch darum, wieviel Menschliches im Tier und wieviel Tierisches im Menschen steckt.

Wo sind Parallelen, Überlappungen, Unterschiede?
Sind sich Tiere ihrer selbst bewusst?
Haben sie Werte und eine Vorstellung von Moral, Ethik oder gar Religion?
Können sie Zukünftiges antizipieren, ihr Handeln planen oder eine Sprache erlernen und damit Gefühle ausdrücken?
Ist es möglich sich mit einer anderen Spezies zu unterhalten?
Wie laufen die mentalen Prozesse in Vertretern einer anderen Spezies ab?
Müssen die Grenzen der Forschung enger gesteckt werden oder ist im Namen der Wissenschaft (fast) alles erlaubt?
Ist der Mensch den Tieren überlegen?
Darf er sie in seinem größenwahnsinnigen Allmachtsstreben beherrschen und unterwerfen?
Sollte man sie nicht lieber in ihrem gewohnten und natürlichen Lebensraum belassen und sind sie nicht letztendlich instinktgeleitete, gefährliche, unkontrollierbare und unberechenbare Wesen, die ein Recht auf ihre Freiheit haben?

T. C. Boyle wirft zwischen den Zeilen und völlig unaufdringlich all diese Fragen auf, indem er uns die fesselnde Geschichte des Schimpansen Sam erzählt.

Die 21-jährige Aimee ist eine hübsche und introvertierte Studentin, die in einem Studentenwohnheim an der kalifornischen Küste wohnt und das Gefühl hat, auf der Stelle zu treten. Ihren Alltag aus Lernen und Arbeiten findet sie bisweilen recht eintönig und manchmal fragt sie sich, ob ihr Streben nach einem Studienabschluss überhaupt von Erfolgt gekrönt sein wird.

Beim Zappen durch die TV-Kanäle bleibt sie eines Tages in einer Gameshow hängen.
Der 32-jährige erfolgsorientierte, selbstbewusste, sympathische und charismatische Wissenschaftler Dr. Guy Schermerhorn erregt ihre Aufmerksamkeit, weil er behauptet, er könne Affen zum Sprechen bringen.
Als er auf der Bühne mit seinem zweijährigen zutraulichen Schimpansen Sam mit Hilfe von raschen Fingerbewegungen und flinken Gesten kommuniziert, ist es um Aimee geschehen.
Wie gebannt hängt sie am Bildschirm und die Vorstellung davon, sich mit Hilfe der Gebärdensprache mit Angehörigen einer anderen Spezies unterhalten zu können, fasziniert sie.

Sie findet heraus, dass Dr. Schermerhorn, der ihr schon in der Sendung irgendwie bekannt vorkam, an ihrer Universität als Privatdozent für Psychologie und gleichzeitig in einem Primatenforschungsprogramm von Dr. Moncrief, dem offiziellen Eigentümer von Sam, tätig ist.
Im Rahmen dieses Projekts soll die Aufzucht von Schimpansen in menschlicher Umgebung erforscht werden.
Als Aimee am Schwarzen Brett einen Zettel hängen sieht, auf dem zu lesen ist, dass Dr. Schermerhorn eine studentische Hilfskraft sucht, die sich um Sam kümmert, nimmt sie postwendend Kontakt mit ihm auf.

Dr. Schermerhorn lädt sie zu einem Bewerbungstreffen zu sich nach Hause ein, um letztlich Sam selbst darüber entscheiden zu lassen, ob Aimee seine „Affensitterin“ sein darf.
Bereits bei ihrer ersten stürmischen Begegnung ist es klar: Aimee hat die Stelle und darf auf der Ranch einziehen, auf der Sam wie ein Kind aufgezogen und unterrichtet wird.

Der Roman spielt zunächst auf zwei Zeitebenen, die sich einander nähern und schließlich treffen.
Im einen Erzählstrang begleiten wir Guy, der in Moncriefs Forschungsprojekt tätig ist, sowie Aimee und Sam, zwischen denen sich schon bald eine vertraute Verbundenheit und einzigartige Beziehung entwickelt.
Wir erfahren, dass er bei einem seiner „Affentheater“ eine junge Frau ins Gesicht gebissen hat, was das gesamte Projekt gefährdet. Aber es kommt noch schlimmer...
Zu Beginn des anderen Erzählstrangs begegnen wir Sam, der in einem Käfig eingesperrt ist und dem es mit einem Trick gelingt, auszubrechen...

Mehr möchte ich vom Inhalt nicht erzählen, weil ich die Spannung nicht vorwegnehmen und niemandes Lesevergnügen minimieren möchte.

T. C. Boyle spielt mit den Zeitebenen und Perspektiven, was den Roman noch spannender macht, als er aufgrund seines Inhalts ohnehin schon ist.
Im einen Kapitel wird Sam fokussiert und wir erfahren, was er erlebt und wie er vermeintlich fühlt, im nächsten werden „die Anderen“, v. a. Aimee näher beleuchtet.

Wie im Roman „Die Terranauten“, den ich zuletzt von T. C. Boyle gelesen habe, hat der 1948 geborene amerikanische Schriftsteller auch hier wieder ein höchst interessantes wissenschaftliches Projekt ins Zentrum seiner Geschichte gestellt. Und wieder hat es sehr viel Spaß gemacht, dem Experiment in Gedanken zu folgen.

Ich empfehle diesen unterhaltsamen und packenden Pageturner, in dem viel Wissenswertes, Absurdes, Erstaunliches, Empörendes und Komisches steckt, sehr gerne weiter.












 

 

 

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