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Veröffentlicht am 11.02.2021

Misogynie am Pranger

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man erst einmal tief durchatmen. Ich denke die Geschichte von Kim Jiyoung sollte allen nahegehen, und zwar egal, welchem Geschlecht, welcher Nationalität, ...

Wenn man dieses Buch gelesen hat, muss man erst einmal tief durchatmen. Ich denke die Geschichte von Kim Jiyoung sollte allen nahegehen, und zwar egal, welchem Geschlecht, welcher Nationalität, welcher Generation oder sexuellen Orientierung man angehört. Nüchtern und scheinbar ganz ohne Emotionen wird die Lebensgeschichte der koreanischen "Jederfrau" Kim Jiyoung erzählt. Ich sage scheinbar, denn zwischen den nahezu im Berichtsstil verfassten prosaischen Zeilen steckt ganz viel Wut gegen das Patriarchat und die koreanische Gesellschaft, die sich ihre misogyne Grundeinstellung über die Jahre selbst herangezüchtet hat. Man braucht hier kein Pathos und keine sprachliche Verkünstelung seitens der Erzählstimme, denn die harten Fakten sprechen ihre eigene traurige und überaus bewegende Sprache.

Die Diskriminierung, die Frauen in Korea - hier eben das Beispielland, obwohl es in vielen anderen Ländern der Welt ähnlich ist - erfahren haben und immer noch erfahren, ist eine systematische und sie beginnt bereits bei der Geburt. Ein Sohn ist mehr wert als eine Tochter in Korea, auch heute noch. Wenn das Mädchen es aber dann doch geschafft hat geboren und nicht aufgrund seines Geschlechts "beseitigt" zu werden, erfährt es schon recht früh, dass ein Bruder - egal ob jünger oder älter - privilegiert behandelt wird. Und so geht es weiter über die Schulzeit bis ins Studium und schließlich hinein in die Berufswelt, in die es nur die wenigsten Frauen schaffen aufgenommen zu werden - egal ob sie eine bessere Ausbildung genossen oder bessere Noten hatten als gleichaltrige Männer. Und letztlich wird die Kinderfrage zur Gretchenfrage der modernen koreanischen Frau: Welche Form der Vereinbarung von Beruf und Familie will man leben? Darf man in den Augen der Gesellschaft überhaupt "nur" Mutter sein?

Anhand der Biografie von Jiyoung werden all diese Ungerechtigkeiten und misogynen Akte - institutionalisierte und erlernte - aufgezeigt. Ob es die sexuelle Übergriffigkeit ist, dumme Sprüche und Wertungen ihres Lebensstils durch Fremde oder die generelle Bevorzugung von Männern in allen Lebensbereichen. Es ist nicht so, dass die Autorin nicht auch die kleinen Fortschritte nennen würde, die die Gesellschaft seit den frühen 1980er Jahren hinsichtlich einer gendergerechteren Welt gemacht hätte. Sie weist auch darauf hin, dass es durchaus Männer gibt, die berufstätige, selbstbewusste Frauen feiern, statt ihnen Steine in den Weg zu legen. Einer dieser "Ausnahme-Männer" ist u.a. Jiyoungs Ehemann Chong Daehyon, der sich um seine Frau sorgt, als sich bei ihr Anzeichen einer psychischen Krankheit auftun. Wie auch im echten Leben ist eben nicht alles negativ, nicht jedes männliche Wesen ein Fall für #metoo und gerade diese Nicht-Schwarzweißmalerei macht das Buch so authentisch.

Trotz aller kleinen gesellschaftlichen Fortschritte, die im Laufe von Jiyoungs bisherigem Leben in Richtung Gendergerechtigkeit gemacht wurden, bleibt das meiste nur oberflächliche Augenwischerei. Im Kern haben es Frauen vor allem im Berufsleben damals wie heute schwerer und Korea ist gar das Land mit dem größten Lohngefälle zwischen Männern und Frauen unter den OECD-Mitgliedsstaaten, wie auf Seite 144f. zu lesen ist. Nam-Joo unterfüttert ihren fiktiven Bericht mit Fußnoten bzw. Fakten aus sozialwissenschaftlichen und journalistischen Publikationen, die sich mit der koreanischen Gesellschaft auseinandersetzen.

Ich möchte auch der Übersetzerin Ki-Hyang Lee ein großes Lob aussprechen. Natürlich kenne ich das koreanische Original nicht, aber die deutsche Übersetzung liest sich sehr gut und man bekommt ein Gefühl für das Erzähltempo und die sprachliche Ausrichtung des Originals.

Auch ich bin 1982 geboren und konnte mich aufgrund der zeitlichen Koinzidenz der Lebensstationen sehr gut mit Jiyoung identifizieren. Ich habe das Buch innerhalb von zwei Tagen durchgelesen, weil ich einfach so gebannt von dieser in vielen Punkten "alltäglichen" Geschichte war. Ein Lese-Muss für alle, die an Feminismus und einem aufgeklärten gesellschaftlichen Diskurs interessiert sind.

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Veröffentlicht am 25.01.2021

Bezaubernde historische Wien-Novelle

Ein Winter in Wien
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Manchmal verliebt man sich Hals über Kopf - in ein Buch. In "Winter in Wien" habe ich mich quasi auf den ersten Blick bzw. von der ersten Seite an verliebt, so wie der Buchhändler Oskar in das Kindermädchen ...

Manchmal verliebt man sich Hals über Kopf - in ein Buch. In "Winter in Wien" habe ich mich quasi auf den ersten Blick bzw. von der ersten Seite an verliebt, so wie der Buchhändler Oskar in das Kindermädchen Marie. Arthur Schnitzler habe ich schon immer gerne und viel gelesen: "Fräulein Else", "Der Weg ins Freie", etc. Ich liebe generell Bücher, deren Handlung um die Jahrhundertwende 1900 bis in die 1920er Jahre in Wien angesiedelt ist: Kaffeehaus, Fiaker, Ringstraße, Klimt, Theater, Oper, Operette, das hat auch heute noch so einen ganz eigenen Charme - und erst recht zu dieser besonderen Zeit des Wiener Jugendstils. Nun also eine Buchreihe, in der wir Schnitzler als literarische Figur haben: ein Traum. Obwohl der Herr Dr. Schnitzler, der ja ursprünglich als Arzt tätig war, bevor er vom Schreiben sehr gut leben konnte, nicht der Protagonist des Buches ist, so spielt er doch eine wichtige Rolle. Es ist sein vornehmer Haushalt in der Sternwartestraße im Wiener "Cottage Viertel", in den die junge Marie Haidinger im Jahr 1911 als Kindermädchen eintritt. Sie soll dort die Kinder Heinrich (9) und Lili (2) betreuen. Bei einem Ausflug in den nahegelegenen Buchladen, bei dem Schnitzler seine Bücher bezieht, lernt sie den jungen Buchhändler Oskar Novak kennen. Die beiden schüchternen jungen, aber vom Schicksal früh gebeutelten Leute lernen einander näher kennen, aber da die Geschichte auf vier Bände - passend zu den im Titel genannten Jahreszeiten - angelegt ist, ist am Ende des schmalen ersten Bandes noch längst nicht klar, wie es mit ihnen weitergeht.

Was mich bei diesem kleinen historischen Roman sofort bezaubert hat, ist die einzigartige Wien-um-1900-Atmosphäre, die Petra Hartlieb heraufbeschwört hat. Dazu kommt natürlich der Zauber einer frisch verschneiten Stadt um die Weihnachtszeit, dem sich keiner wirklich entziehen kann. Diese klassische Erzählung wirkt auf die positivste Weise wie aus der Zeit gefallen. Zudem hat mich Maries Geschichte emotional sehr berührt und es fiel mir zeitweise schwer, mich gedanklich wieder aus dem Schnitzlerschen Haushalt herauszubewegen. Die Sicht der “Bediensteten” ist ein zusätzliches Plus und passt zu Schnitzler, der ja in seinen Werken auch Figuren aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten eine Stimme verliehen hat.

Ich bin wahnsinnig froh, dass ich diese Reihe erst jetzt für mich entdeckt habe. Es gibt bereits drei Bände ("Ein Winter in Wien", "Wenn es Frühling wird in Wien" und "Sommer in Wien"), erschienen 2016-2019. Der Abschlussband "Herbst in Wien" ist laut Petra Hartlieb auch schon Planung. Obwohl ich am liebsten sofort weiterlesen würde, werde ich tatsächlich auf die passende Jahreszeit für den jeweiligen Band warten, denn wer weiß, vielleicht erscheint "Herbst in Wien" ja bereits im Spätsommer 2021? Ich würde mich jedenfalls sehr freuen!

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Veröffentlicht am 19.01.2021

Schwer zugängliches Meisterwerk

Schwitters
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Der Begriff "Innere Emigration" bezeichnet Künstler und Intellektuelle, die im Widerstand zum NS-Regime standen, aber nicht ins Exil gingen, also aus Deutschland auswanderten. Der Hannoveraner Künstler ...

Der Begriff "Innere Emigration" bezeichnet Künstler und Intellektuelle, die im Widerstand zum NS-Regime standen, aber nicht ins Exil gingen, also aus Deutschland auswanderten. Der Hannoveraner Künstler (Maler, Dichter, Grafiker, etc.) Kurt Schwitters gehörte laut Geschichtsschreibung in den ersten Jahren der NS-Zeit auch der "Inneren Emigration" an. Der fiktive Schwitters im Buch lehnt diesen Begriff nach dem Krieg, immer noch im Exil, ab. Eine "geschützte Innerlichkeit des Künstlers" (S. 290) könne es innerhalb der menschenverachtenden Diktatur nicht gegeben haben. Es ist also eine Frage der Definition. Der reale Schwitters floh jedenfalls am ersten Tag des Jahres 1937, nachdem seine dadaistischen Werke von den Nazis als "entartet" diffamiert wurden, ins Exil nach Norwegen. Dorthin war sein Sohn Ernst bereits 1936 ausgewandert. Als die Deutschen in Norwegen einmarschierten, emigrierte Schwitters mit Sohn und Schwiegertochter nach Großbritannien. Nach verschiedenen Stationen in Internierungslagern fand Kurt Schwitters seine letzte Heimat in England, wo er 1948 starb.

Ulrike Draesner schenkt uns in ihrem opulenten “Künstlerroman”, der keiner ist, wie sie im Nachwort sagt, Einblicke in Schwitters Leben. Die Kapitel bestehen aus fiktiven Momentaufnahmen, die sich aus der Biografie des Dada-Künstlers speisen. Da "Schwitters" aber vor allem ein Roman der Entwurzelung ist, beginnt die erzählte Handlung mit der Zeit kurz vor Schwitters’ Entscheidung zum Gang ins Exil, beschreibt vor allem die Zeit in Großbritannien, in der er sich in der neuen Lebenssituation zurechtfinden muss und endet mit seinem Nachleben, reflektiert aus der Sicht des Sohnes.

Kurt Schwitters ist als Protagonist genau wie seine Poesie, wie seine Kunst: schwer greifbar, sperrig bis unzugänglich. Kein einfacher Mensch, den die Autorin zur Hauptfigur ihres Romans gemacht hat. Noch dazu im "schwierigen" mittleren Mannesalter, voller Todes- und Existenzängste, sich wie ein Ertrinkender ans Leben klammernd. Eine sehr vielschichtige Künstlerpersönlichkeit, dieser Schwitters, mit einer nicht minder komplexen Gedankenwelt. Dada und Merzbau eben, schwer vorstellbar für den Leser, was das eigentlich ist.

Im Roman gibt es auch Kapitel, die aus der Sicht von Schwitters’ Familienmitgliedern geschrieben wurden. Zum einen aus der Perspektive seiner Ehefrau Helma. Als ihr Mann ins norwegische Exil ging, musste sie in Deutschland bleiben, um sich in Hannover um die alten Mütter der Eheleute sowie um den Immobilienbesitz (u.a. Mietshäuser) zu kümmern. Mir gefällt sehr dass auch sie, die körperlich ewig betrogene Ehefrau, zu Wort kommt und wir als Leser ihren Gedanken und Reflexionen folgen dürfen. Helma Schwitters war Muse und Modell ihres exzentrischen Künstler-Ehemanns, musste aber auch seine zahlreichen Affären und seine Launen verkraften. 1944, kurz vor Ende des Krieges, starb sie an Krebs, ihren Mann und Sohn hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ernst, das einzige überlebende Kind von Kurt und Helma, kommt wie bereits gesagt ebenfalls im fiktiven Rahmen zu Wort. Der 1918 geborene Fotograf arbeitete sich als "Sohn von" an seinem Künstler-Vater ab, verwaltete sein Erbe, profitierte davon und machte in Norwegen, wo er nach 1945 zurückkehrte, eine ganz eigene Karriere. Auch über Schwitters’ letzte Lebensgefährtin, Edith Thomas, genannt Wantee, lernen wir viel im Roman. Sie gibt ihm die menschliche Nähe, die er fernab der Heimat braucht und die Sprache, die ihm anfangs fehlt: Englisch.

Draesners Roman ist ein Sprachkunstwerk, voller rhetorischer Stilmittel und Erzählweise, "zusammentapeziert" wie eine Collage. Sie hat eine kraftvolle, bildhafte, poetische Sprache, die Stimmung erzeugt, eine ganz eigene Atmosphäre. Draesner versucht uns verschiedene Facetten dieses vielschichtigen Künstlermenschen Schwitters nahezubringen. Um die Komplexität seiner Persönlichkeit und der Welt, in der er lebte, zu erfassen, greift sie häufig auf das Stilmittel der Accumulatio zurück. Aber auch sonst entlehnt sie Sprachbilder aus Schwitters’ Kunstrichtung, dem Dadaismus, für ihre Romanbiografie. Sie weist in einem Nachwort darauf hin, dass alles, was sie schreibt, Fiktion ist (bis auf die belegbaren Daten und Fakten natürlich).

"Schwitters" ist mit Sicherheit das anspruchsvollstes Buch, welches kein Klassiker ist, das ich seit langem gelesen habe. Ich habe mit dem Buch gehadert, mich teilweise durchgequält und Passagen überblättert. Dennoch käme es mir schändlich vor, es nicht mit fünf Sternen zu bewerten. Was will ich einfache Leserin schon eine so versierte Schriftstellerin wie Ulrike Draesner kritisieren? Mir fehlte jegliche Legitimation. Überdies ist DADA ebenso unzugänglich wie Draesners Roman es stellenweise ist. Ich denke es ist die Intention der Autorin dass ihr Roman enigmatisch, sperrig und unzugänglich wie ein dadaistisches Kunstwerk und gleichzeitig wunderbar poetisch und paradiesisch schön wie eine Landschaftsmalerei von William Turner ist.

Man sollte sich dessen bewusst sein, wenn man es zur Hand nimmt. Ein intellektueller Roman über einen Intellektuellen und eine Geschichte der Entwurzelung eines Künstlers, die sehr berührt. In diesem Roman steckt wahnsinnig viel Kreativität, Kunstfertigkeit und Arbeit, insofern steht er dem Werk von Kurt Schwitters in nichts nach. Der Roman ist opulent und collagenhaft, manchmal nur schwer greifbar. Ein großartiges Werk, aber ich darf und kann eben nicht verhehlen, dass es nicht einfach zu lesen war.

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Veröffentlicht am 04.01.2021

Das Drama des modernen (Herr-)Mann(e)s

Herrmann
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Das Drama einer Existenz in der österreichischen Provinz hat keiner so gut beschrieben wie Thomas Bernhard. Da er aber ja nun mal leider tot ist, müssen andere diese "Lächerlichkeit", wie er gesagt hätte, ...

Das Drama einer Existenz in der österreichischen Provinz hat keiner so gut beschrieben wie Thomas Bernhard. Da er aber ja nun mal leider tot ist, müssen andere diese "Lächerlichkeit", wie er gesagt hätte, fortschreiben. Bettina Gärtner ist kein Thomas Bernhard, aber sie hat es mit "Herrmann" geschafft, ganz tief in das menschliche Drama der österreichischen Provinzialität einzutauchen. Es ist eine moderne Tragikomödie in Romanform, die Gärtner hier abliefert. Herrmann ist Pendler, zerrissen zwischen langweiligem Bürojob in der Finanzbranche in der Bundeshauptstadt und kümmerlichem Privatleben als Single in seinem dörflichen Heimatort. Letzteres besteht im Wesentlichen aus der vom - kurz vor Beginn der Handlung verstorbenen - Vater geerbten Jagdhundezucht, seinem Jagdrevier, der freiwilligen Feuerwehr und dem Rest seiner Herkunftsfamilie, bestehend aus der bald vierzigjährigen Schwester Lindi, die nach Trennung von ihrem Freund Anselm "vorübergehend" wieder zu Hause eingezogen ist, und der Mutter, einer pensionierten Lehrerin. Als Herrmanns Jugendfreund Orban aus England zurückkehrt, ist es mit der Lethargie in Herrmanns Leben vorbei. Die Vergangenheit holt den Mittvierziger ein und wir erleben eine Woche in Herrmanns Leben, die selbiges auf den Kopf stellen wird.
Gärtner hält der entmenschlichten Business-Gesellschaft unserer Gegenwart einen Spiegel vor. Sie beschreibt nuanciert und mit stets ironischem Unterton die Banalitäten eines Büroarbeitstages, die intriganten Strukturen der heutigen Berufswelt und die ermüdende Pendelei hin und zurück zum Arbeitsplatz (erst mit dem Auto zum Park-and-Ride am Bahnhof der Bezirkshauptstadt, dann mit der Schnellbahn in die Bundeshauptstadt bzw. vice versa).
In "Herrmann" geht es aber auch um das Private und damit vor allem um die Vergangenheitsbewältigung des namensgebenden Protagonisten. Er sinniert darüber nach, warum die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Rieke in die Brüche ging, wie die enge Freundschaft zu Orban scheiterte und über andere vergangene Ereignisse, die ihn geprägt haben. "Die meisten Vorboten erkennt man erst im Nachhinein" (S. 157) heißt eine Sentenz im Buch. Überhaupt wird viel mit Worten, mit Redewendungen gespielt - was ist die eigentliche Bedeutung einer dahingeworfenen Aussage, einer gern verwendeten Floskel. Sowas gefällt mir sehr, wenn ein Text sich stets selbst reflektiert und sich seiner Wortwahl mehr als bewusst ist. Die pseudo-lexikalischen Zwischenkapitel, in denen in der Handlung erwähnte wichtige Begriffe erklärt werden, sind ein Teil dieser metafiktionalen Komponente des Romans.
Herrmann ist ein klassischer Antiheld, ein unscheinbarer Jedermann, der sich nur in Bezug auf andere definiert - seine Mutter, Schwester, den verstorbenen Vater, seine Arbeitskollegen, seine Lehrer, seinen ehemaligen Freund Orban, etc. - und dabei gar nicht so genau weiß, wer er selbst eigentlich ist ("Er hätte gern gewusst, was er wollte…", S. 275). Dazu kommt noch sein Status als Single und Mann in der Midlife-Crisis, der endlich mal etwas für seine Gesundheit und gegen die späte Familienlosigkeit tun sollte. Der soziale Druck aber führt bei Hermann erst recht zu Angstzuständen, Depressionen und Tagträumen, die er aber so gut es geht unterdrückt. Der Vorname Herrmann setzt sich aus zwei Begriffen zusammen, die beide Mann bezeichnen - semiotisch clever, denn die Ironie des Ganzen ist, dass der männliche Hermann gnadenlos an den Anforderungen scheitert, die die Gesellschfat an den modernen Mann von heute stellt.
Bettina Gärtner ist mit "Herrmann" eine absolut grandios geschriebene Chronik eines scheiternden Mittvierzigers gelungen. Ein wunderbar feinsinniger und gescheiter Roman des Jahres 2020, der viel mehr Beachtung und LeserInnen verdient hätte.

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Veröffentlicht am 07.12.2020

Unprätentiöse Hochspannung, Teil 3

Wisting und der Atem der Angst
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Nachdem ich bereits die ersten beiden Teile der Cold-Cases-Reihe um William Wisting begeistert gelesen habe, musste ich natürlich sofort bei Erscheinen den dritten Teil dieser Reihe lesen. Auch diesmal ...

Nachdem ich bereits die ersten beiden Teile der Cold-Cases-Reihe um William Wisting begeistert gelesen habe, musste ich natürlich sofort bei Erscheinen den dritten Teil dieser Reihe lesen. Auch diesmal bekommen es Kriminalkommissar Wisting und Stillers Osloer Einheit ungelöster Kriminalfälle mit einem “Cold Case” zu tun, der sich allerdings sehr schnell als “hot” entpuppt. Der zweifache Frauenmörder und Sadist Tom Kerr will einen dritten Mord gestehen und die Ermittlungseinheit zum Grab des Opfers führen. Allerdings kann er bei der Begehung entkommen. Nun stellt sich den Ermittlern die Frage, ob er bei seinen Morden einen Komplizen hatte und ob ihm dieser “Andere” zu seiner Flucht verhelfen konnte.
Auch Wistings Tochter Line ist als Journalistin wieder mit von der Partie. Sie will eine Dokumentation über den Fall Tom Kerr drehen. Dass Line ihren Vater so eng bei seiner Arbeit begleitet, führt immer wieder zu Gewissenskonflikten, schließlich darf Wisting die laufenden Ermittlungen nur gefiltert an die Medien weitergeben. Doch auch Line verfolgt ihren eigenen Plan und nimmt dabei so manches Risiko in Kauf. Es geht in diesem Band damit auch sehr viel um das Verhältnis zwischen Polizei und Medien, eine Zusammenarbeit, die nicht immer für beide Seiten eine Win-Win-Situation darstellt.
Die Handlung ist dieses Mal auch wieder sehr spannend, vor allem durch die unmittelbare Bedrohung durch den flüchtigen Täter und seinen unbekannten Komplizen. Es gibt viele überraschende Wendungen und kurz vor Ende wird es so nervenaufreibend, dass ich teilweise versucht war an meinen Fingernägeln zu kauen.
Ich mag mehrere Aspekte an den Krimis von Jørn Lier Horst. Zum einen die unaufgeregte Erzählweise, mit der ganz subtil Spannung erzeugt wird. Lier Horst ist kein effekthaschender Erzähler, obwohl es natürlich um krasse Verbrechen und Täter geht. Der Autor erzählt das Wesentliche, ohne es unnötig auszuschmücken. Auch das mag ich. Außerdem weiß er tatsächlich als ehemaliger Kriminalkommissar über die Abläufe einer Ermittlung genauestens Bescheid. Im Nachwort geht er - ungewöhnlich für ihn - nochmal auf “das Böse” ein und die Menschen, die es verkörpern. Dabei verweist er auch auf seine eigene berufliche Vergangenheit als Ermittler.
Lier Horsts Figuren sind absolut lebensecht, das Private bildet einen Rahmen für die Geschehnisse, steht aber niemals im Vordergrund. Ich bin so gespannt, wie sich die Figuren noch entwickeln werden, Wisting hat jedenfalls noch einige Jahr bis zur Pensionierung. Dennoch sieht vor allem seine Tochter die Zeichen des Alterns an ihrem Vater. Zum Glück ist bereits jetzt klar, dass ein vierter Band der Reihe im Frühjahr 2021 auf Deutsch erscheinen wird. Ich kann es kaum erwarten!

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