Nichts als die Wahrheit
Talschaft Schwyz, um 1313: Der 13-jährige Ich-Erzähler und „Finöggel“ Eusebius, genannt Sebi, ist ein aufgewecktes Kerlchen, aber eher nicht für härtere Arbeit geeignet – ab und an hilft er dem Totengräber ...
Talschaft Schwyz, um 1313: Der 13-jährige Ich-Erzähler und „Finöggel“ Eusebius, genannt Sebi, ist ein aufgewecktes Kerlchen, aber eher nicht für härtere Arbeit geeignet – ab und an hilft er dem Totengräber im Dorf bei der Arbeit. Der Vater ist schon gestorben, Bruder Poli ist ein dumpfer Haudegen und „eher nur über Umwegen nett“, aber mit Bruder Geni pflegt er eine feinfühlige Beziehung. Sebi ist ein aufmerksamer Beobachter, mit seiner kindlich-naiven Art beäugt er das Dorfleben und erläutert dieses – und stellt so manches Fehlverhalten lakonisch dar. Es waren raue, blutige und brutale Zeiten im Mittelalter, besonders wenn auch noch der Marchenstreit zwischen Schwyz, den Habsburgern und dem mächtigen Benediktinerkloster Einsiedeln über Grenzgebiete herrscht. Einen Mentor und Lehrer findet Sebi bald in dem Einsiedler, Flüchtling und Sonderling „Halbbart“, der ihm mit vielen Lebensweisheiten und dem Schachspielen den Blickwinkel erweitert – auch wenn er vieles nicht richtig begreifen kann, was der Halbbart erzählt. Aber eins ist klar: mit seinem zur Hälfte fürchterlich entstelltem Gesicht hat er Schlimmes erlebt, er rückt nur zögernd damit raus – geblieben ist ein Hass auf die Habsburger, der selbst dem Halbbart den weisen Verstand raubt. Als die Mutter stirbt, kommt Sebi ins Kloster, doch die Ereignisse dort sind eher traumatisierend – er flieht und findet Unterschlupf beim Schmied und seiner Tochter Kätterli.
Sebi erlebt Einiges in der vom Glauben, Aberglauben, Himmel und Hölle, Teufel und Engel bestimmten Zeit – Gewalttätiges, Lustiges, Spannendes, Berührendes und er selbst steckt mitten in einer Selbstfindungskrise. Was soll aus Sebi werden? Noch findet er kein Spiegelbild im See für seine Berufung. Bis er aus Zufall zum ersten Mal erlebt, wie kraftvoll (und real) erzählte Geschichten werden können: Er soll die vom Schmied und Halbbart entworfene Waffe Hellebarde unter die Leute bringen – und das macht er gut. Als er auch noch in die Lehre der nimmersatten und Rauschgift süchtigen Geschichtenerzählerin das Teufels-Anneli geht, findet er seine Bestimmung: "Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören." S. 184/185.
Und während Sebi lernt, sich immer bessere Geschichten auszudenken, nimmt der Marchenstreit nach dem gewalttätigen Überfall der Dorfbewohner auf die Mönche und das Kloster nochmal richtig Fahrt auf – angeführt vom böswilligen Onkel Alisi ist die Schlacht am Morgarten zum Greifen nahe.
Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“ präsentiert auf knapp 680 Seiten eine Geschichte nach der anderen und formt dabei eine große, übergeordnete Geschichte. Diese ist nicht nur gespickt mit vielen klugen Lebensweisheiten und Fakten aus der Schweizer Mythologie – diese Geschichte ist selbst eine über das Geschichtenerzählen und welchen Sog und Stärke Erzähltes bewirken kann – bis es geglaubt wird. Und schwupps sind wir in der Gegenwart mit Propaganda, sogenannten Fake-News & Co.: "Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein." S. 676
Der Zürcher Autor Lewinsky erschafft präzise ausgeklügelte Charaktere und präsentiert diese mit einer so erzählerischen Kraft, dass die Seiten nur so verfliegen – vieles mit Bezug zur Gegenwart, aber märchenhaft in 83 kurzen Kapiteln mit sehr treffenden Teasern verpackt wie „Das 33. Kapitel, in dem der Halbbart erzählt, was er nicht erzählen will“. Die Sprache strotzt vor Wortspielereien, Anekdoten und Freude am Fabulieren und ist ordentlich mit Helvetismen, also schweizerdeutschen Ausdrücken, gespickt. Das sorgt hier und da neben den treffenden Beschreibungen aus der Sicht eines Kindes für ein schelmisches Augenzwinkern und Humor. Doch die Gewalt und das Tragische lassen einem auch des Öfteren den Atem stocken. Am Ende ist man erstaunt, in welche spannende Epoche Lewinsky entführt hat, mit einer spielerischen Erzählkunst, wie es uns die umherziehende Teufels-Anneli gelehrt hat. Und was war jetzt wahr?
"Wenn eine Geschichte gut zu dem passe, was die Menschen ohnehin schon dächten, dann werde sie so fest geglaubt, als ob ein Engel vom Himmel sie jedem Einzelnen ins Ohr geflüstert hätte." S. 428