Psychologisch tiefgehender, anrührender Vater-Sohn-Roman
REZENSION – Nur 180 Seiten lang, doch psychologisch tiefgehend ist die anrührende und warmherzige Geschichte von Julien und seinem Vater Henri, Koch und Eigentümer des kleinen Bistros „Le Relais fleuri“an ...
REZENSION – Nur 180 Seiten lang, doch psychologisch tiefgehend ist die anrührende und warmherzige Geschichte von Julien und seinem Vater Henri, Koch und Eigentümer des kleinen Bistros „Le Relais fleuri“an einem Bahnhofsvorplatz im Osten Frankreichs, die der französische Journalist und Gastrokritiker Jacky Durand in seinem im November beim Kindler-Verlag erschienenen Romandebüt „Die Rezepte meines Vaters“ erzählt. Der im Original vielleicht missverständliche Titel „Le cahier de recettes“ (Das Rezeptbuch) wurde schon bald in „Les recettes de la vie“ (Die Rezepte des Lebens) geändert. Denn die Kochkunst des Vaters steht in diesem schmalen Buch, das in Frankreich schnell zum Bestseller und in fast 20 Sprachen übersetzt wurde, als Gleichnis für dessen Art, ohne ausreichende Schulbildung und deshalb eher ohne „Rezepte“ sein Leben meistern zu müssen, verbunden mit der sich daraus ergebenden Unfähigkeit, seinem Sohn auf dessen Weg zum Erwachsenen die von diesem sehnsüchtig erhoffte Hilfestellung, die Rezepte des Lebens, weitergeben zu können.
Julien, der inzwischen als Erwachsener gegen den ursprünglichen Willen des Vaters doch dessen Bistro weiterführt, sitzt in einem Hospiz an Henris Sterbebett, der seit drei Wochen im Koma liegt. In liebevollem Monolog spricht er mit seinem Vater über wichtige Stationen seines Lebens und seiner Entwicklung vom kleinen Jungen zum erwachsenen Mann. Wir erfahren, wie der aus dem Algerienkrieg (1954-1962) heimgekehrte Henri einst gemeinsam mit seinem Kriegskameraden Lucien, der ihm seitdem als Küchenhilfe dient, recht spontan das Bistro übernahm und vom gelernten Bäcker zum Koch wurde. Julien erinnert an Hélène, für ihn eine liebende Mutter, die aber, als er erst neun Jahre alt war, den Vater verließ, ohne sich jemals wieder gemeldet zu haben. Seitdem ist der Junge allein auf sich gestellt, denn der in seiner Einsamkeit verbitterte Henri kümmert sich nur um seine Küche, ist aber unfähig, seinem Sohn die benötigte Zuwendung zu geben. Nur Luciens Bruder Gaby und dessen Lebensgefährtin Maria schenken dem Heranwachsenden die vermisste elterliche Liebe.
Während dieser Jahre sucht Julien nach dem verschwundenen Rezeptbuch, in das nicht er selbst, sondern Hélène einst die Rezepte seines Vaters aufgezeichnet hatte. Nicht nur, dass Henri ohne ausreichende Schulbildung das Schreiben und Lesen schwerfiel. Er wollte vor allem nicht die deutliche Begeisterung seines Sohnes für den Beruf des Kochs mit dem Rezeptbuch noch fördern. Für den Sohn hatte er ganz andere Ziele: „Ich war gezwungen, mit den Händen zu arbeiten. Du hast die Chance, etwas zu lernen.“ Doch gerade diese Verweigerung des Vaters, die sich auch in Gefühlskälte dem Sohn gegenüber zum Ausdruck kam, bestärkte den Sohn, gerade das Gegenteil dessen zu tun. „Komplimente sind nicht deine Sache, es geht nur auf dem Umweg über die anderen. Aber das alles bestärkt mich in meinem Entschluss. Ich werde eine Ausbildung zum Koch anfangen.“
Der Roman „Die Rezepte meines Vaters“ ist, wie kaum anders zu erwarten, auch eine Liebeserklärung an die Kochkunst. So wundert es kaum, dass der in Frankreich als Gastrokritiker langjährig bekannte Autor seiner Erzählung noch einige typische Rezepte französischer Küche angehängt hat. Doch dieser empfehlenswerte Roman ist viel mehr, als es der Titel vermuten lässt, weshalb auch die im Französischen erst nachträglich vorgenommene Änderung in „Les recettes de la vie“ nur folgerichtig ist. Denn es ist ein psychologisch tiefgehender, berührender Entwicklungsroman über die Sehnsucht eines Jungen nach Liebe und Anerkennung, über das Verhältnis eines Heranwachsenden zu seinem in wichtigen Fragen des Lebens intellektuell überforderten Vater, dem er erst als Erwachsener verständnisvoll verzeihen kann.