Leider am Highlight vorbei
Welcome to RealityEines der Bücher, auf das ich mich 2019 schon gefreut habe, war "Welcome to Reality" von Len Vlahos. Am Erscheinungstag bin ich deswegen direkt in die Buchhandlung gehüpft und habe mir ein Exemplar besorgt. ...
Eines der Bücher, auf das ich mich 2019 schon gefreut habe, war "Welcome to Reality" von Len Vlahos. Am Erscheinungstag bin ich deswegen direkt in die Buchhandlung gehüpft und habe mir ein Exemplar besorgt. Ob es meinen Erwartungen entsprechen konnte, werde ich euch nun schildern.
INHALT:
Bereits im Klappentext erfährt man, dass Jackie, die 15 Jahre alt ist, einen schweren Schicksalsschlag erleiden muss. Ihr Vater erkrankt an einem Hirntumor. Um die Familie nach seinem Tod abzusichern, verkauft er sich meistbietend an einen Fernsehsender, der sein Sterben als Reality-Show übertragen soll. Jackie beschließt, dieses irrsinnige Vorhaben zu stoppen, um ihrem Vater und der Familie die Würde zurückzugeben.
Aufgrund dieser Informationen habe ich zunächst erstmal mit einem komplett anderen Einstieg in die Geschichte gerechnet. Ich dachte, es wäre bereits bekannt, dass Jackies Vater Jared den Tumor hat und dass relativ schnell der Konflikt mit dem Fernsehteam thematisiert werden würde.
Ich sollte mich täuschen. Gut das erste Viertel des Buches schildert zunächst die Familie mit all ihren Mitgliedern und es wird erläutert, wie Jared auf die Idee kommt, sein Leben bei ebay zu versteigern. Daraufhin gesellen sich zu den bereits bekannten Personen (Mutter, Vater, Jackie und deren Schwester) nun eine Vielzahl an unterschiedlichen Personen, die immer wieder in den Mittelpunkt der Geschichte rücken und deren Schicksale sich mit Jareds Idee verweben. Ein egoistischer TV-Mogul, ein stinkreicher Wahnsinniger, eine selbstverliebte Nonne, eine schüchterne Gamerin, Jackies russischer Facebook-Freund und der Tumor selbst (der hier eine Stimme bekommt) ergänzen nun das Dilemma der Familie Stone.
Das Buch brauchte insgesamt ungefähr ein Dreiviertel der Seiten, bis es an dem Punkt ankam, der sich mit meinen Erwartungen zumindest teilweise deckte. Erst dann nahm es wirklich Fahrt auf, sodass die Seiten nur so dahin flogen. Erst dort wurde der Konflikt der Familie mit dem Fernsehteam wirklich stark thematisiert. So kann ich zumindest sagen, dass mich das letzte Viertel des Buches wirklich überzeugt hat.
Der Rest des Buches lässt mich leider eher verhalten zurück. Die vielen Charaktere sind zwar sehr gut dargestellt und der Autor versteht es, die unterschiedlichen Motive der Personen schockierend real und dabei sehr trocken zu vermitteln, jedoch erschlug mich die Vielzahl an verschiedenen Einblicken. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen. Im Ganzen gesehen war mir da zu viel Drumherum geschildert und zu wenig Handlung bei den Hauptpersonen.
Kommen wir zum kontroversesten Charakter in diesem Buch. Der Tumor von Jared. An sich ist die Idee, wenn auch makaber, einfallsreich. Dem unsichtbaren "Bösewicht" eine Stimme zu verleihen, sein "Leben" und seinen Werdegang als Tumor zu beschreiben - ja, ihn sogar als menschlich, fehlbar und fast bemitleidenswert und gutmütig darzustellen - ist sehr gewagt. Am Anfang wird der Tumor fachmännisch als Glioblastom beschrieben, im Laufe der Geschichte gewinnt er an (Jareds) Persönlichkeit und wird fortan nur noch Glio genannt. Diese Auseinandersetzung mit Krebs und Tumoren hat für mich zwar einen makaberen Beigeschmack, ist aber im Zusammenhang mit der Handlung im Buch durchaus gelungen. Gegenüber der Gräueltaten der modernen Unterhaltungsindustrie sieht das Glioblastom schon fast harmlos aus, wenn man nur die Motive hinter den Handlungen betrachtet. Und das ist auch der Kern, die Message und das, was das Buch uns zwischen den Zeilen sagen möchte. Es will uns darauf aufmerksam machen, dass es oft die gefährlichsten Bedrohungen sind, die wir zwar sehen können, die aber dabei unsichtbar bleiben.
Jackie als tragische Protagonistin der Geschichte bekommt, wie bereits geschildert, gerade in der ersten Hälfte des Buches, für meinen Geschmack viel zu wenig Raum. Umso erstaunlicher und bemerkenswerte finde ich, dass sie bis zum Ende der Geschichte eine wahre Wandlung erlebt. Sie erwächst von einer unterschätzten Jugendlichen zu einer wahren Heldin.
Die restlichen Charaktere waren mir, wie ebenfalls bereits erwähnt zu detailliert gepackt und aus meiner Sicht auch oft überflüssig. Hier hätte man mehr Augenmerk auf die Protagonisten legen sollen, anstatt das Buch durch die vielen Nebenrollen dermaßen in die Länge zu ziehen. Ein Buch, was 100 Seiten weniger hat, kann manchmal erstaunlich viel mehr sagen, als ein Buch, welches diese Seiten besitzt.
SCHREIBSTIL:
Den Schreibstil von Vlahos kann man als trocken, fokussiert und personengebunden beschreiben. In einer Klarheit werden hier auch sehr schockierende Fakten präsentiert, was die Wirkung nur unterstreicht.
Vorrangig und präsent ist der Perspektivwechsel zwischen den vielen Charakteren. Ich habe schon mehr als einmal betont, dass es nur wenige Bücher gibt, die für mich einen Wechsel der Perspektive gekonnt einsetzen. Das Werk von Vlahos gehört leider nicht dazu. Der ständige Wechsel dient hier nicht der Geschichte, sondern reißt sie meiner Meinung nach auseinander. Ich habe mich oft ertappt, wie ich beim Lesen dachte: "Oh nein, ich habe keine Lust auf eine Passage über die Nonne, warum kann die Handlung nicht einfach weiter bei Jackie bleiben!?" Somit tut diese Art zu Schreiben rein gar nichts für die Wirkung des Buchs. Viel eindrucksvoller wäre es für mich gewesen, sich hier auf die Familie und den Tumor zu beschränken, um an dieser Stelle noch mehr Tiefe zu erreichen.
FAZIT:
Allgemein wirkt das Buch langatmig, kommt nicht richtig in Gang und nimmt erst gegen Ende richtig Fahrt auf. Großteils fehlt mir hier auch die Tiefe und das Fingerspitzengefühl, was ich von einem Buch mit der Thematisierung von schwierigen gesellschaftlichen Themen wie Sterbehilfe, Machtmissbrauch und sozialen Medien erwartet hätte. Schade, dass das Potenzial der Handlung nicht ausgenutzt wurde.
Die Charaktere sind zwar vielschichtig und eingängig, leider verliert die Geschichte durch die vielen Perspektivwechsel an Tempo und Spannung.
Ein Buch, was man mal lesen kann, welches ich aber nicht unbedingt weiterempfehlen würde. Es war mir einfach zu schwerfällig und es ging zuviel von dem verloren, was das Buch besonders macht. Auch wenn ich denke, dass es für die Interpretation in Schulstunden genug hergeben wird, bin ich etwas enttäuscht und muss zugeben, dass dieses Buch es entgegen meiner Erwartungen zu keinem Highlight 2019 schaffen konnte.