Das Leben der anderen
Surie ist in Nöten: sie erwartet Zwillinge. Und das im Alter von 57 Jahren. Dabei wird sie in Kürze zum ersten Mal Urgroßmutter. Sie wundern sich? So ging es mir auch: doch Surie lebt als Chassidin, also ...
Surie ist in Nöten: sie erwartet Zwillinge. Und das im Alter von 57 Jahren. Dabei wird sie in Kürze zum ersten Mal Urgroßmutter. Sie wundern sich? So ging es mir auch: doch Surie lebt als Chassidin, also als strenggläubige Jüdin, in Williamsburg, New York. Das bedeutet, sie lebt unter ihresgleichen, denn in ihrem Viertel haben die Chassiden seit vielen Jahren eine eigene Welt geschaffen, in die sie die andere Welt, von der sie umgeben sind, nicht hineinlassen. Oder nur in Notfällen.
Surie blickt auf eine riesige Familie: gemeinsam mit ihrem Mann Yidel, mit dem sie seit 41 Jahren verheiratet ist - glücklich, wie es mir während der Lektüre an verschiedenen Stellen klar wurde - auf 10 Kinder, über 30 Enkel und Schwiegereltern und weiß nicht, was sie machen soll. Denn es ist ein Tabu - Kinder zu haben, wenn man bereits Uroma ist - und vor allem: dadurch wird klar, dass "es" noch in ihrer Ehe eine Rolle spielt. Bettgeschichten also. Das ist ein noch viel größeres Tabu.
Der Leser darf Surie in ihren Alltag begleiten, mit ihr die Hebamme Val besuchen, eine Frau aus "unserer" Welt, die bisher alle Kinder Suries zur Welt gebracht hat und Surie gute Ratschläge und Handlungsoptionen an die Hand gibt. Der Weg, den Surie einschlägt, gehört definitiv nicht dazu: sie schweigt. Und zwar allen gegenüber.
Ja, es ist ein "Leben der anderen", in das ich hier eingetaucht bin. Viel zu kurz übrigens, denn ich habe das Buch in einem Zug durchgelesen: Ich konnte einfach nicht anders, so haben mich Inhalt wie auch der mild ironische Stil der Autorin mitgerissen.
Suries Welt ist Lichtjahre entfernt von der meinigen. Und auch wieder nicht: ich las hier über eine etwa gleichaltrige Frau, deren Kosmos ein ganz anderer ist als der meinige und fand doch immer wieder Parallelen: Sind wir doch alle Gottes oder Allahs Kinder, bzw. Erdenbewohner, bzw. Nachkommen der Neandertaler oder was auch immer derjenige, der gerade zu Wort kommt, glaubt.
Ein wunderbarer, faszinierender Roman über eine zweifelnde Frau.