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Veröffentlicht am 05.08.2021

ein verdient preisgekrönter Roman

Der Nachtwächter
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In ihrem Roman „Der Nachtwächter“ weckt die bekannte amerikanische Autorin Louise Erdrich nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine wichtige Epoche in der Geschichte der Native Americans, sondern ehrt auch ...

In ihrem Roman „Der Nachtwächter“ weckt die bekannte amerikanische Autorin Louise Erdrich nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine wichtige Epoche in der Geschichte der Native Americans, sondern ehrt auch den Einsatz ihres Großvaters für sein Volk.
Seit dem 19.Jahrhundert wurden die amerikanischen Ureinwohner in Reservaten zusammengedrängt, oft auf zu kleinen Landflächen schlechter Qualität. Dort kämpfen sie ums Überleben, sind gezwungen, sich dem Lebenswandel und den Ideologien der Weißen anzupassen, und versuchen dabei, ihre eigene Identität und ihre Gebräuche aufrechtzuerhalten. Anfang der 1950er Jahre wird vom Kongress ein Gesetz verabschiedet, dass die zugesicherten Anrechte der Native Americans zurücknimmt, sie zur Zahlung von höheren Steuern verpflichten soll und zur Umsiedelung in die Städte bewegen, was einer Auslöschung der Stämme gleichkommt.
Dies betrifft auch den Stamm der Turtle Mountain Band of Chippewa, dessen Vorsitz Louise Erdrichs Großvater zu dieser Zeit innehatte. Im Roman lebt Thomas Wazhashk diese Rolle, er kümmert sich um seine Farm, die Belange seines Stammes und schreibt während seiner Nachtwachen in der Lagersteinfabrik Briefe an öffentliche Stellen und Personen, um für ihre Rechte einzustehen. Als er von dem geplanten Terminierungsgesetz hört, kann er den Inhalt zunächst nicht glauben, setzt sich dann intensiv damit auseinander und organisiert eine Delegation nach Washington, um dort ihr Anliegen zu vertreten.
Neben diesem Hauptthema gibt die Autorin einen Eindruck in das Leben der Chippewa zu dieser Zeit. Der Leser nimmt an den Gedanken und Eindrücken mehrerer Stammesmitglieder teil aber auch einiger Weißer, die im Reservat leben oder dieses besuchen. Es wird eindrucksvoll vermittelt, wie die verschiedenen Personen und unterschiedlichen Generationen mit dem Umbruch in ihrer Gesellschaft umgehen, sich der Lebensweise der Weißen anpassen oder an den Anforderungen scheitern, sich zum christlochen Glauben bekennen und dennoch ihre alten Gebräuche und Ahnen ehren. In vielen Szenen und Gesprächen zeigt sich, wie unterschiedlich die Werte der Weißen und der Chippewa sind, wie anders ihr Blick auf die Welt und ihr Umgang mit der Natur.
Mich hat das Buch sowohl inhaltlich als auch sprachlich beeindruckt. Trotz der vielen Charaktere hatte ich nie den Eindruck, den Überblick zu verlieren. Die Autorin weckt auf sensible Weise Verständnis für das Leben und Denken der Native Americans für das Leid, dass sie erfahren haben, aber sie zeigt auch die Stärken auf, die in der Gemeinschaft einer Familie oder eines Stammes stecken können. Diese wunderbar feinsinnige Geschichte hat mein Interesse geweckt, noch weitere Geschichten dieser Autorin zu entdecken.

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Veröffentlicht am 03.05.2021

ein bemerkenswerter Thriller um Gewalt und Hass gegen Frauen

Rattenkönig
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Bei dem Thriller „Rattenkönig“ von Pascal Engman ist die Geschichte so vielschichtig und greift so viele Interessante Aspekte auf, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll.
Zu Beginn wird eine junge Frau, ...

Bei dem Thriller „Rattenkönig“ von Pascal Engman ist die Geschichte so vielschichtig und greift so viele Interessante Aspekte auf, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll.
Zu Beginn wird eine junge Frau, Emelie Rydén, tot in ihrer Wohnung in Stockholm aufgefunden, getötet durch mehr als mehr zwanzig Messerstiche. Emelie hatte sich gerade von ihrem Freund Karim Laimani getrennt, der im Gefängnis noch einen kleinen Rest seiner Haftstrafe absitzen muss, da sie mit einem neuen Partner ein neues Leben in Malmö beginnen wollte. Vanessa Frank, die bereits im ersten Band der Reihe mit dem Titel „Feuerland“ eine Hauptrolle gespielt hat, wird an den Ermittlungen beteiligt und bekommt schnell den Eindruck, dass hier irgendetwas nicht stimmt.
Ein weiterer Handlungsstrang folgt Jasmina Kovac, einer jungen Reporterin der Zeitung „Kvällspressen“, die unter anderem zum #Metoo-Thema recherchiert und auf grausame Weise nicht nur selber zum Opfer grausamer Gewalt wird, sondern auch durch einen Kollegen und ihren selbstherrlichen Chef Frauenhass und -diskriminierung erleiden muss.
Gewalt gegen Frauen in verschiedener Form zieht sich wie ein roter Faden durch den Thriller, wobei es der Autor schafft, neben dem Einfluss von Journalisten auch die zunehmende Bedeutung der sozialen Medien eindrucksvoll und in teils verstörenden Bildern in Szene zu setzen.
Tom Lindbeck ist ein weiterer Charakter, der mir beim Lesen eine Gänsehaut verschafft hat. Er steht beispielhaft für die Gruppierung der sogenannten Incels, jungen Männern, die den Frauen die Schuld dafür geben, dass sie keine Partnerin finden. Ihre schnell wachsende Zahl ist ebenso beängstigend wie der in Gewalt ausschlagende Hass auf Frauen, der nicht nur in den Foren verbreitet wird sondern auch in der Realität ausgelebt. Mit Tom Lindbeck zeigt der Autor auf erschreckende Weise, wie sich dieser Hass immer weiter entwickelt und zu fatalen Aktionen führen kann.
Der Spannungsbogen ist hoch, es passiert viel, die klare Gliederung der Geschichte sorgt jedoch dafür, dass man nicht den Überblick verliert.
Neben den teils drastischen und brutalen Szenen gibt es aber immer wieder auch Ruhephasen, kleine Nebenhandlungen, die die Geschichte auflockern. Dazu gehört die liebevolle Beziehung der Obdachlosen Eva Lind und Börje Rohdén, die eine wichtige Rolle spielen, oder auch die Szenen zwischen Nicolas Paredes, einem weiteren Protagonisten, der schon aus dem ersten Band bekannt ist, und Celine, dem 12-jährigen und frühreifen Mädchen aus seiner Nachbarwohnung.
Es fasziniert mich immer wieder, wie der Autor mit knappen Worten und Sätzen eine derartige Intensität schafft, in gewalttätigen Szenen ebenso wie in kleinen zwischenmenschlichen Beziehungen, die nebensächlich scheinen aber die Geschichte so lebendig und real wirken lassen.
Es ist schwierig, die ganze Bandbreite dieses Thrillers in einer Rezension wieder zu geben, wer Thriller mag, dem kann ich diesen Band sehr empfehlen.

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Veröffentlicht am 25.04.2021

ein bemerkenswertes Debüt mit einer stimmungsvollen Geschichte

Kronsnest
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Der Roman „Kronstnest“ von Florian Knöppler ist ein bemerkenswertes Debüt, das eines der Lesehighlights meines Jahres bleiben wird, und das nicht nur, weil er in der Nähe meines Heimatortes spielt.
Im ...

Der Roman „Kronstnest“ von Florian Knöppler ist ein bemerkenswertes Debüt, das eines der Lesehighlights meines Jahres bleiben wird, und das nicht nur, weil er in der Nähe meines Heimatortes spielt.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 15-jährige Hannes, der Ende der 1920er Jahre in der Elbmarsch in der Nähe der Krückau auf einem ärmlichen Bauernhof aufwächst und seinem Vater bei den anfallenden Arbeiten zur Hand geht. Hannes ist ein aufgeweckter, sensibler Junge, der in der Schule unter Mobbing zu leiden hat und es dem strengen Vater auf dem Hof nie recht machen kann. Von seiner Mutter hat Hannes die Liebe zu Büchern geerbt, die ihm eine Flucht bieten aus dem tristen Alltag ebenso wie die aufkeimende Freundschaft zu Mara, der Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers, die ihn zu Ausflügen mit gleichaltrigen Jugendlichen mitnimmt.
Die Geschichte wird in ruhigem Ton erzählt, der Autor versteht es, mit wenigen prägnanten Worten deutliche Bilder zu schaffen von dem Leben der damaligen Zeit, der Landschaft, die mal lieblich mal rau daherkommt, und dem arbeitsreichen Alltag auf den kleinen Höfen in der Elbmarsch. Die Wirtschaftskrise macht auch den Bauern zu schaffen, es wird zunehmend schwerer rentable Preise zu erzielen, das bereitet auch in dieser Gegend dem aufkeimenden Nationalsozialismus offenen Türen.
Hannes steht nicht nur an der Schwelle zum Erwachsenwerden und muss mit wechselnden Gefühlen kämpfen, auch das Leben um ihn herum befindet sich im Wandel und macht es ihm schwer, seinen Platz zu finden.
Der Leser begleitet in erster Linie Hannes Entwicklung aber auch die einiger seiner Freunde, die in zum Teil ganz unterschiedlichen Bedingungen aufwachsen. Dabei entsteht eine zunehmende Nähe insbesondere zu der Hauptfigur, man kann seinen Erlebnissen und tiefsten Gedanken folgen. In vielen Szenen ist es dabei gerade das Ungesagte, das tief nachhallt, eine ganz besondere Atmosphäre schafft und die Figuren so real erscheinen lässt. Mir hat der Stil dieser Geschichte ausgesprochen gut gefallen, die knappen Worte, die Pausen und die manchmal bedächtige Art und Weise der Charaktere passen gut zu der Gegend und den Menschen, die dort leben. Einerseits haben viele der geschilderten Szenen den Charakter eines Gemäldes, dann wieder lassen sie viel Raum für Kopfkino.
Ich wünsche diesem Debüt eine breite Aufmerksamkeit, da ich es sowohl inhaltlich als auch sprachlich bemerkenswert finde, und freue mich darauf, dass bereits die Veröffentlichung der Fortsetzung in Planung ist. Auf Ausflügen nach Kollmar und Glückstadt werde ich die Landschaft mit anderen Augen betrachten.

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Veröffentlicht am 13.03.2021

ein Road-Trip in die Vergangenheit

Als wir uns die Welt versprachen
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In ihrem Roman „Als wir uns die Welt versprachen“ erzählt Romina Casagrande nicht nur eine bewegende Geschichte, sondern macht zudem aufmerksam auf ein wenig rühmliches Stück Zeitgeschichte. Vom 17. Jahrhundert ...

In ihrem Roman „Als wir uns die Welt versprachen“ erzählt Romina Casagrande nicht nur eine bewegende Geschichte, sondern macht zudem aufmerksam auf ein wenig rühmliches Stück Zeitgeschichte. Vom 17. Jahrhundert an wurden jährlich bis zu 4000 Kindern aus verschiedenen Alpenregionen als Arbeitskräfte auf Höfe überwiegend in Schwaben gebracht. Aufgrund zunehmender Armut in den ländlichen Bergregionen zogen die Kinder vor Beginn des Frühjahrs über die Berge nach Norden, um dort auf „Kindermärkten“ an die Bauern weitervermittelt zu werden.
Edna, Hauptfigur des Romans, gehört zu einer der letzten Generationen, die kurz vor dem 2. Weltkrieg diesen Weg gehen muss und auf einem Hof in der Nähe Ravensburgs landet. Dort lernt sie den gleichaltrigen Jacob kennen, der sie gegen die harte Behandlung auf dem Hof zu schützen versucht. Das Schicksal trennt die beiden, Edna fühlt sich Jacob gegenüber jahrelang schuldig, dass sie nur seinen Vornamen kennt, macht es ihr unmöglich, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
Sie ist fast 90 Jahre alt, als sie in einer Zeitschrift ein Bild von Jacob entdeckt. Um endlich ihre Schuld begleichen zu können, bricht sie auf zu einer lange vorbereiteten Reise, die sie auf der Route zurück nach Ravensburg führt, die sie vor vielen Jahren als Kind genommen hat. Mit dabei ist auch Endas Papagei Emil, der damals auf dem Hof insbesondere Jacob viel bedeutet hat.
Der Roman wird in zwei Zeitebenen erzählt, neben der aktuellen Reise bekommt der Leser in Rückblenden Einblicke in das beschwerliche Leben Ednas auf dem Hof und die Historie der Schwabenkinder. Insbesondere die Schilderungen aus kindlicher Sicht erzeugen mit ihrer Schlichtheit und ihrem emotionalen Gewicht ein Gefühl der Beklommenheit.
Ednas Reise scheint zunächst unter keinem guten Stern zu stehen, sie muss einige Hürden überwinden, wirkt zudem verwirrt und nicht in der Verfassung, diesen schweren Weg zu überstehen. Diese Reise ist nicht nur physisch für sie eine Herausforderung, sondern auch ein Weg zurück in ihre Vergangenheit zu lange verschlossenen Erinnerungen.
Die Autorin schafft es, dieses ernste Thema auf eine unterhaltsame Weise aufzuarbeiten. Ednas manchmal schrullig wirkende Art lockert die Geschichte ebenso auf wie ihre zum Teil komisch anmutenden Begegnungen. Die Geschichte ist bewegend und regt zum Nachdenken an über den Umgang der Menschen miteinander, Freundschaft und Loyalität aber auch das Loslassen und Vergessen.

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Veröffentlicht am 04.03.2021

ein empathischer Roman über das Erwachsenwerden

Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf)
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Finn und Paul sind seit Kindheitstagen enge Freunde, kurz vor dem Abi bekommen ihre Bande Risse, als Paul sich immer mehr von ihrem Mitschüler Khalil beeinflussen lässt, dem Finn misstraut. Kurz vor den ...

Finn und Paul sind seit Kindheitstagen enge Freunde, kurz vor dem Abi bekommen ihre Bande Risse, als Paul sich immer mehr von ihrem Mitschüler Khalil beeinflussen lässt, dem Finn misstraut. Kurz vor den Abiprüfungen kommt es zu einem tragischen Unfall, bei dem Paul schwer verletzt wird und als Folge damit leben muss, dass sein Kurzzeit-Gedächtnis jede Nacht gelöscht wird. Jeden Morgen wacht er auf ohne Erinnerung an den Unfall oder die danach vergangene Zeit. Mit einem dicken Notizbuch versucht er, an die Ereignisse Anschluss zu halten. Während dessen verliert sein ehemaliger Freund Finn nicht nur den Kontakt zu Paul, sondern auch jegliche Perspektive für die Zukunft.
Doch dann erhält Paul in der Reha einen alarmierenden Brief von Khalil, der befürchten lässt, dass er einen terroristischen Anschlag plant. Würde Khalil so weit gehen? Paul sieht den Brief als einen Hilferuf und will Khalil aufhalten. Da er dazu Hilfe benötigt kontaktiert er Finn, der sich schließlich überreden lässt, Paul mit einem Trick aus der Klinik zu holen und sich auf die Suche nach dem untergetauchten Khalil zu machen. Ihr Road-Trip führt sie über Berlin und London bis nach Hamburg, wo gerade der G20-Gipfel stattfindet.
Auf ihrer Reise entwickeln die Freunde nicht nur gezwungenermaßen ein neues Verhältnis zueinander, sie finden auch Zeit, sich sowohl mit ihrer Vergangenheit als auch mit ihrer Zukunft auseinander zusetzten, so dass die Reise auch einen Weg ins Erwachsenwerden darstellt.
Das Buch ist nicht immer einfach zu lesen, die Hauptfiguren sind nicht unbedingt Sympathieträger, die Stimmung insbesondere zu Anfang eher düster. Doch Paul und Finn entwickeln sich weiter, kommen aus sich heraus, je größer ihr Abstand von ihren Elternhäusern wird, umso mehr können sie zu sich selbst finden. Dabei gelingt es Orkun Ertener immer wieder den Leser zu überraschen. Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint, die Idylle trügt ebenso wie manch scheinbar negativer Einfluss. Der Autor sät immer wieder Zweifel daran, ob das Offensichtliche Bestand hält, so dass man beim Lesen die Geschichte immer mehr zu hinterfragen beginnt. Der Roman ist ebenso lebendig wie empathisch angelegt und hat mich immer mehr in seinen Bann gezogen. Vielleicht bewegt mich das Thema besonders, da ich selbst Kinder in ähnlichem Alter habe. Auch nach der Lektüre merke ich, dass die Geschichte mich in meinem Umgang mit meinen Kindern beeinflusst, mich aufmerksamer werden lässt und bewusster darüber nachdenken, wo sie Freiräume brauchen und wo Hilfestellung auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

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