REZENSION – Wer sich mit den möglichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere Gesellschaft beschäftigen will, kann viele Bücher lesen. Empfehlenswerter ist aber die Lektüre des kleinen, im Mai beim Luchterhand-Verlag erschienenen Büchleins „Trotzdem“. Wie schon in ihrem ersten beeindruckenden Gesprächsband über „Die Herzlichkeit der Vernunft“ (2017) überzeugen auch diesmal die beiden Schriftsteller-Juristen Ferdinand von Schirach (56) und Alexander Kluge (88) durch Intellekt, Scharfblick und Weitblick. Das gerade in seiner Kürze und Prägnanz beeindruckende, auf knapp 80 Seiten festgehaltene Gesprächsprotokoll der beiden Juristen beantwortet Fragen von der Rechtmäßigkeit heutiger Einschränkungen bis zur Zukunft Europas.
Das Corona-Virus schafft eine Zeitenwende, vermuten beide Juristen, die Zweierlei möglich macht - „das Strahlende und das Schreckliche“. Das „Schreckliche“ zuerst: Während manche einen „Shutdown unserer Grundrechte“ zu erkennen glauben, bleibt Schirach zuversichtlich: „Wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung. Noch immer muss das Parlament entscheiden.“ Doch auch er warnt vor einer „Verfestigung autoritärer Strukturen“, an die sich die Menschen bald gewöhnen könnten, und fordert deshalb zwingend eine zeitliche Befristung jeder Maßnahme, die zudem vier Voraussetzungen erfüllen muss: „Sie muss einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.“ Würde man zum Beispiel allen Menschen die Fahrerlaubnis entziehen, um Leben zu schützen und Tausende Verkehrstote pro Jahr zu vermeiden, wäre auch dies zwar legitim, aber nicht angemessen.
Doch diese Frage scheint beiden Gesprächspartners eher unwichtig zu sein, weshalb sie sich stattdessen der weitaus interessanteren Frage nach langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere gesellschaftliche Entwicklung zuwenden. Wie das verheerende Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 die europäischen Völker von ihrem bisherigen Gottesglauben entfernte und dadurch zum beschleunigenden „Katalysator der Aufklärung“ wurde, indem rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen überwand, so kann auch die weltweite Corona-Pandemie unsere Gesellschaft auf einen neuen Weg führen. So könne kein Politiker in Zukunft behaupten, Klimaschutzmaßnahmen seien nicht zu verwirklichen, weil sie zu teuer sind oder die Gesellschaft zu sehr einschränken. „Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht“, folgert Schirach aus dem aktuellen Shutdown.
Ähnlich der amerikanischen Verfassung, die 1787 ungeachtet der weit verbreiteten Sklaverei dennoch das Recht auf Leben und persönliche Freiheit forderte, sollten sich die EU-Staaten eine vorausschauende europäische Verfassung geben - mit dem Anspruch auf eine intakte Umwelt und der klaren Forderung, wirtschaftliche Interessen grundsätzlich den universalen Menschenrechten nachzustellen. Solche Forderungen seien nicht weniger utopisch, als jene der amerikanischen Verfassung.
Dieses kleine, mit seinem grauen Einband so unscheinbare Büchlein „Trotzdem“, nicht einmal 80 Seiten stark, hat es wahrlich in sich: Einerseits ist es ein Protest, sich als Mensch nicht von Pandemie und Einschränkungen unterkriegen zu lassen, sondern an die Zukunft zu glauben. Andererseits ist es nichts weniger als ein eindrucksvoller Aufruf zweier selten kluger Köpfe, den Shutdown als eine einmalige Chance für einen sinnvollen Neuanfang, einen wohl überlegten und zukunftsweisenden Wiederaufbau zu nutzen, statt gedankenlos und allzu bequem die veralteten Strukturen mit ihren längst erkannten Mängeln wieder aufzunehmen.