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Veröffentlicht am 05.01.2022

Auf der Suche nach dem guten Konsum

Kauf mich!
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„Das Gefühl, etwas gefunden und genug zu haben, das gibt’s eigentlich nicht.“ (8%)

Wir alle sind Konsumenten. Immer und überall. Die gesamte Gesellschaft scheint sich darüber zu definieren, was der einzelne ...

„Das Gefühl, etwas gefunden und genug zu haben, das gibt’s eigentlich nicht.“ (8%)

Wir alle sind Konsumenten. Immer und überall. Die gesamte Gesellschaft scheint sich darüber zu definieren, was der einzelne kauft und besitzt. Und wenn man das realisiert und vielleicht sogar beschließt, aus diesem System auszusteigen, spürt man plötzlich, wie abhängig man vom Konsum ist; wie sehr sich dieses Immer-mehr-haben-Wollen zutiefst in unser Leben eingegraben hat.

Wir kaufen, um uns etwas Gutes zu tun, um uns weniger einsam zu fühlen oder um unseren Platz in der Gesellschaft zu etablieren. Und außerdem haben wir alle natürlich Grundbedürfnisse und müssen beispielsweise Lebensmittel einkaufen. Wir können also gar nicht anders. Ein gewisses Maß muss gedeckt sein. Aber wir können uns das teils perfide System klar machen und zu mündigen Konsumenten werden. Dazu müssen wir allerdings verstehen, wie dieses System funktioniert und warum wir da eigentlich bisher so naiv mitspielen.

Nunu Kaller deckt diese Zusammenhänge auf vielfältige Weise auf. Sie hinterfragt ihr eigenes Verhalten und ihre Gedanken. Sie spricht mit diversen Experten wie z.B. Psychologen über dieses Thema. Und sie zeigt uns unsere Grenzen als Einzelpersonen auf. Niemand von uns allein kann dieses System ändern und es ist eine geschickte Strategie, dem einzelnen Konsumenten die Verantwortung für nachhaltige Kaufentscheidungen aufzubürden.
Wir sollten uns vor Augen halten, dass wir bei jedem Kauf(an)reiz Spielfiguren im Dauerkonsumspiel unserer Zeit sind. Wenn wir das verstehen und die Spielregeln dieses Spiels durchschauen, wird es einfacher. Dann können wir uns wieder mündiger verhalten.

Nunu Kaller ist mit „Kauf mich!“ ein sehr umfassendes und entlarvendes Buch zum Thema Konsum gelungen. Nach dieser Lektüre geht man mit offeneren Augen durchs Leben. Der Tonfall reicht von humorvoll bis bissig. Und ich muss einschränkend sagen, dass ich mich dadurch manchmal vor den Kopf gestoßen fühlte. Manches war auch so unangenehm, dass ich danach direkt das Bedürfnis hatte, etwas Hübsches zu kaufen, um meiner geschundenen Seele etwas Gutes zu tun.
Insgesamt ist dieses kurzweilige Buch aber absolut bereichernd.

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Veröffentlicht am 14.03.2021

Starkes und aufrüttelndes Buch

Female Choice
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„Das, womit wir im Moment hadern, ist die Erkenntnis, dass die Zivilisation fast nur für eine Sorte Mensch funktioniert: den Mann.“ (3%)

Die Zivilisation hat ihren Beginn in der Landwirtschaft und dem ...

„Das, womit wir im Moment hadern, ist die Erkenntnis, dass die Zivilisation fast nur für eine Sorte Mensch funktioniert: den Mann.“ (3%)

Die Zivilisation hat ihren Beginn in der Landwirtschaft und dem damit verbundenen Sesshaftwerden der Menschen. Davor herrscht ein anderes Prinzip der „Gesellschaftsordnung“ - eines, das uns aus dem Tierreich sehr bekannt ist -, nämlich das der Female Choice:
Die Frauen wählen ihre Sexualpartner (dabei gehen 80% der Männer leer aus) und das Zusammenleben gestaltet sich um stillende Mütter und ihren Nachwuchs.

Die Zivilisation, in der wir auch heute leben, ist vom Mann gestaltet und gründet darauf, das Prinzip der Female Choice ausgehebelt zu haben.
Dabei spiegelt sich das natürliche männliche Konkurrenzbestreben in den künstlich geschaffenen Hierarchien der Gesellschaft und des Arbeitslebens wider. Allerdings können es durch ein Mittel wie Geld nun auch Männer an die Spitze schaffen, die eigentlich nicht das Zeug zum von der Frau erwählten Alphamännchen gehabt hätten. In diesem System - in der Öffentlichkeit - spielen Frauen keine Rolle. Sie werden auf die Männer aufgeteilt (jeder bekommt eine) und verschwinden in der Häuslichkeit. Dass nun im Prinzip jeder Mann mit einer Sexualpartnerin versorgt ist, sorgt weitestgehend für Ruhe und Frieden.

Meike Stoverock beschreibt so in ihrem Buch die geschichtliche Entwicklung unserer heutigen Gesellschaft. Als promovierte Biologin weiß sie aber auch die Prinzipien zu erklären, die der Sexualität der Menschen zugrunde liegen.
In ihrer Beschreibung liegt unheimlich viel Sprengkraft - ihre Analyse ist entlarvend und bestimmt auch eine bittere Pille für manch einen, der gerne am Bekannten festhalten möchte (und sei es nur gedanklich). Aber alle Behauptungen kann sie begründen und erläutern.

Für mich war die Lektüre dieses Buches nicht nur mit einem hohen Erkenntnisgewinn verbunden, sondern auch mit viel Spaß: Dieses Sachbuch ist unterhaltend und humorvoll, denn der Ton der Autorin ist frech und sehr deutlich.

Die Autorin spricht dabei viele wichtige Themen an: Religion, die moderne Lohnarbeit, Mutterschaft und die Rolle der Frau, unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse, hormonelle Verhütung, die Errungenschaften des Feminismus…

Dass der Feminismus schon einige wichtige gesellschaftliche Verbesserungen für Frauen erreicht hat, macht sie genau so deutlich wie sie es in den zeitlichen Kontext zu setzen weiß, dass da noch vieles kommen muss und wird. Dabei fordert sie nicht, dass zum Prinzip der Female Choice zurückgekehrt wird, wie es vor dem Sesshaftwerden des Menschen vorherrschte. Denn sie sagt auch sehr deutlich, dass dieses Prinzip in unserer modernen Zivilisation für Aggressivität und Gewalt sorgen würde.

Im letzten Viertel des Buches versucht Stoverock eines Ausblick zu geben, wie eine Gesellschaft funktionieren kann, in der die Frau eine aktive Rolle hat und selbst über ihre Sexualität bestimmt. Sie nennt dabei einige Ideen - auch, um die potentielle Gewalt abzufedern (die man übrigens heute schon beobachten kann, Stichwort „Incels“). Und diese Vorschläge waren mir größtenteils eher suspekt.

Das ist auch der Grund, warum ich diesem starken und wirklich gut argumentierten Sachbuch nur vier von fünf Sternen geben möchte.

Darüber hinaus lohnt es sich aber sehr, dieses Buch zu lesen, weil es die Gedanken öffnet und Mut macht.

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Veröffentlicht am 06.03.2020

Szenen einer Ehe auf Hornby-Art

Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst
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»Wir fangen an zu reden, jemand sagt was Falsches, und dann reden wir nur noch über dieses Falsche.« (62%)

Tom und Louise sind schon seit einigen Jahren verheiratet, haben gemeinsame Kinder. Nach einem ...

»Wir fangen an zu reden, jemand sagt was Falsches, und dann reden wir nur noch über dieses Falsche.« (62%)

Tom und Louise sind schon seit einigen Jahren verheiratet, haben gemeinsame Kinder. Nach einem Fehltritt Louises gehen sie nun zur Paartherapie, um ihre Ehe zu retten. Sie treffen sich vor jeder Sitzung in einem Pub gegenüber der Therapiepraxis. Worüber sie sich dort unterhalten, erfahren wir im Roman. Zehn Sitzungen, zehn Vorabtreffen im Pub, zehn Kapitel.

Während man am Anfang noch denkt „Lasst es doch lieber, ihr beiden!“, kommt man ganz schnell zu der Einsicht, dass die beiden irgendwie zusammengehören. Was die Zeit eben so aus einer Beziehung macht, das zeigen die Schlagabtäusche der Eheleute sehr deutlich auf. Sehr real und gleichzeitig natürlich zugespitzt. Szenen einer Ehe auf Hornby-Art.

Leider ist die Geschichte so kurz. Kaum ein ganzes Buch. Aber es passt auch irgendwie zu der sehr szenischen, komprimierten Erzählweise.

Ich denke, dass dieses Büchlein sehr schlau ist. Dass es etwas aufzeigt, dass viele Leute in einer langjährigen Beziehung so bestätigen könnten. Und es hat ein schönes, mutmachendes Ende - wenn man das so vorwegnehmen darf…

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Veröffentlicht am 19.02.2019

Jede Art von Ungewöhnlichkeit wird herausgequetscht

Onkel Stan und Dan und das ungeheuerlich ungewöhnliche Abenteuer
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"Aber inzwischen machten sich alle im Dorf Sorgen wegen der Ungewöhnlichkeit. Keiner von ihnen wusste genau, wann Dr P’Krall in seinem Besenschrank oder Gartenschuppen oder Badezimmer auftauchen und ihm ...

"Aber inzwischen machten sich alle im Dorf Sorgen wegen der Ungewöhnlichkeit. Keiner von ihnen wusste genau, wann Dr P’Krall in seinem Besenschrank oder Gartenschuppen oder Badezimmer auftauchen und ihm ein neues Flugblatt über Ungewöhnlichkeit in die Hand drücken oder einen Vortrag über Ungewöhnlichkeit halten würde.“ (38/39)

Dachs Dan und Onkel Stan sind die besten Freunde. Sie sind fröhlich und leben in einer beschaulichen, aber sehr ungewöhnlichen Welt. Außer ihnen gibt es auch noch ein paar - ebenfalls eher ungewöhnliche - Lamas. Eines Tages stellt Dr P’Krall ihre Welt auf den Kopf, denn er hat sich vorgenommen "jede Art von Ungewöhnlichkeit aus dem Leben herauszuquetschen“. So bringt er Onkel Stan eines Tages in seinem Institut für Hochsicherheit und Heilung von Ungewöhnlichkeit unter und nimmt Dachs Dan damit seinen besten Freund.

So nimmt das Abenteuer seinen Lauf…

Es gibt schon ein weiteres Abenteuer von Stan und Dan, doch dieser Band ist der erste, den ich bisher gelesen habe. Dieser zweite Band scheint durchaus auf dem ersten aufzubauen, man kann ihn aber auch unabhängig davon lesen und verstehen.

Mir gefallen die freche und kreative Sprache, der Wortwitz und die Behäbigkeit des Abenteuers Das Buch ist für Erstleser ab 9 Jahren und ich denke, dass die Altersangabe passt. Die Illustrationen sind nicht zu üppig und alle schwarzweiß und eher einfach gehaltene Strichzeichnungen. Jedes Kapitel beginnt mit einer kleinen Inhaltsangabe. Das ist für die junge Leserschaft bestimmt interessant und führt sie an dieses Stilmittel heran.

Wir brauchen längere Geschichten zum Vorlesen im Bett, damit meine Stimme und die Geschichte eine Chance haben, unseren dreijährigen Sohn in den Schlaf zu tragen. So passt er zwar nicht in die Alterszielgruppe, dennoch gefällt ihm das Buch. Es ist fantasievoll und spannend. Tagsüber kann er das Vorgelesene nachspielen.

Veröffentlicht am 21.09.2017

Eine sehr lange, gemächliche Erzählung

Swing Time
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„Es ist ein Leben im Schatten und irgendwann zermürbt einen das.“ (592)

Ein solches Leben führt die Erzählerin des Romans. Als Kind einer Jamaikanerin und eines Engländers fühlt sie sich im London der ...



„Es ist ein Leben im Schatten und irgendwann zermürbt einen das.“ (592)

Ein solches Leben führt die Erzählerin des Romans. Als Kind einer Jamaikanerin und eines Engländers fühlt sie sich im London der 80er Jahre, in dem sie ihre Kindheit verbringt, zwar irgendwie fremd, aber doch auch geborgen. In ihrem Viertel sind viele Familien mit Migrationshintergrund. Man bleibt gewissermaßen unter seinesgleichen und lebt in recht geordneten Bahnen. Ihr Vater ist sehr aufmerksam und freundlich, ihre Mutter lebt für ihren Wunsch nach Emanzipation (nicht nur persönlicher, sondern allgemeiner).
Die Erzählerin ist zwar klug und verfügt über eine gute Beobachtungsgabe, gleichzeitig schwirrt sie aber sehr um sich selbst mit ihren Gedanken und Wahrnehmungen. Sie hat eigentlich nur ein Interesse: Den Tanz. Doch selbst ist sie auf diesem Gebiet nur mittelmäßig begabt und so kann sie nur andere bewundern. Als Kind schließt sie sich einem Mädchen ihrer Ballettgruppe an. Dann wählt sie ohne große Passion einen Studiengang und gerät mehr zufällig in den Job als persönliche Assistentin eines Popstars. Sie betreut das karitative Projekt ihrer Chefin in Afrika mit: Die Gründung einer Mädchenschule. Ein charakterstärkerer Mensch wäre bei dieser Gelegenheit vielleicht auf Identitätssuche gegangen. Sie jedoch treibt nur zehn Jahre an der Seite des Popstars mit, ohne eigene Besonderheiten. Am Ende trifft sie wieder auf das Mädchen aus der Ballettschule.

„Swing Time“ ist ein über 600 Seiten dicker Schmöker, dem teilweise der Rote Faden zu fehlen scheint. Die Story plätschert dahin, die recht persönlichkeitslose Protagonisten nimmt uns mit in ihr Leben, das zwar nicht unbedingt ereignislos ist, aber dennoch sehr unspektakulär.
Das Besondere des Buches liegt wohl gerade in dieser Perspektive. Die namenlose Erzählerin ist ein sehr formbarer, angepasster Mensch. Ein Normalo ohne Ecken und Kanten, der aus seinem Leben erzählt, ohne dabei ein konkretes Erzähl-Ziel zu verfolgen. Nichts an der Geschichte scheint gestrafft oder künstlerisch zurechtgebogen. Aber am Ende fügt sich dann sogar diese scheinbar ziellose Geschichte zu einer runden Sache.

Wer es mag, sich über viele Lesestunden von einer Erzählung tragen lassen, und nicht unbedingt Handlungsstärke braucht, ist mit diesem Roman gut bedient.
Es fließen immer mal wieder interessante Alltagsbeobachtungen und intelligente Kommentare über das Leben ein.

„Was wusste sie schon von den Wellen der Zeit, die eine nach der anderen über uns hinwegrollten? Was wusste sie schon vom Leben als ständig provisorischem, niemals vollständigem Über-Leben dieses Vorgangs?“ (197)