Ein verhängnisvoller Besuch mit unfassbaren Folgen...
Der 17-jährige Benoît freut sich, als im Mai endlich seine fast 25-jährige Schwester Louise mit ihrem Mann Vincent und ihren beiden Kindern, dem achtjährigen Fabien und dem etwas jüngeren Luc, für ein ...
Der 17-jährige Benoît freut sich, als im Mai endlich seine fast 25-jährige Schwester Louise mit ihrem Mann Vincent und ihren beiden Kindern, dem achtjährigen Fabien und dem etwas jüngeren Luc, für ein paar Tage zu Besuch ins Elternhaus kommen.
Benoît und seine hinreißende und hübsche Schwester, die schon mit 16 Jahren Mutter geworden ist und ihre Söhne liebevoll, geduldig und gutmütig erzieht, haben nach wie vor eine innige emotionale Verbindung, obwohl sie sich nur noch selten sehen.
Mit ihrem Mann Vincent scheint die anspruchslose und nachsichtige, noch sehr unreife Louise nicht das große Los gezogen zu haben. Er ist unzufrieden mit seinem Schicksal, überwiegend schweigsam, herablassend, gereizt und schroff.
Die Mutter von Louise und Benoît, die sich vor ca. 9 Jahren, also kurz vor dem „Schlamassel mit Louises Schwangerschaft“, von ihrem Mann, dem Vater der Geschwister, getrennt hat, hat ihren Unmut über die frühe Schwangerschaft Louises und deren Weigerung, abzutreiben, immer noch nicht begraben, so dass sie auch bei diesem seltenen Besuch der jungen Familie nur gebremst freundlich entgegentritt und wenig zugänglich ist.
Eines Nachmittags machen Benoît und Louise mit den beiden Jungs einen Ausflug zur stillgelegten Kiesgrube.
Während Louise auf einer Wiese ein Sonnenbad nimmt, langweilen sich Benoît, Fabien und Luc.
Die drei „Jungs“ haben schließlich Spaß bei einer Rutschpartie auf den Steinen des Abhangs und als der junge Onkel seinen beiden Neffen vorschlägt, über die Leiter auf eine Verladeplattform zu klettern, sind diese hellauf begeistert.
„... da kam Benoît ... auf die Idee, sie in einer der Seilbahngondeln hinunterfahren zu lassen wie die Tonnen von Kies, die er früher im staubigen Nebel, in dem die Schaufelbagger stocherten und den Hügel aushöhlten, vorüberschweben sah.“ (S. 23)
Er hebt die Jungs also in die kleine Gondel, die direkt über der Platform an einem Seil hängt, das in zwei Metern Abstand vom Boden über die ganze Länge der Kiesgrube und über den Fluss hinweg verläuft und setzt das Gefährt in Bewegung.
Die Talfahrt beginnt und das Unglück nimmt seinen Lauf...
Schon auf den ersten Seiten spürt man das nahende Unheil, man will es verhindern, man würde am liebsten schreien „Nein! Nicht in die Gondel!“...und dann stockt einem der Atem.
Es gelingt Pascale Kramer spielend, die anfangs bedrohliche, später bedrückende und von Aggressivität, Verzweiflung, Ratlosigkeit und Trauer geschwängerte Atmosphäre zu vermitteln.
Ihr Einfall, die Atmosphäre mit der portugiesischen Fadomusik in Verbindung zu bringen bzw. zu vergleichen ist einfach nur brillant!
„Fado“ ist das portugiesische Wort für „Schicksal“ und diese Melodien sind durchdrungen von Melancholie und Sehnsucht.
Nichts für depressive Menschen!
Pascale Kramer ist eine aufmerksame Beobachterin die das Beobachtete psychologisch genau, feinfühlig, und anschaulich formuliert.
Mit ihrer eindringlichen und bildhaften Sprache beschreibt sie ungeschönt die inneren und äußeren Prozesse nach dem Schicksalsschlag.
Viele ihrer Formulierungen gefielen mir so gut, dass ich sie mehrmals gelesen habe.
Hier ein paar Beispiele:
„Benoît konnte allein am Tonfall seiner Mutter, der harsch war vor Angst und Gewissensbissen, ablesen, in welchem Augenblick Luises Aufmerksamkeit nachließ wie ein sich lockerndes Tau.“ (S. 45)
„Es war erstaunlich, wie das Leben in ihr gegen das Unglück kämpfte und wie eindrucksvoll das Unglück dadurch wurde.“ (S. 49)
„Unter der phänomenalen Gesundheit ihres schlanken Körpers, ihrer samtigen Wangen, ging ihre Seele verloren.“ (S. 51)
„... dass er gezwungen war, sich in einem neuen Leben voranzutasten, von dem er weder die Regeln noch den Ausgang kannte und das für ihn gewiss nie mehr würde friedlich sein können.“ (S. 52)
„Vincent und er standen jetzt auf einer Seite, zornig im Unglück und neidisch auf das Glück der Anderen.“ (S. 54)
„Benoît hatte wieder dieses Gefühl, dass sie in sich selbst ertrank und dass ihre Worte Luftblasen waren, die wie durch ein Wunder bis zu Ihnen aufstiegen.“ (S. 55)
... ich könnte noch viele viele weitere solcher literarischer Leckerbissen anführen, aber letztlich möchte ich jedem, der etwas Besonderes lesen möchte, die Lektüre des ca. 170-seitigen Meisterwerks empfehlen.
Die 1961 in Genf geborene Pascale Kramer schreibt über ein unfassbares Drama.
Aus Unbedachtheit, Leichtsinn, Übermut und Sorglosigkeit wird eine Fehlentscheidung getroffen, die das Leben aller Beteiligten grundlegend verändert.
Es geht in ihrem Roman „Die Lebenden“ um Verantwortung, Wahrheit oder Notlüge, Verleugnung, Gewissen, Schuldgefühle, Umgang mit Trauer, Verarbeitung von Schicksalsschlägen und es wird auch die Frage aufgeworfen, ob man nach so einer beispiellosen Katastrophe weiterleben und wieder glücklich sein darf und kann.
Neben meiner Faszination tauchten auch noch andere Gefühle auf: Verwunderung, Fassungslosigkeit und Empörung.
Ich fragte mich irgendwann ständig, warum in dieser Phase der maximalen Überforderung niemand auf den Gedanken kam, professionelle Hilfe ins Boot zu holen. Ausharren, Ablenkung und Betäubungsmittel können einfach nicht die Lösung sein!
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, warum nicht einmal die Mutter von Benoît und Louise irgendwann auf die Idee kam, psychiatrische und psychotherapeutische Unterstützung einzuholen.
Der Roman erschien 2000 in der französischen Originalausgabe und ich denke, er spielt auch um diese Zeit herum.
Damals wusste man schon um die Sinnhaftigkeit und Notwendikeit therapeutischer Unterstützung.
Die Bevölkerung war schon darüber aufgeklärt.
War es die dörfliche Umgebung? War es der Anspruch, es selbst zu meistern?
War es die Scham vor dem Eingeständnis, es nicht alleine zu bewältigen?
Letztlich kann ich als Psychoanalytikerin nicht wirklich nachvollziehen, warum sich Frau Kramer dafür entschied, Profis bei dieser menschlichen Tragödie außen vor zu lassen.
Nachdem der Roman zu Beginn eine Wucht war und mich wie ein Donnerschlag in seinen Bann zog, ließ meine Begeisterung gegen Ende etwas nach.
Die Gründe?
Die eben erwähnte Unstimmigkeit und das völlig unvorhergesehene, verblüffende, teilweise offene und unbefriedigende Ende.
Aber der zweite Grund ist kein objektiver Makel, das möchte ich betonen! Ich habe mir schlicht einen anderen Ausgang vorgestellt oder gewünscht.
Aber nichtsdestotrotz: Das ist Mäkeln auf hohem Niveau.
Der Roman ist unbedingt lesenswert und weil Pascale Kramer, die 2017 den Schweizer Grand Prix Literatur erhielt, mich mit ihrer Art zu schreiben überzeugt hat, habe ich mir bereits ihren mehrfach preisgekrönten Roman „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ zugelegt.