„Das letzte Bild der Sara de Vos“ ist ein sowohl kunstvoller Roman als auch ein Roman über Kunst auf drei Zeitebenen: 1636/37, 1957/58 und 2000. Sara de Vos war eine der wenigen holländischen Malerinnen des Goldenen Zeitalters, Mitglied der Lukas-Gilde Amsterdams und ist ansonsten frei erfunden. Ihr vermeintlich einziges überliefertes Werk „Am Saum des Waldes“ steht im Zentrum aller Zeitebenen: als es entsteht, als es gefälscht wird und als es schließlich erneut mit dem Original ausgestellt werden soll. Die beiden späteren Zeitebenen sind durch die handelnden Personen verbunden: Es sind dieselben Ellie Shipley und Marty de Groot, die einander nach vierzig Jahren wieder begegnen.
Dem Autor Dominic Smith würde es gewiss gefallen, wenn man seinen Roman mit der Entstehung eines Gemäldes vergleichen würde: zunächst das Aufspannen der Leinwand, die Skizze, dann die Grundierung, die Schattierungen, Auftragen dunklerer Töne, dann der helleren Flächen, schließlich der Details und Miniaturen, wobei Farbenspiel und Texturenlandschaften entstehen. Ähnlich ist der Roman aufgebaut, indem die Zeitebenen einander abwechseln und die Geschichte vom Allgemeinen zum Besonderen findet. Man erfährt, wie Ellie das Gemälde fälscht, wie Marty dahinterkommt, die Fälscherin vorführt und schließlich verführt und wie ein romantisches Band zwischen beiden bis zur Jahrtausendwende besteht, obschon sie einander verletzt haben.
Aber wie selbst die großen holländischen Meister kann Smith nicht alles gleich gut: Während die jüngeren Erzählebenen gut gelungen sind, während Ellie und Marty plastisch, glaubwürdig und tiefenscharf geraten sind, bleibt Sara de Vos als Frau des 17. Jahrhunderts das Abziehbild einer modernen Frau in Amsterdamer Bürgerstracht von 1637. Während etwa die ironische Schilderung der von Ellie und Marty besuchten Auktion gleichzeitig die Figuren stärkt und den Kunstauktionsbetrieb aufs Korn nimmt (S. 185-196), verkümmern Saras Versuche, ihre Ehe zu retten, ihre Bilder zu verkaufen oder sich dem menschenleeren Heemstede zu nähern, irgendwie im Behaupteten. Einzig die Trauer um die verlorene Tochter und die Gedanken über das im Zentrum stehende Bild „Am Saum des Waldes“ leuchten voller starker Bedeutung und sprachlichem Können: Wie die sterbende Tochter steht das Mädchen im Bild „am Saum des Waldes“, zwischen Leben und Tod, zwischen Wahrheit und Behauptung, zwischen Kunst und Wirklichkeit. Mit diesem Kunstwerk, dem vermeintlich letzten Bild der Sara de Vos, und dessen Ebenen hat Smith ein tragfähiges Konstrukt erschaffen, das auch in der Frage Original/Fälschung oder Loyalität/Betrug für die beiden späteren Zeitebenen als Grenzmetapher taugt und Bedeutungsebenen erschließt. Immer wenn es um den Prozess des Malens geht, ist der Roman stark; ebenfalls in der zwischenmenschlichen Spannung zwischen Ellie und Marty sowie der Ellie von 1958 und jener von 2000 ist der Roman gelungen. Ist es der Übersetzung geschuldet, dass man sich für Saras Zeit eine andere Sprache und einen weniger modernen Ton gewünscht hätte?
Ein paar Worte zum Lektorat: Schon im Englischen hätte auffallen müssen, dass man Ellie nicht vorwerfen kann, keine Musik des 20. Jahrunderts zu hören, wenn sie doch Platten von Igor Strawinsky (1882-1971) und Sergej Rachmaninow (1873-1943) nei sich liegen hat (S. 234). Im Deutschen stören die häufigen Wortwiederholungen (z.B. S. 149), die redundanten Kapiteleingänge sowie der Gebrauch falscher indirekter Rede (etwa S. 232).
Das Buch ist sehr schön gestaltet; mit einem Lesebändchen gewinnt man sowieso stets mein Wohlwollen, erst recht aber mit dem klar weißen Papier, das eine feine Textur wie Leinwand hat, die zudem den Umschlag dominiert, der aussieht und sich anfasst wie ein Stück Leinwand.
Alles in allem also ein schönes, wenn auch kein brillantes Buch über Kunst und Liebe zur Kunst, über Original und Fälschung sowie Romantik vor dem Hintergrund des holländischen Goldenen Zeitalters.
Leseempfehlung.