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Veröffentlicht am 06.09.2021

Meditation über das Leben

Der Kolibri
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Sandro Veronesi ist in Italien bereits ein Literaturstar, erhielt zweimal den renommierten Premio Strega – diesmal für „Der Kolibri“. Die opulente, philosophische und sprachlich außergewöhnlich raffinierte ...

Sandro Veronesi ist in Italien bereits ein Literaturstar, erhielt zweimal den renommierten Premio Strega – diesmal für „Der Kolibri“. Die opulente, philosophische und sprachlich außergewöhnlich raffinierte Familiengeschichte mit dem Protagonisten Marco Carrera ist intelligent durchdacht und raffiniert komponiert – die Zeiten und die Chronologie brechen aus ihrer Ordnung: Das von Schmerz und Leid geprägte Leben von Marco, der seit einer Wachstumsstörung den Spitznamen Kolibri hat, rollt sich von Geburt bis zum Tod kaleidoskopartig mit vielen Splittern aus Rückblenden, Briefen, Dialogen und Episoden auf. Und am Ende der gewürfelten Zeitsprünge und cleveren Mosaike ergibt sich ein bewegendes Gesamtbild eines Lebens mit Höhen und Tiefen.

Der ruhige Augenarzt ist eine Art moderner Hiob – viel Leid und Sterben prallen auf ihn ein. Er meistert sein Leben, indem er nicht jeder Veränderung Schritt hält, sondern die Geschehnisse wie der Vogel im Punkt-Schwirrflug betrachtet sowie auch den Objekten und Gegenständen wie dem großen Nachlass der Eltern eine tiefere Bedeutung schenkt. So werden beispielsweise fehlende Ausgaben einer Science-Fiction-Romansammlung scharfsinnig und pointiert in das Erzählte miteingeflochten.

In Veronesis Sätzen steckt viel Intelligenz, die durch eine fantasiereiche und lyrische Prosa getragen wird – das kann auch schon mal kurios Ausufern: Manche Assoziationen und Gedankengänge werden über Seiten ausgeführt, aber langweilen nie. Es geht um Schuld, Leid, Liebe, Sucht, Resilienz sowie die begrenzte Lebenszeit – und obwohl Marco soviel familiäre Tragik im Leben überfällt, schwingt eine humorvolle, warme und sehr kluge Lakonie im Schreibstil mit.

Sandro Veronesi ist mit „Der Kolibri“ auf dem Höhepunkt seines jahrzehntelangen Schreibens angelangt – ein gewaltiges, poetisches, tiefsinniges und ergreifendes Epos.

„Ausgehend von dieser Erfahrung lief sein Leben jedoch immer auf die gleiche Weise ab: Jahrelang verharrte es im Stillstand, während diejenigen der anderen sich vorwärtsbewegten, und brach dann plötzlich in ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis aus, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleuderte.“ S. 297

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Veröffentlicht am 31.08.2021

Ein Kampf aus Liebe

Shuggie Bain
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Im tristen, stagnierenden und von Arbeitslosigkeit und Sucht geprägten Glasgow der 80er-Jahre führt der junge und sanfte Shuggie Bain einen zerbrechlichen und starken Kampf aus Liebe – zu seiner Mutter ...

Im tristen, stagnierenden und von Arbeitslosigkeit und Sucht geprägten Glasgow der 80er-Jahre führt der junge und sanfte Shuggie Bain einen zerbrechlichen und starken Kampf aus Liebe – zu seiner Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Douglas Stuart ist mit seinem zutiefst bewegenden Debütroman mit dem renommierten Booker Prize 2020 ausgezeichnet worden und verarbeitet laut Interviews seine eigene Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter.

Der Roman behandelt die wundervoll zärtlich aufgefangene Verbindung zwischen einem sanften Kind und seiner unbändigen Mutter, in einer rauen Welt, in der sich Shuggie zusätzlich als Ausgestoßener fühlt, da er sehr sensibel und feminin ist, lieber mit My Little Ponies als mit einem Fußball spielt und sich in einer vulgären Umgebung fein und gewählt ausdrückt. Auch Agnes ist eine schicke Frau nach außen, immer zurecht gemacht, doch innerlich ist sie zerbrochen, verlassen vom untreuen-gewalttätigen Mann und Shuggies Vater Big Shug, mittellos und die spärliche Sozialhilfe wird für die nächsten Biere ausgegeben. Von Männern wird Agnes sexuell ausgebeutet und auch Shuggie wird wegen seiner ‚Andersartigkeit’ gemobbt – seine Halbgeschwister gehen ihren eigenen Weg, so versucht der kleine Junge mit viel Einfallsreichtum seiner Mutter Fürsorge und Halt zu geben: In vertauschten Rollen bringt er alle Zärtlichkeit auf, um der von der Sucht emotional sehr instabilen und wechselhaften Agnes durch den Tag zu helfen. Ein aufwühlendes und wichtiges Thema – Kinder von drogenabhängigen Eltern und den emotionalen Missbrauch, den sie erleben.

Erschütternd, detailliert und düster zeigt Stuart in seiner eindringlichen Milieustudie und emotionalen Coming-of-Age-Geschichte den harten Alltag von Shuggie und Agnes, ohne rührselig zu werden – durchzogen mit dem brillant übersetzten Glasgower Slang und neben der vorherrschenden Trostlosigkeit auch eine herzerfüllende Wärme und reine Liebe, die Hoffnung versprühen und beim Lesen des Elends und Leids durchhalten lassen. Stuarts lyrische Prosa ist zudem von einer opulenten und bildgewaltigen Schönheit und aufblitzendem schwarzen Humor durchzogen, denn Shuggie ist trotz allem eine heitere Natur – gefolgt von derben Szenen mit Schimpfwörtern, sexueller Gewalt und die Schonungslosigkeit eines durch Alkohol verursachten Verfalls.

Ein bemerkenswertes Debüt voller Brutalität und Schönheit, Schrecken und Poesie sowie soziografische Szenen einer Stadt, die durch die Thatcher-Ära schwer gelitten hat und unvergessliche Momente einer außergewöhnlichen, komplexen Mutter-Sohn-Beziehung, die alle Grenzen sprengt und zwischen Zerstörung und Liebe changiert.

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Veröffentlicht am 18.08.2021

Zwischen Strebern und Gaunern

Harlem Shuffle
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Der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead ist vor allem durch seine zwei vorherigen tiefernsten Romanen, die sich mit Sklaverei und Rassismus beschäftigen, berühmt. Auch in seinem neuen Werk ...

Der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead ist vor allem durch seine zwei vorherigen tiefernsten Romanen, die sich mit Sklaverei und Rassismus beschäftigen, berühmt. Auch in seinem neuen Werk „Harlem Shuffle“ spielt der Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen eine Rolle, aber vor allem bedient Colson sich mit einer großartigen Prosa nebenbei noch den Genres spannender Ganovenkrimi und einer präzise Milieustudie von New Yorks Harlem der 60er-Jahre mitten in der Bürgerrechtsbewegung.

Möbelverkäufer Ray Carney möchte im Jahre 1959 rechtschaffend für seine Familie sorgen und hat sich in der 125. Straße sein kleines Königreich aufgebaut. Doch er verstrickt sich immer mehr in ein kriminelles Doppelleben, da er nebenbei noch Hehlerware seines ungeschickten Cousins Freddie vertickt, um besser über die Runden zu kommen. Ray selbst hatte eine schwierige, verwahrloste Kindheit mit einem stadtbekannten Gangster-Vater. Als Freddie beschließt, das historische Hotel Theresa auszurauben, gerät alles aus den Fugen und zahlreiche düster-gewaltvolle Gestalten aus der Unterwelt sowie zwielichtige Cops sind ihnen auf den Fersen. Carney muss sich nun in seinem Doppelleben entscheiden, wie viel Ganoven- oder Strebertum in ihm steckt, während er die wirklichen Drahtzieher in Harlem erkennt – es beginnt ein innerer Kampf. Ist in Harlem für einen Afroamerikaner ein sozialer Aufstieg ohne Kriminalität überhaupt möglich?

Scharf beobachtend, detailliert, lakonisch und sehr atmosphärisch lässt Colson Whitehead New Yorks berühmtestes Viertel Harlem wiederauferstehen – in den 60er-Jahren, der Zeit der Bürgerrechtsbewegung und der Kennedy-Ära. Die Sozial- und Milieustudie ist brillant und geht mit der spitzbübisch-kühnen Ganovengeschichte eine fesselnde Symbiose ein. In drei Teilen der Jahre 1959 bis 1964 tauchen allerhand eigenwillige und bunte Charaktere auf, eingetaucht in geschichtliche Details, literarische Bezüge und ein kunstvoll dicht komponiertes Harlem der 60er-Jahre, das sich erst in optimistischer Aufbruchsstimmung wähnt und dann in Unruhen versinkt.

Es wäre nicht verwunderlich, wenn Whitehead mit dieser hochwertigen und pointierten Gesellschaftsstudie über Rasse, Abhängigkeit und Macht sowie der Hommage an Harlem wieder renommierte Preise gewinnt!

„Vor ihm erstreckten sich keine neuen Ufer, endlos und üppig – das war etwas für Weiße – aber dieses neue Land war zumindest ein paar Blocks groß, und in Harlem waren ein paar Blocks alles. Ein paar Blocks waren der Unterschied zwischen Strebern und Gaunern, zwischen Gelegenheit und Herumgekrebse.“ S. 146

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Veröffentlicht am 05.06.2021

Das perfekte Werk

Blütenschatten
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Es ist Nacht und Winter in London – die renommierte 61-jährige Künstlerin Eve Laing spaziert durch die Viertel Londons, lässt ihre Vergangenheit gedanklich scharf und schonungslos Revue passieren, wirft ...

Es ist Nacht und Winter in London – die renommierte 61-jährige Künstlerin Eve Laing spaziert durch die Viertel Londons, lässt ihre Vergangenheit gedanklich scharf und schonungslos Revue passieren, wirft einen Blick durchs Fenster in ihr altes Haus, auf ihren Ex-Mann und seine neue Geliebte. Sie hat ihr wohlsituiertes Leben wegen einer Affäre mit dem 30jährigen Ateliergehilfen Luka hinter sich gelassen und arbeitet an ihrem bahnbrechenden Meisterwerk: Das Poison Florilegium – großflächige Kunst mit Blumen und Pflanzen ist ihr Metier, die zusammenhängenden Werke mit tödlichen Giftpflanzen ihre aktuelle Obsession.

„Es dauerte ein ganzes Leben, um es aufzubauen, und nur eine Sekunde, um es zu zerstören. Familienleben. Das ging als Erstes flöten. Dann die Würde, und mit ihr der gute Ruf.“ (S. 11)

Während Eve Menschen und Viertel beim nächtlichen Spaziergang bissig und zynisch unter die Lupe nimmt, gleiten ihre präzisen Gedanken und Reflexionen immer wieder in die Vergangenheit, betten sich ein in die Umgebung. Sie umkreist ihre gescheiterte Ehe mit dem Star-Architekten Kristof, ihre für sie stumpfsinnige Tochter Nancy sowie ihre Studiumsfreundinnen Mara und Wanda. Mit letzterer verbindet sie ein großer Hass und immense Missgunst – Wanda Wilson ist eine sehr gehypte und erfolgreiche Performance-Künstlerin mit weltweiten Ausstellungen und hochgelobten Rezensionen in den Feuilletons. Eve empfindet ihre Kunst als minderwertig, zudem teilten sie sich eins den gleichen Mann – den berühmten Künstler Florian Kiš. Auch Wanda plant eine neue Performance Artist on the Edge/The Death of Mimesis, während Eve zusammen mit ihrem neuen Angestellten Luka besessen an ihrem Kunstwerk Poison Florilegium arbeitet. Die Affäre mit dem jungen Luka gibt ihr zwar großen und leidenschaftlichen Aufwind, doch die ersten Querelen im Atelier beginnen und auch sein Verhalten gegenüber Eve wird immer beleidigender sowie fordernder. Und so wird Eves Spaziergang zum Ende im Roman sehr düster und ungemütlich – je näher die letzten Ereignisse rücken, die sich überschlagen und Eves Leben ruinieren.

„Ein verhängnisvoller Schritt, eine köstliche, taumelnde Kapitulation, und das alte Leben war Vergangenheit, rauschte an ihr vorbei, als sie fiel. Wie einfach es ist, loszulassen.“ (S.21)

Annalena McAfee ist mit „Blütenschatten“ ein großes, literarisches Werk gelungen – sprachlich auf höchstem Niveau, inhaltlich perfekt recherchiert und mit einem thrillerhaften Spannungsbogen, der zum Ende hin nervenaufreibend gespannt ist und unvorhersehbare Kniffs und Wendungen einschlägt. McAfee schreibt bildgewaltig, lakonisch, pointiert, klug und verwebt raffiniert die zwei Erzählschichten des Spaziergangs mit der Nachschau von Eve. Psychologisch messerscharf werden die Personen auseinandergenommen und atmosphärisch zum Greifen nahe die schillernde Kunstwelt mit ihren Charakteren dargestellt. McAfee versteht es zudem brillant, satirische Seitenhiebe auf letztere sowie auf kryptische Kritiken in den Feuilletons, aber auch auf so manche gesellschaftliche Milieus und Missstände auszuteilen. Wie Eves Leben zusammenbricht, sie aber alles für ihr perfektes Werk ausblendet, ist packende Erzählkunst vom Feinsten, intellektuell durchdacht und perfekt komponiert und mit krimihaften Elementen, die sich stets steigern.

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Veröffentlicht am 24.03.2021

Narrative einer Rettung

Die Fremde
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Claudia Durastantis autofiktionaler Roman „Die Fremde“ präsentiert gleich zu Beginn zwei komplett unterschiedliche Kennenlerngeschichten der gehörlosen Eltern. Beide beinhalten eine Rettung – der Vater ...

Claudia Durastantis autofiktionaler Roman „Die Fremde“ präsentiert gleich zu Beginn zwei komplett unterschiedliche Kennenlerngeschichten der gehörlosen Eltern. Beide beinhalten eine Rettung – der Vater will sich von der Brücke am Ponte Sisto in Trastevere/Rom stürzen, um im „giftgrünen“ Tiber zu ertrinken, erzählt aber, er habe die Mutter vor einem Überfall bewahrt. Der Einstieg in die Geschichte macht deutlich: Hier wird keine durchschnittliche, gesund agierende Familie beschrieben. Die Protagonistin und Erzählerin im Roman, die deutliche biografische Bezüge zur Autorin aufweist, gräbt sich aus einer dysfunktionalen, chaotischen und von einer bestimmten Sprachlosigkeit geprägten Kindheit nach oben. Anfang der 1980er-Jahre in Brooklyn geboren, immigriert diese als Kind zusammen mit Bruder und Mutter nach Italien, in die süditalienische, spärlich besiedelte Basilikata. Die Eltern haben sich getrennt.

„Auswandern bedeutet, mit all diesen Wenns des eigenen Ichs zusammenzuleben und zu hoffen, dass keines die Oberhand gewinnt.“

Gab es in Brooklyn noch eine Art sichere Enklave mit ausgewanderten Italoamerikanern der Familie und deren Regeln, sind die Kinder beim Heranwachsen in der Basilikata an der Armutsgrenze weitestgehend auf sich gestellt – die Mutter lebt in ihrer eigenen Welt, trinkt, zieht nächtelang durch die Umgebung, schwelgt in Filmen, die sie alle wie der Vater für wahr hält: beide kennen keine Fiktion, haben nie eine Gebärdensprache erlernt, akzeptieren ihre Taubheit nicht und geben sich ihrer eigenen Vorstellung eines unkonventionellen Lebens hin. Die Mutter sucht Halt und Deutung in den Tarot-Karten und der Kunst, der Vater (zudem psychisch krank) in kleinkriminellen Geschäften. Der Kontakt zu Familienangehörigen in den USA wird mit Besuchen aufrecht erhalten.

„Ich sah meinen Vater die Wut und den Wahnsinn fiktiver Figuren so leidenschaftlich ausagieren, bis er sich in ein Stück Zelluloid mit verkohlten Rändern verwandelte.“

„Meine Mutter fehlte mir, wenn sie verschwand, aber sie war nebelhaft und mein Vater eine tiefschwarze Galaxie, die jede physikalische Theorie widerlegte.“

Wie ein Echolot unter Wasser taucht Claudia Durastanti in die Tiefen ihrer Erinnerung und ihres Gedächtnisses – und das mit einer sprachlichen und stilistischen Wucht sowie Ausdehnung auf gesellschaftsrelevante Themen wie Identität, Migration, Fremdsein, gesellschaftliche Verwurzelung, Handicaps (psychisch wie physisch) und Vielsprachigkeit. Assoziativ, sprunghaft, poetisch und spielerisch in der Sprache verknüpft sie Familiengeschichte, Heimat, die Wege der Migration, ihren eigenen Werdegang ins Studium und in die Arbeitswelt sowie erste Beziehungen mit zahlreichen Szenen aus Film, Musik und Literatur, die sie geprägt haben. Zudem spielt Durastanti mit Metaphern, die an topografische Karten, Naturgewalten und Wesen aus der Mythologie angelehnt sind, um ihren Gedanken und Erinnerungen Form zu geben. Wilde, zeitlich unsortierte und episodenhafte Sprünge und zahlreiche Geschichten sind dies manchmal, aber tief bewegend und jeder Absatz eine eigenständige Denkfabrik, die teilweise auch mystisch und kryptisch sowie offen für die eigene Reflexion bleibt. Denn als Metaebene bezieht Durastanti noch das Spiel um Wahrheit und Fiktion in ihren Roman mit ein.

„Die Geschichte einer Familie ähnelt eher einer topografischen Karte als einem Roman, und eine Biografie ist die Summe aller geologischen Zeitalter, durch die du gegangen bist.“

Trotz aller Schwere der Geschichte, die durch das Anderssein geprägt ist und in der die Autorin wahrscheinlich versucht, sich ihrer eigenen Biografie auf verschiedene Arten anzunähern, blitzt auch Humor auf: Skurrile Menschen und Situationen, vollständige Milieus, Stadtteile und Landstriche, die Durastanti präzise beobachtet und in ihre außergewöhnlichen Sprache zwischen Prosa, Poesie und Essay verpackt. Intime Einblicke, aber nie zu aufdringlich – fast nüchtern-lakonisch kommt so manche Einsicht um die Ecke. Stets sucht sie auch das Verstehen ihrer Eltern sowie ihrer stillen Welt und exaltierten Charaktere. Die Mutter bleibt stets die Fremde, ist sogar stolz darauf, nicht als Gehörlose, sondern als Fremde bezeichnet zu werden – aber auch die Protagonistin bleibt sich oft fremd im Leben, fühlt sich später im beruflichen Erfolg gar als Hochstaplerin. Halt, Ausdruck und die eigene Rettung hat sie seit der Basilikata in der Literatur und später in ihrer eigenen Sprache gefunden.

„Je vulgärer und absichtlich widerwärtiger meine Eltern sprachen, desto genauer drückten wir uns aus, weil wir überzeugt waren, in der Wortwahl korrekt zu sein, würde bedeuten, auch im Leben korrekt zu sein, endlich befreit von ihren Eigentümlichkeiten.“

Am Ende des Romans sind wir wieder am Ponte Sisto – die Kennenlerngeschichte mit doppeltem Boden setzt sich zusammen. Aber war denn auch wirklich alles wahr?

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