Erla und ihre Mutter verlassen Deutschland, in dem sie in den Nachkriegsjahren keine Zukunft mehr sehen, um auf Island neu zu beginnen. Warum aber ausgerechnet „auf einer Insel aus Eis, ganz oben im Norden“, wie Erlas Mutter die künftige Heimat beschreibt? Nun, es wurden Arbeitskräfte auf den Bauernhöfen gebraucht, die in dem kleinen Land nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen und die man deshalb im Ausland suchte – eine neue Chance für viele, denen der Zweite Weltkrieg jegliche Perspektive geraubt hatte!
Unglücklicherweise aber werden Erla und ihre Mutter kurz nach der Ankunft voneinander getrennt und das 14jährige Mädchen landet bei einer Bauernfamilie, die es als Arbeitssklavin missbraucht und ihr Möglichstes tut, um den Kontakt zur Mutter zu verhindern. Doch Erla kämpft sich durch – nicht zuletzt dank ihres Pferdes Drifa und einer besonderen Gabe, die ihre Mutter nicht nur ärgerlich macht, sondern die sie auch um jeden Preis verschweigen möchte. Schon immer nämlich konnte das Mädchen Wesen sehen, Stimmen hören, die anderen verborgen blieben. Und so mutet es geradezu wie eine Bestimmung an, dass Erla ausgerechnet in Island gelandet ist, der Insel, auf der man an lebendig gewordene uralte Mythen glaubt, an Zauberwesen, an Elfen, Gnome und Trolle und auf der die Huldu, die Unsichtbaren, beheimatet sind, Menschen gleiche Wesen in einer Parallelwelt.
Unsichtbar sind sie aber nicht für Erla! Unmittelbar nach ihrer Ankunft macht sie die Bekanntschaft von Floki, einem Huldu, und seiner Familie und lässt sich immer stärker hineinziehen in seine Welt. Dies bleibt der ungastlichen Familie, bei der sie untergekommen ist, nicht verborgen, was deren Misstrauen noch stärker werden lässt. Misstrauen, freilich gepaart mit Angst. Einerseits glaubt man, bis auf den Großvater, der ebenfalls über die Gabe, gleich Erlas, verfügt, allerdings nicht darüber spricht, nicht an die Unsichtbaren, andererseits aber kann man nie wissen, muss man sich besser gut mit ihnen stellen, um sich nicht den Zorn des verborgenen Volkes, Beschützer der Natur und Hüter ihrer Schätze, zuzuziehen. Und wenn Erla mit den Huldu im Bunde steht, nun ja, man muss vorsichtig sein!
Während ihre Mutter, die sie schließlich nach vielen Umwegen doch wiedersieht, sich entschlossen zur Isländerin mausert, nimmt Erla einen ganz anderen Weg, fühlt sich wie magisch angezogen von den Unsichtbaren, spürt immer stärker, dass hier bei ihnen ihre wahre Heimat ist, ohne den Grund dafür zu verstehen, spürt Verbindungen, die ihr aber auch Angst machen, zumal die Freunde, die sie unter den Huldu findet, sich in geheimnisvollen Andeutungen ergehen – allen voran Jorunn, eine sehr alte Frau, eine Weise, eine Heilerin, die von jedermann mit Ehrfurcht behandelt wird. Jorunn weiß mehr als alle, sie kennt Erlas Schicksal, das auf unerklärliche Weise mit dem Volk der Huldu verbunden ist, so wie sie weiß, dass ein mächtiges Unheil auf ihr Volk zukommen wird, durch Erla und die Ereignisse, die ihr Kommen aus dem fernen Lübeck in Gang setzt.
Fesselnd ist er ganz ohne Frage, dieser erste Band einer Trilogie, in deren Mittelpunkt Erla steht, das Mädchen mit den besonderen Fähigkeiten selbst, dessen Schicksal sich, wie sich hier bereits abzeichnet, auf der Insel aus Feuer und Eis, in der die alten Überlieferungen so lebendig sind, wie wohl nirgendwo sonst, erfüllen wird. Worin dieses Schicksal besteht, kann man nur dunkel ahnen. Der Leser wird, genau wie die Protagonistin, vor nicht nur ein Rätsel gestellt, von denen kein einziges aufgelöst wird – man wird also auf den Folgeband beziehungsweise auf die beiden Folgebände warten und seine Neugierde zügeln müssen, um mehr zu erfahren. Ein Nachteil, den Buchreihen dieser Art mit sehr offenem und, wie hier, geradezu abruptem Ende nun einmal mit sich bringen! Aber ob das wirklich ein Nachteil ist, ist wohl Ansichtssache, und jeder Leser mag das anders empfinden.
Erlas Geschichte jedenfalls, denn dass wir genau diese hier lesen verspricht bereits das Vorwort, das allerdings nur ein weiteres Rätsel von vielen ist, ist sehr schön und bewegend erzählt, sie lässt Anteil nehmen an dem, was dem jungen Mädchen in dem fremden, zunächst wenig gastlichen Lande, widerfährt. Erla ist eine Protagonistin, die Sympathien weckt, deren Partei man ergreift. Ein mutiges Mädchen ist sie, das, obwohl sie sich verloren fühlt und obwohl das gute neue Leben, das ihr ihre Mutter verheißen hat, auf sich warten lässt oder gar nie kommen wird, nicht aufgibt. Eine echte Persönlichkeit begegnet uns in ihr, von großer innerer Stärke, trotz aller Ungewissheiten und Zweifel. Dabei aber immer auch eine ganz normale 14jährige, mit den gleichen Wünschen und Sehnsüchten wie ihre Altersgenossen. Das macht sie sehr glaubwürdig!
Berührend und stets nachvollziehbar erzählt ist ihre erwachende Liebe zu der unwirtlichen und doch seltsam schönen, wunderbar anschaulich beschriebenen Insel nahe des Polarkreises, das immer stärker werdende Gefühl, hierher zu gehören, das Sich einlassen auf das Fremde, das Unbekannte, auf eine Welt jenseits der sichtbaren Realität, gar das Einswerden mit dieser, dank auch der Freunde, die sie findet und dem bereits erwähnten Pferd Drifa, das eine wichtige Rolle spielt und, so ist zu vermuten, auch weiterhin spielen wird.
Das schreibt jemand, dachte ich mir während der Lektüre, die sich auskennt, die die alten Sagen nicht als Unsinn abtut, der Island, das ich als zweite Protagonistin bezeichnen möchte, vertraut ist und die womöglich mehr sieht als nur das, was mit dem Auge zu erfassen ist, oder aber die ganz einfach nur anders hinschaut, tiefer blickt. Wie Erla eben, genau so wie sie!