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Veröffentlicht am 14.04.2021

Am Puls des Konbini

Die Ladenhüterin
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Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich ...

Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich zur absoluten Außenseiterin, weil sie mit 36 Jahren nach wie vor keinen Mann hat, keine Kinder bekommt und immer noch den Aushilfsjob im Konbini absolviert und sich tagtäglich mit der optimalen Warenpräsentation und bestmöglichen Verkaufszahlen auseinandersetzt.

Sie hat keine echten Freunde, kein Hobby, ja scheinbar keinen Lebenssinn – nur stört das immer die anderen und niemals Keiko. Ganz im Gegenteil, ihre Arbeit im Supermarkt erfüllt sie mit tiefer Zufriedenheit und gibt jedem Tag eine gleichförmige Struktur, ohne die sie in ein tiefes Loch fallen würde. Aber zuliebe der anderen kündigt sie doch noch und beginnt ein scheinbar gesellschaftlich akzeptiertes Leben, aber der Konbini lässt sie nicht los und sein Takt begleitet sie nach wie vor – Keiko muss sich entscheiden, ob sie weiterhin die verschrobene Einzelgängerin bleiben möchte und ihrer inneren Stimme folgt, oder nicht …

Meinung

Dieses kleine Buch (145 Seiten) steht bereits seit seinem Erscheinungstermin in meinem Regal, weil mich sowohl die Grundidee ansprach als auch die inhaltliche Aufarbeitung der Thematik des „Andersseins“. Und ich wurde nicht enttäuscht, denn die im Kern eher traurige Geschichte der Angestellten Keiko, die so gar nicht zum gesellschaftsfähigen Bild in Japan passt, hat mich nicht nur bestens unterhalten, sondern impliziert trotz der aufgelockerten, fast heiteren Stimmung einen ernsthaften Hintergrund, mit dem ich mich während des Lesens ganz nebenbei beschäftigen konnte.

Zunächst lernt der geneigte Leser die Protagonistin sehr genau kennen, weil die Ich-Perspektive in der Textform gewählt wurde. Zwar bleibt vieles von Keiko im Dunkeln, weil sie tatsächlich wenig Ansprüche zu haben scheint, aber man fühlt sich ihr dennoch nah und akzeptiert ihr Wesen voll und ganz. Umso nervtötender wirken „die anderen“, die hier in Form von losen Bekannten, Arbeitskollegen oder Familienangehörigen daherkommen und sich ununterbrochen einmischen. Irgendwann ist man dann der Überzeugung, dass es für Keiko keinen Sinn macht, sich an die Normen der Gesellschaft anzupassen, weil sie damit ihr innerstes Wesen verleugnet und gleichzeitig fragt man sich, wie viel Wert überhaupt darin liegt, dass die Menschheit immer danach strebt, so gleichförmig und ähnlich sein zu wollen und für Individualismus so wenig Platz bleibt.

Besonders hervorheben möchte ich die für mich absolut unschlagbare humorvolle Umsetzung des Ganzen, denn gerade die einzelnen Szenen im Supermarkt empfand ich, die selbst im Handel tätig ist, wahnsinnig treffend und urkomisch, ich musste sehr oft sehr laut lachen und allein dieser Umstand macht mir das Buch auf der zwischenmenschlichen Ebene sympathisch. Ohnehin überwiegt ein positiver, lebensbejahender Erzählton, der die geschilderten Umstände eher komisch und abstrus wirken lässt als bitterernst und anklagend. Ein Weichmacher, der dafür plädiert, jeden so sein zu lassen, wie er eben ist. Die einen finden Erfüllung daran, sich gesellschaftsfähig hervorzutun, die anderen möchten einfach nur ihre Ruhe und irgendetwas, was sie im Herzen glücklich sein lässt, auch wenn es dabei nur darum geht, möglichst erfolgreich Reistaschen zu verkaufen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, aus denen beinahe 5 geworden wären, wenn das Ende nicht ganz so abrupt gekommen wäre und auch die weitere Entwicklung der Protagonistin noch ein paar Seiten länger nachvollziehbar gewesen wäre. Es ist ein witziges, abstraktes und sehr unterhaltsames Buch, welches eine ernstzunehmende Botschaft gekonnt in eine locker-leichte Geschichte verpackt und gerade durch diese ungewöhnliche Kombination das Herz des Lesers erobern kann.

Es gibt weder den erhobenen Zeigefinger, noch die ultimative Lösung des Problems, stattdessen appelliert die japanische Autorin Sayaka Murata an die Fähigkeit des Menschen, auch anders gestrickte Personen hinzunehmen, die sich um Konventionen im herkömmlichen Sinne überhaupt keine Gedanken machen und einfach nur einen Platz im Gefüge möchten, der nicht ununterbrochen in Frage gestellt wird. Ich setze nun „Das Seidenraupenzimmer“, einen anderen Roman der Autorin auf meine Wunschliste, denn dieser hier hat mir sehr gut gefallen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Wer keinen Schatten wirft, existiert nicht

Roman d’amour
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„Am Meer lernt man am besten, dass man die Welt nicht halten kann, nichts kann man halten, nichts, nichts, nichts.“

Inhalt

Charlotte Moire hat einen Roman geschrieben, in dem sie die Liebschaft zwischen ...

„Am Meer lernt man am besten, dass man die Welt nicht halten kann, nichts kann man halten, nichts, nichts, nichts.“

Inhalt

Charlotte Moire hat einen Roman geschrieben, in dem sie die Liebschaft zwischen einem verheirateten Mann und seiner Affäre beschreibt, natürlich endet es tragisch, natürlich gibt es nicht nur den Betrüger, sondern auch die hintergangene Ehefrau und die unglückliche Zweitfrau, die ihren Geliebten niemals für sich allein haben wird.

Und Charlotte hat ganz bewusst ihre eigenen Erfahrungen mit in die Thematik einfließen lassen, aber so geschickt, dass ein Außenstehender nur mutmaßen kann, wieviel Wahrheit in der fiktiven Erzählung steckt. Dieser Frage geht nun die Journalistin Frau Sittich nach, die die Künstlerin in einem Interview anlässlich einer Preisverleihung genauer charakterisieren möchte. Die beiden Frauen sind sich nicht unbedingt sympathisch und doch scheint es eine besondere Verbindung zwischen ihnen zu geben, denn die eine fragt immer mehr als sie wissen muss und die andere fühlt sich bemüßigt Dinge zu erklären, bei denen kein Erklärungsbedarf besteht. Ein offenes Gespräch über die Liebe und deren Verästelungen nimmt seinen Lauf, bei dem es nicht um die Frage der Schuld, sondern um die Möglichkeiten der Liebe geht …

Meinung

Dies war mein erster Roman der deutsch-französischen Autorin Sylvie Schenk, die hier auf kurzen 128 Seiten ein sehr besonderes Leseerlebnis bietet, welches ganz anders gestrickt ist, als eine Vielzahl der Bücher mit der Thematik des Ehebruchs.

Gerade der Aufbau einer zweiten Geschichte innerhalb eines Romans, mit ähnlichen Protagonisten, bekannten Situationen und verständlichen Entwicklungen, lässt vieles verschmelzen und macht es dem Leser nicht immer einfach, die Situationen auseinander zu halten. Doch hier ist dieses Konstrukt gelungen, denn es spielt überhaupt keine Rolle wer hier wen betrügt und aus welchem Grund – alles sind nur Erinnerungen an eine längst vergangene Liebschaft, die dennoch immer aktuell sein wird, weil sie so universell und altbekannt scheint, wie die Liebe selbst.

Positiv beurteile ich die Aussagekraft der Geschichte, die sich eher nebenbei ergibt, denn man findet zwischen den Zeilen eine Vielzahl philosophischer Gedanken über die Liebe an sich und im Besonderen, man spürt die Lebensweisheit der Erzählenden und genießt außerdem, die Eindrücke der Protagonisten, die kurzzeitig in dieser Affäre aufgehen, sie genießen, sie verachten und schließlich mit ihr vergehen, denn das diese Liebelei endlich sein wird, ist von Anfang an klar. Ohnehin bekommt die Gefühlsebene hier eine wesentliche Rolle, sie ist es, die Menschen in die Verwirrungen der Liebe stürzt und sie dann straucheln lässt, weil sie sich voll und ganz auf den Moment konzentriert haben und sich fortan mit der schnöden Realität abfinden müssen, die es ihnen unmöglich macht für immer den Ausnahmezustand zu genießen. Wie fühlt man sich in dieser Situation, die man zwar von Anfang an durchdacht hat, sie aber dennoch anders erlebt, wenn man sie durchlebt?

Der Sprachstil ist gehoben, wirkt ästhetisch und lädt zum Träumen ein, zum Nachdenken und zum Innehalten, denn es macht wirklich Freude hier ganze Sätze gleich noch mal zu lesen, um sie in ihrer vollen Schönheit zu erfassen. Der Text ist faszinierend dicht geschrieben, die Handlungen greifen wie kleine Rädchen ineinander und dabei können die Gedanken des Lesers wunderbar schweifen. Auf wenig Raum konzentriert sich hier eine vielschichtige Handlung, bei der das Kalkül weniger auf der Anklage liegt als auf den Emotionen, die auch Jahre nach dieser Amour fou noch so präsent sind, dass sie schmerzen. Bei den Charakteren liegen die Sympathien meinerseits bei den weiblichen Figuren, während der Mann doch sehr blass bleibt und für meinen Geschmack zu austauschbar wirkt – vielleicht ein klitzekleiner Kritikpunkt in der sonst so niveauvollen, formschönen Erzählung.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen autofiktionalen Roman, der die Identitäten der handelnden Personen aufweicht und deshalb weniger Nähe und Emotionalität erzeugt als andere Bücher mit ähnlicher Thematik. Dafür liegt die Stärke des Textes darin, Hintergründe und Ursachen viel deutlicher und universeller hervorzuheben und einen höchst interessanten Plot zu entwerfen, der am Ende mit einer Überraschung aufwartet, die gleich dazu animiert, nochmals von vorne zu beginnen, um diesmal alle/ andere Nuancen aufzunehmen. Ein weiteres Buch der Autorin würde ich sehr gerne lesen und kann dieses hier empfehlen.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Der Mensch muss ertragen, was er nicht ändern kann

Die Unschuldigen
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„Inzwischen wusste sie, dass sie allein sich selbst belogen hatte. Doch das machte es am Ende noch schlimmer. Freude und Scham. Scham und Freude. Das waren die Währungen der Welt. Und beide wurden gleichermaßen ...

„Inzwischen wusste sie, dass sie allein sich selbst belogen hatte. Doch das machte es am Ende noch schlimmer. Freude und Scham. Scham und Freude. Das waren die Währungen der Welt. Und beide wurden gleichermaßen ausgezahlt.“

Inhalt

Everett und Ada Best sind noch Kinder als ihre Eltern kurz nacheinander sterben und die beiden als Waisen an der einsamen Küste Neufundlands zurücklassen. Bisher führten sie schon ein bescheidenes Leben, mit klaren Strukturen, viel Arbeit und allerhand Entbehrungen, doch nun stellt sich bald heraus, wie behütet sie doch waren, als Everett noch der Handlanger seines Vaters war, während er nun allein mit seiner jüngeren Schwester zusehen muss, wie sie überleben können. Nur zweimal im Jahr hält die Hope, der einzige Handelspartner seiner Eltern an der zerklüfteten Küste und tauscht Grundnahrungsmittel aller Art gegen den gefangenen Fisch der Saison. Everett und Ada bemühen sich aus Leibeskräften, irgendwie in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten und das Abkommen weiterzuführen. Und so trotzen sie in den folgenden Jahren allen Widrigkeiten, entkommen manchmal nur knapp dem Verhungern, und bekommen mehr zufällig und kurzfristig Unterstützung von Fremden, die an ihrer Küste Halt machen. Doch als Everett und Ada immer älter werden, beide mittlerweile zu Jugendlichen gereift sind, wird ihr Verhältnis zueinander bedeutsamer, schamvoller und stiller – längst können sie nicht mehr so frei miteinander kommunizieren und ohne Hintergedanken im gleichen Bett schlafen …

Meinung

Der kanadische Autor Michael Crummey stammt selbst aus Neufundland und entwirft in diesem Roman ein beeindruckendes Porträt über das entbehrungsreiche Leben zweier Kinder, bestimmt von Naturgewalten. In der Einöde wird menschlicher Kontakt einerseits so dringend benötigt und andererseits bleibt kaum Zeit dafür, denn jeder Tag ist ein erbarmungsloser Kampf gegen die Natur, um die elementarsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Doch hier bekommt die Dramatik der Stunde noch eine weitere Dimension, wenn man bedenkt, in welcher erbärmlichen Lage die Kinder tatsächlich feststecken. Sie können niemanden um Hilfe bitten, sie müssen sich ihr komplettes Wissen selbst aneignen und können nur durch unzählige Versuche einen Erfolg erreichen, weil ihnen für alles die Anleitung fehlt. Der Leser begleitet die beiden dabei über viele Jahre hinweg und erfährt, wie sie es dennoch schaffen, sich ganz ohne Eltern durchzuschlagen. Der ständig gleichbleibende Faktor ist dabei nur die Wiederkehr der Hope und damit vielleicht eines fernen Tages die Möglichkeit in zivilisiertere Gebiete überzusiedeln.

Der Handlungsverlauf des Romans gestaltet sich absolut spannend und nervenaufreibend, gerade weil die mühevollen Arbeiten detailliert beschrieben werden, ebenso wie die neu gewonnenen Fähigkeiten der Kinder, die im Laufe der Zeit tatsächlich nicht nur körperlich reifen, sondern durch diverse Besucher ihrer Küste auf andere Dinge aufmerksam gemacht werden. Everett lernt das Fallenstellen und Schießen und dadurch sind sie wesentlich unabhängiger vom Fischfang und gefährlichen Manövern auf hoher See. Sehr feinfühlig wird auch die Gefühlsebene der beiden betrachtet, die anfangs nur einander hatten und alles für den anderen getan hätten und letztlich feststellen müssen, welche Bürde tatsächlich auf ihnen liegt, wenn sie die einzigen Menschen auf diesem Fleckchen Erde sind. Keinem darf etwas zustoßen, keiner darf krank werden und die Nähe, die sie einst so unbefangen teilen konnten, gerät ins Wanken, nachdem Everett immer größeres körperliches Verlangen nach seiner Schwester verspürt, ohne genau zu wissen, woher diese emotionale Achterbahnfahrt kommt.

Dieser Roman besticht in erster Linie durch die unglaublichen Bedingungen, unter denen Everett und Ada sich beweisen müssen, dadurch kommt ein sehr hohes Tempo und ein fesselnder Plot zustande. Als Leser schaut man einerseits voller Bewunderung zu den Kindern andererseits aber auch voller Mitleid und Sorge, stets in der Erwartung, dass etwas Schlimmes passieren wird, etwas Lebensbedrohliches, Unabwendbares und sei es nur in Form von Unwettern oder wilden Tieren. Sehr gut dazu passt auch die Gliederung des Textes, in längere Kapitel, die aber ihrerseits in kleinere Abschnitte unterteilt sind – die Sprache selbst ist klar, sachlich und präzise, mehr beschreibend als erzählend und vollkommen wertungsfrei.

Dennoch hat mir beim Lesen irgendetwas gefehlt und ich glaube zu wissen was es ist, nachdem ich das Buch durchaus zufrieden zugeklappt habe. Diese so emotionale Ausnahmestory wird durch den auktorialen Erzähler durch eine Art Glasscheibe betrachtet: man sieht alles, weiß worauf es hinausläuft und nimmt jedes Ereignis unmittelbar wahr, was man aber nicht zu greifen bekommt ist die tatsächliche Gefühlsebene der Protagonisten. Und das ist eigentlich mein einziger Kritikpunkt, der die Gesamtwertung um einen Lesestern schmälert. Wäre diese Geschichte aus zwei Erzählperspektiven in wechselnder Abfolge erzählt wurden, dann hätte ich sowohl Ada als auch Everett erleben können, wäre ihnen und ihrer emotionalen Sicht sicherlich ganz schnell nahegekommen, so ist mir die Distanz einfach zu groß geblieben.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne und eine unbedingte Leseempfehlung für diese Ausnahmegeschichte, die alle Vorzüge einer Gesellschaft fast nebenbei erwähnt, gerade weil sie das Leben in der Einsamkeit so ungeschönt präsentiert. Beim Lesen des Textes wird deutlich, wie komfortabel und sicher das Leben sein kann, wenn man entsprechend aufwächst und wie unberechenbar und schwer, wenn Kinder weder eine Anleitung bekommen noch die Möglichkeit mehr zu entdecken, weil sie der Härte des Alltags ausgeliefert sind. Dieser Roman lässt die Zeit wie Flug vergehen und eröffnet interessante Perspektiven auf das harte Dasein in der Einöde, mit dem Vorsatz alles zu ertragen, was man nicht ändern kann.

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Veröffentlicht am 25.03.2021

Berührungspunkte

Immer noch wach
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"Ja, es ist mein Leben, mit dem ich machen kann, was ich will. Aber langsam verstehe ich, wie viele Menschen gerne mit mir getauscht hätten. Gerne mehr Zeit gehabt hätten.“

Inhalt

Mit 30 Jahren holt ...

"Ja, es ist mein Leben, mit dem ich machen kann, was ich will. Aber langsam verstehe ich, wie viele Menschen gerne mit mir getauscht hätten. Gerne mehr Zeit gehabt hätten.“

Inhalt

Mit 30 Jahren holt Alex das Schicksal ein, als bei ihm ein Magentumor diagnostiziert wird, einer von der tödlichen Sorte, einer wie der des Vaters, dessen endloses Leiden Alex bereits im Kindesalter mit ansehen musste und welches ihm deutlich gemacht hat, wie auch seine nächsten Monate aussehen werden und was am Ende auf ihn zukommt …

Der junge Mann findet Freude an alltäglichen Dingen, ist dankbar für schöne Momente und trauert innerlich seinem Leben nach, welches er zu gerne an der Seite seiner Freundin Lisa verbracht hätte und in guter Kameradschaft zu Bene, seinem Freund aus Kindertagen. Sein größter Wunsch jedoch ist ein Sterben in Würde, deshalb möchte er gehen, solange er es noch selbst kann und dann seine letzte Zeit in einem Hospiz verbringen, damit seinen Angehörigen das Zusehen beim Sterben erspart bleibt.

Alex zieht diesen Plan durch, selbst wenn niemand ihn darin bestärkt und hat innerlich längst mit allem abgeschlossen, doch im Hospiz lernt er Menschen kennen und schätzen, die ihn teilhaben lassen an ihrem eigenen Leben, egal wie kurz oder lang es war, wichtig sind die Inhalte und Taten, nichts anderes. Als seine vorgegebene Frist im „Haus Leerwaldt“ abgelaufen ist, folgen weitere Untersuchungen, um seinen Aufenthalt zu rechtfertigen, denn die Plätze sind heiß begehrt – doch eine Verlängerung ist für ihn nicht vorgesehen, das Leben meldet sich zurück, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen …

Meinung

Diesen Debütroman des jungen Autors Fabian Neidhardt durfte ich in einer Leserunde entdecken, nachdem mich gerade die ungewöhnliche Betrachtung eines Lebens, mit der Option auf geschenkte Zeit sehr neugierig gemacht hat. Romane mit der Thematik Trauerbewältigung und des Sterbeprozesses lese ich immer ausgesprochen gern, vielleicht weil ich selbst schon viele Kontakte mit dem Verlust nahestehender Menschen hatte. Grundlegend hatte ich mich deshalb auf einen schweren, fordernden Handlungsverlauf gefasst gemacht, bei dem sicherlich auch Tränen fließen würden – aber die Geschichte hat mich eher überrascht, gerade weil sie nicht so erdrückend und schwermütig wirkt, sondern im Gegenteil eher lebensbejahend und perspektivenreich erscheint.

Im Zentrum der Erzählung stehen Menschen, die mitten im Leben mit einer Schockdiagnose konfrontiert werden und irgendwie gezwungen sind, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dabei steht gar nicht so sehr der Hauptprotagonist Alex im Mittelpunkt, sondern fast auf gleicher Stufe sein bester Freund Bene und die langjährige Lebenspartnerin Lisa. Sie alle werden menschlich, emotional und glaubwürdig dargestellt – im Verlauf der Geschichte wachsen sie nicht nur charakterlich, sie nähern sich auch immer weiter an und lassen den Leser teilhaben an ihrer ganz besonderen, wenn auch traurigen Situation. Das Identifikationspotential mit den Figuren ist hoch, selbst wenn man ihre Entscheidungen nicht gutheißt, wecken sie doch ein gewisses Verständnis beim Leser.

Sehr ansprechend und einheitlich auch der Schreibstil – kurze, prägnante Sätze, zahlreiche Dialoge, klare Szenen und inhaltlich mehr Platz für Gefühle als für Aussagen. Alles Dinge, die diesen Roman sehr ansprechend und gefühlvoll wirken lassen, ohne jemals ins Kitschige abzugleiten und damit ein wesentlicher Punkt auf der Bewertungsskala.

Lediglich der inhaltliche Aufbau des Textes hat mir persönlich nicht so gefallen, denn hier wechseln in schneller und beinahe willkürlicher Abfolge die Handlungsszenen. Dieses Vorgehen wirkt gerade am Anfang der Lektüre eher störend, denn die kurzzeitig aufgebaute Stimmung wird abrupt unterbrochen und man findet sich plötzlich in einer ganz anderen Situation wieder. Einer Chronologie kann man dadurch nicht recht folgen und selbst wenn die Handlung spannender wird und mehr wie ein Puzzle wirkt, stört das meinen Lesefluss, zumal die diversen Abschnitte nur als numerische Kapitel voneinander abgegrenzt sind und man sich immer wieder auf den neuen Inhalt einstellen muss. Im Verlauf des Textes werden jedoch die Kapitel selbst etwas länger und dadurch entspannt sich auch der etwas unübersichtliche Kontext.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für dieses hoffnungsvolle, eher ungewöhnliche Buch über den Umgang mit dem Tod und dem Sterben. Denn vielmehr steht das Leben im Gespräch, das Leben mit den vielen Möglichkeiten und Chancen, mit guten Freunden und schönen Zeiten und all jenen Inhalten, die uns Menschen erst dann einfallen, wenn die irdische Lebenszeit in ihren letzten Zügen steckt. Alles was schwermütig wirken könnte, wird durch ein positives Erleben aufgewertet, alles was endgültig erscheint, wird durch Möglichkeiten und Freiheiten ergänzt und alles was traurig ist, scheint dennoch Teil eines Lebensplans zu sein, an dem der Einzelne wachsen kann und Entscheidungen überdenken muss. Diese Geschichte ist ehrlich, sie schenkt Vertrauen auf die vielen zwischenmenschlichen Beziehungen im Laufe der Zeit, die manchmal nur kurze Berührungspunkte sein können und dennoch neue Wege eröffnen. Hin und wieder kullert mal eine Träne, aber wenn man das Buch zuklappt, spürt man tief drinnen, was man jeden Tag wertschätzen sollte – die Liebe zum Leben und zu Menschen, die uns etwas bedeuten.

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Veröffentlicht am 10.02.2021

Tödliches Wiedersehen in der Einöde

INSEL
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„Die traumatischen Ereignisse von vor zehn Jahren hatten sie härter getroffen als irgendjemanden sonst. Auch Dagur war damals in die Knie gegangen, hatte sich dann aber wieder aufgerappelt.“

Inhalt

Hulda ...

„Die traumatischen Ereignisse von vor zehn Jahren hatten sie härter getroffen als irgendjemanden sonst. Auch Dagur war damals in die Knie gegangen, hatte sich dann aber wieder aufgerappelt.“

Inhalt

Hulda Hermannsdóttir steht mitten im Berufsleben, sie ist als eine hartnäckige weibliche Ermittlerin bei der isländischen Polizei bekannt, die zwar nach wie vor auf den beruflichen Durchbruch hofft, dafür aber umso sorgsamer in ihren Ermittlungen arbeitet. Als auf ihrem Schreibtisch ein neuer Fall landet, bei dem es sich auf den ersten Blick um einen tragischen Unfall handelt, nimmt sie sich der Sache voll und ganz an. Die Obduktion ergibt wenig später, dass der tödlich verunglückten jungen Frau kurz vor ihrem Sturz von der Klippe Würgemale am Hals zugefügt wurden, demnach erhärtet sich der Verdacht, dass es sich weder um einen Absturz, noch um Selbstmord handeln kann, sondern um einen Mord. Auf der einsamen Insel Elliðaey haben sich vier Freunde getroffen, die schon seit Schulzeiten eine Clique waren. Doch bald muss Hulda feststellen, dass sich zwischen den beiden Männern und den beiden Frauen längst nicht nur freundschaftliche Gefühle äußern, sondern auch diverse Spannungen bestehen. Es ist nämlich genau 10 Jahre her, als eine weitere gemeinsame Freundin ums Leben kam und das Treffen in der Gegenwart bringt alte Gefühle wieder ans Tageslicht. Hulda rollt nicht nur den aktuellen Fall auf, sondern nimmt sich der deutlichen Parallelen zu dem alten Verbrechen an und muss mit Schrecken feststellen, dass damals höchstwahrscheinlich der falsche Täter verhaftet wurde …

Meinung

Dies ist der zweite Band der Trilogie um die Ermittlerin Hulda Hermannsdóttir, die anders als gewöhnlich von ihrem Ende zu ihrem Anfang erzählt wird. Bereits der erste Band hat mir gut gefallen, obwohl ich mir dort noch mehr Spannungsmomente und etwas weniger Privatleben gewünscht hätte. Das findet man nun in diesem zweiten Teil, der gerade zu Beginn ein höheres Erzähltempo vorlegt und dafür weitere kleine Details aus dem Leben der Ermittlerin aufgreift, jedoch eher in einem Nebenstrang, der deutlich macht, wie einsam Hulda nach dem Tod der Mutter, des Mannes und der Tochter ist. Diesmal macht sie sich auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater, der ein auf Island stationierter amerikanischer Soldat war und bisher gar nichts von der Existenz einer Tochter wusste.

Der Schreibstil des Autors ist angenehm ruhig und führt mehr durch Beobachtungen und Kombination der einzelnen Sachverhalte durch den Kriminalfall. Gerade die zahlreichen Landschaftsbeschreibungen und die Wirkung der Natur bilden hier einen stimmigen Hintergrund, der dazu animiert, sich ein genaueres Bild von den Örtlichkeiten machen zu wollen. Erschreckend fand ich auch die unterschwellige Korruption innerhalb des Polizeiapparates, die hier ganz deutlich herausgearbeitet wird, nicht nur weil Hulda damit in der Rangliste der führenden Kommissare weiter nach hinten rückt, sondern weil gerade alte Fälle so schlampig, fast mutwillig manipuliert werden, nur um an den entsprechenden Stellen Erfolge einzustreichen. Eine implizierte Falschaussage führt letztlich nicht nur zur Zerstörung einer Familie und dem Selbstmord eines Mannes, sie ist auch Grund dafür, dass sich nach Jahrzehnten andere schuldig fühlen und sich erneut in der Zwangslage sehen zu handeln.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diese gelungene Fortsetzung des Thrillers, der nach wie vor eher ein stiller Begleiter als ein absoluter Pageturner ist, was der Geschichte aber keineswegs schadet. Tatsächlich würde meine Bewertung noch höher ausfallen, wenn Ragnar Jónasson zusätzlich zu der Kerngeschichte einige Cliffhänger eingebaut hätte und insgesamt ein höheres Tempo vorlegen würde. Manchmal fehlt mir einfach die Perspektive des Täters und seine Beweggründe, die sich zwar immer aufklären, jedoch nie aus der Innensicht, sondern vorwiegend durch die Ermittlungsarbeit von Hulda.

Wer Gefallen an atmosphärischen, dichten Erzählungen findet und neben einer reinen Kriminalhandlung auch noch persönliche Empathie zu den Protagonisten wünscht, ist mit dieser Reihe bestens beraten – ich freue mich schon auf den dritten Teil, den ich zeitnah lesen werde und spreche gerne eine Leseempfehlung aus.

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